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Mahlzeit! Wenn sich Rituale in einer Familie mit autistischem Kind verändern.

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im März 2017


„Wir fangen erst an zu essen, wenn alle am Tisch sitzen.“
„Ich möchte gerne, dass alle gemeinsam essen.“
Kennt Ihr solche Sätze?
Ich denke, dass es weit verbreitet ist, auf ein gemeinsames Essen innerhalb der Familie wert zu legen und es hat sicherlich auch gute Gründe.
Aber es ist nicht immer und überall so, dass dies das beste Ritual für eine Familie ist. Für eine Familie mit autistischem Kind auf jeden Fall nicht unbedingt.

Ich kenne es aus meiner Kindheit und Jugend, dass meiner Mutter viel daran gelegen war, wenn wir als Familie gemeinsam zu Abend aßen. Mein Vater war beruflich sehr viel unterwegs, meine Schwester und ich hatten vielfältige Freizeitaktivitäten und natürlich ab und zu auch lange Schultage und meine Mutter hielt den Laden zusammen (rw). Dazu gehörte auch, dass sie zumindest das Abendessen für alle, wenn möglich, sehr aktiv pflegte.
Ich fand das damals schon gut. Natürlich gab es auch Tage, an denen es mir lästig war, eine Verabredung auf später zu verschieben, weil erstmal noch das Familien-Abendessen auf dem Plan stand, aber insgesamt genoss ich das Familiäre damals sehr.

Und wie es meistens so ist: wenn man dann eine eigene Familie hat, werden manche erfahrene Werte weitergegeben, von anderen distanziert man sich und bei vielen Dingen, die wir praktizieren, sind wir uns oftmals gar nicht bewusst darüber, warum und wieso wir sie genauso tun, wie wir sie tun.

Was das Familienessen angeht, ist es in meinem Fall allerdings eindeutig, dass ich das Wertschätzen dieser für die Familie reservierten Zeit aus meiner Kindheit und Jugend mitbekommen habe.
Nachdem ich eigene Kinder bekommen hatte, pflegte daher auch ich als Mutter dieses Ritual – bis dann irgendwann nach und nach ziemlich viel anders wurde.

Die Geräuschempfindlichkeit von Niklas wurde im Laufe der Jahre immer stärker, irgendwann konnte er es nicht mehr ertragen, mit uns gemeinsam an einem Tisch zu essen. Das Geschirrgeklappere, die Essensgeräusch und das gleichzeitige Sprechen bei den Mahlzeiten sind zu viel für ihn.
Daher flogen dann immer wieder die Teller, er schrie, versuchte, den Tisch umzuwerfen oder schleuderte seinen Stuhl durch die Gegend.

Wir suchten ein neues Ritual, um trotzdem irgendwie gemeinsam essen zu können. Und fanden es, indem einer von uns mit ihm an einem separaten Tisch aß oder in einem Nebenzimmer mit geöffneter Tür, so dass man trotzdem noch am gemeinsamen Gespräch der anderen Familienmitglieder teilhaben konnte.
Für Niklas war das ok, aber für uns als Eltern war es ein ständiges hin- und hergerissen sein, da wir versuchten, allen gerecht zu werden – Niklas, seiner Schwester und natürlich auch unseren eigenen Bedürfnissen.

Ich wurde immer unzufriedener.
Und ich fragte mich, warum, und ich hinterfragte das gemeinsame Essen – ist das für uns (noch) das richtige Modell?

Umgangsformen und Rituale entwickeln sich, um gesellschaftliches oder auch familiäres Zusammenleben zu regeln. Sie entwickeln sich aber auch, um Identitäten zu stiften und um zum Beispiel ein Gemeinschaftsgefühl zu stärken, wie: Ich gehöre dazu.

Um das Gemeinschaftsgefühl innerhalb einer Familie zu stärken und dieses zu pflegen, gehört dazu, dass man voneinander weiß, was gerade ansteht, was supertoll oder belastend ist, wovor man Angst hat, was man plant, wovon man träumt. Es gehört dazu, dass man daran Anteil nimmt, sich tröstet und gegenseitig unterstützt.

Für viele Familien ist es so, wie damals in meiner als ich noch ein Kind war, dass für diesen Austausch gar nicht mehr so viel Zeit bleibt, weil man sich nur noch am Abend sieht und weil jeder seinen eigenen Verpflichtungen tagsüber nachgeht. Es bleibt nur wenig Zeit, um sich wirklich auszutauschen.

In meiner eigenen kleinen Familie hatten sich die Gepflogenheiten wegen Niklas zum Teil ganz anders entwickelt. Er war von Anfang an in allen Belangen pflege- und betreuungsbedürftig. Einer von uns ist immer bei ihm und zwar den ganzen Tag abzüglich der Kindergarten- und später Schulzeiten. Der Kontakt mit ihm ist physisch und auch psychisch so intensiv, wie er intensiver nicht sein kann. Gedanklich sind wir immer mit ihm beschäftigt: was braucht er, was fühlt er, was meint er, was möchte er, wie geht es ihm, …?

Was ich damit sagen will: Es braucht bei uns kein gemeinsames Abendessen, um unsere Gemeinschaft zu stärken und bewusst Zeit miteinander zu verbringen, kein ritualisiertes Miteinander, weil es ohnehin ein äußerst intensives natürliches Miteinander gibt – und zwar den ganzen Tag. Wir verbringen so immens viel Zeit miteinander – so viel Zeit, dass mich das Ganze manchmal zu erdrücken (rw) scheint.

Diese Erkenntnis ließ mich entspannter werden. Es ist nicht schlimm, die übernommene Tradition der gemeinsamen Mahlzeiten – so gerne ich sie auch habe – zumindest zeitweise und situationsbedingt über Bord zu werfen (rw). Sie passt nicht in unsere Familiensituation, jedenfalls nicht aktuell. Und seit ich das, was ich von Kindheit an für normal und gut hielt, gründlich überdacht habe, ist das schlechte Gefühl darüber verflogen, dass es bei uns eben anders ist.

Es ist nun meistens so, dass Niklas vorher oder nachher isst. Das ermöglicht uns, bei unseren eigenen Mahlzeiten zu sitzen und nicht ständig hin und her zu pendeln, wir müssen ihm nicht gleichzeitig assistieren und ihn füttern und können uns auf unser eigenes Essen konzentrieren, weil wir nicht allen und allem gleichzeitig gerecht werden müssen.
So klappt es und so ist es gut.

Aber es ist schon interessant für mich zu reflektieren, warum es so lange dauerte, bis ich meinen Frieden mit unseren neuen, an unsere Lebenssituation angepassten Gepflogenheiten machen konnte. Es hatte wohl auch irgendwie mit einem Abschiednehmen von lieb gewonnenen Strukturen zu tun.

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wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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