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Corona – Während für die meisten wieder Normalität möglich wird, beginnt bei anderen erst die wirkliche Isolation

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im Juli 2020


Anfangs wurde die Solidarität so hoch gelobt – alle würden zusammenhalten, aufeinander Rücksicht nehmen, sich gegenseitig unterstützen und den Zusammenhalt trotz Ausgangsbeschränkungen hochhalten.
Inzwischen ist aus meiner Perspektive nicht mehr viel davon übrig. Sobald die Einschränkungen zu lange dauerten und die Verschwörungstheoretiker auf den Plan traten, kratzten die Entbehrungen doch zu sehr am Ego und am Freiheitsdrang vieler Menschen – und diese werden immer mehr.

©pixabay, User: congerdesign

Was diese Personen nicht begriffen haben oder es einfach nicht sehen wollen, ist, dass sie ihren Freiheitsdrang und ihre Unbeschwertheit auf dem Rücken anderer austragen. Und zwar auf Kosten derer, die bei erneuten Verschärfungen der Maßnahmen und bei einem möglichen zweiten Lockdown diejenigen sind, die diesem am hilflosesten ausgeliefert sind und am meisten darunter leiden.
Damit meine ich nicht nur, aber in besonderem Maße auch Familien mit behinderten Angehörigen; das können Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder auch Senioren sein.

Während vielerorts in den Urlaub gefahren und Verständnis für dieses Verhalten eingefordert wird, blenden diese Menschen aus, dass andere noch immer isoliert sind, weil sie entweder zur Risikogruppe gehören oder zu einer gemacht werden. Damit meine ich diejenigen, die eigentlich kein erhöhtes Infektionsrisiko haben, aber als „Gruppe der Behinderten“ pauschal über einen Kamm geschoren und von ihren alltäglichen Bildungs-, Beschäftigungs- oder Berufsaktivitäten ausgeschlossen werden. Und das seit vielen Monaten, viel länger schon als diejenigen, die nun wieder fleißig in den Urlaub fahren oder Partys feiern oder eng wo auch immer zusammensitzen, weil es ja nicht zumutbar sei, mal ein Jahr zuhause zu bleiben oder eine Feierlichkeit in kleinem Rahmen zu begehen.

Während viele Kinder schon wieder in die Kindergärten und Schulen kommen dürfen, werden andere Eltern zum Teil aufgefordert, ihre behinderten Kinder zuhause zu lassen. Dabei wird dem Umstand, dass diese Eltern und Kinder wie alle anderen Familien auch selbständig abwägen können sollten, ob das individuelle Risiko zu groß wäre, nicht Rechnung getragen. Nein – es wird bevormundend ausgegrenzt.
Und dabei wird auch noch übersehen, dass es sich meistens um Familien handelt, deren Kindern sich nicht selbst beschäftigen können und einer Rundumpflege bedürfen. Auch hier wird fleißig ausgeblendet, was dieser Teil der Gesellschaft momentan leistet.

Während vor einigen Wochen noch auffiel, wer keine Maske trug, muss man sich nun schon häufig dafür erklären, warum man denn eine trage. „Was, Du trägst noch Maske?“
Manchmal fühle ich mich wie im falschen Film, wenn ich Abstand halte, Maske trage und mich dafür erklären muss, dass ich die Notbetreuung meines Sohnes nicht gefährden möchte. „Notbetreuung? Ach so? Noch immer? Das wusste ich ja gar nicht….“

Kann man das immer damit entschuldigen, dass viele Menschen mit den Themen Alter, chronische Erkrankungen und Behinderung keine Berührungspunkte haben und es deshalb nicht besser wissen können?

Kann man nicht erwarten, dass Menschen über den eigenen Horizont hinaus mal nachdenken?

Und kann man nicht erwarten, dass sich eine Gesellschaft anhaltend solidarisch zeigt, bis die Krise soweit überwunden ist, dass auch diejenigen, die am meisten eingeschränkt werden, auch wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben können?
Wahrscheinlich bin ich wieder mal zu idealistisch…

Als der Lockdown begann, stellten viele fest, dass sie nun isolierter und zurückgezogener als sonst waren – es war eine Erfahrung, die alle machten, egal mit welcher Vorgeschichte. Für Familien mit behinderten Kindern war diese Erfahrung nicht so wahnsinnig neu, denn Zurückgezogenheit und das Aussortieren von Kontakten ist für viele von uns Alltag.
Leider hat dieser gemeinschaftliche Erfahrungswert offenbar nicht dazu geführt, dass man sich nachhaltig in einzelne Personen und Familien hineinversetzt, die nach wie vor auf den Schutz und das rücksichtsvolle Verhalten aller angewiesen sind.

Auch dieser Beitrag ist selbstverständlich wieder nur aus einer Perspektive geschrieben – aus der Perspektive einer Mutter, die einen betreuungs- und pflegeintensiven Sohn hat und viele Familien kennt, die in genau derselben Situation sind und die in der Pandemie nicht so viel Glück mit den Rahmenbedingungen hatten wie wir.
Es gibt andere Stimmen, Gruppierungen und Familien, die weitere Facetten zu diesem Thema beizutragen haben. Warum hören wir ihnen nicht zu? Warum haben sie, warum haben wir alle keine Lobby? Weil es sich nicht lohnt? Oder warum?

Ich muss ehrlich zugeben, dass meine Toleranz hier an Grenzen stößt. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass einige meinen, die Pandemie sei vorüber (oder noch schlimmer, es hätte sie nie gegeben), während andere Menschen umso mehr mit den Folgen dieses rücksichtslosen Verhaltens zu kämpfen haben.

Und ich bin all denen dankbar, die uns seit Monaten unterstützen, die sehr wohl über den eigenen Tellerrand hinausblicken (rw) und sich solidarisch zeigen. Und ich freue mich über all diejenigen, die sich regelmäßig bei uns und anderen Familien erkundigen, wie es geht, wie sich die Situation entwickelt und ob sie helfen können.
Das ist heutzutage etwas ganz Besonderes und keine Selbstverständlichkeit.

wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

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