„Es ist doch ganz normal, dass Du Deinen Angehörigen pflegst. Stell Dich nicht so an!“

veröffentlicht im Mai 2020


„Es ist doch ganz normal, dass man sich um sein behindertes Kind kümmert“, darf man sich in den letzten Tagen als pflegendes Elternteil anhören, wenn es darum geht, dass auch pflegende Angehörige als elementarer Bestandteil der Pflegelandschaft gesehen werden möchten.
„Stell Dich doch nicht so an!“

Tatsächlich?
Ist das ganz normal?
Für mich und viele andere schon. Für die Gesellschaft und die Politik allerdings nicht, denn die scheinen nicht mal zu wissen, dass wir existieren.

Quelle: pixabay, User tillburmann

Eltern behinderter Kinder müssen sich auch jenseits von Corona-Zeiten zunehmend dafür rechtfertigen, ihr Kind überhaupt bekommen zu haben.
„Sowas kann man doch heutzutage schon vorher erkennen.“
„Konnte man das bei Dir nicht vorher sehen?“
„Du wolltest es ja nicht anders, jetzt trag die Konsequenzen.“
„Ich könnte das ja nicht.“

Das ist nur eine Auswahl von Bemerkungen, die eine ausgeprägte Haltung innerhalb unserer Gesellschaft zeigen. Sicherlich denken nicht alle so, aber gerade die aktuelle Situation zeigt ganz deutlich: Behinderte wurden zunächst komplett ignoriert und dann alle in einen Topf geworfen (rw), pflegende Angehörige scheint es nicht zu geben, obwohl sie etwa Zweidrittel der Pflegenden ausmachen und Eltern die ihre behinderten Kinder zuhause pflegen, gibt es schon gleich gar nicht.
Was es nicht geben soll, gibt es eben auch nicht!

„Ihr habt ja die Wahl, könnt Euer Kind oder Euren Angehörigen ja auch ins Heim geben.“ Auch ein häufiger Satz. „Für sowas gibt es doch Heime“, habe ich gehört, als mein Sohn 11 Jahre alt war.
Was soll das für eine Wahl sein? Manche entscheiden sich für Heime, weil es eine gute Lösung sein kann, aber andere aus guten Gründen eben auch nicht. Das bedeutet aber nicht, dass sie anschließend alles hinnehmen müssen, was ihnen an Ignoranz und Diskriminierung entgegenschlägt.

Diese Bemerkungen, die uns manchmal subtil und verharmlosend verpackt begegnen, verletzen. Aber was noch viel schlimmer ist: sie machen Angst, wenn man an die Zukunft denkt.
Die Kaltschnäuzigkeit – und man mag mir bitte diese ungewohnte Wortwahl verzeihen, aber es trifft das Gemeinte sehr genau – diese Kaltschnäuzigkeit transportiert eine Kälte, Ignoranz und Selbstgerechtigkeit, die ihresgleichen sucht. Ich wünsche allen, die so denken, dass sie niemals selbst in die Lage kommen werden, einen geliebten Angehörigen – ob Partner, Eltern, Geschwister oder Kinder – pflegen und versorgen oder gar eine liebevolle externe Versorgung organisieren zu müssen.

Ja, für uns ist es normal, unsere behinderten Kinder zu pflegen.
Ob es wirklich normal ist, dass Menschen ihre behinderten Angehörigen zuhause versorgen, sollte sich allerdings diese Gesellschaft samt Politik fragen. Denn sie übersieht uns komplett und weist uns dann gerne bei unbequemen Fragen darauf hin, dass es doch normal und selbstverständlich sei, was wir tun. Paradox, nicht wahr?
Das ist herablassend, ignorant, verletzend und im Übrigen fatal für das Pflegesystem als Gesamtes, das ohne uns überhaupt nicht funktionieren würde.

Dankbar bin ich für all die Menschen, auf die wir uns verlassen können – auf professioneller, familiärer und freundschaftlicher Ebene. Man lernt mit der Zeit, dass das überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist. Umso wertvoller sind genau diese Personen, denen wir in all den Jahren begegnen durften, die uns zeitweise oder sogar dauerhaft begleiten und sowohl Freude wie auch Nöte mit uns teilen.
Es sind Menschen, die nicht wegschauen, Familien mit behinderten Angehörigen als bereichernden Teil der Gesellschaft begreifen, auch die unbeschwerten und fröhlichen Facetten unseres Alltags sehen, und für die es wirklich „normal“ ist, dabei zu sein.
Es kommt eben auch immer darauf an, wer etwas wie zu wem sagt….

Zum Weiterlesen:
Was ich mir zum internationalen Tag der Pflege wünsche

Familienleben mit Autismus in der Pandemie

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KOMMENTARE

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  1. Hallo Ella, es stimmt. Fast niemand versteht uns…. außer..Selbstbetroffene. Nicht mal das Landratsamt, Gesundheitsminister, Behindertenbeauftragte und Inklusions-Missionare.Das permanente Kämpfen um Unterstützung, zielführende Infos, und Rechtsansprüche machen wütend,hilflos und müde zugleich. Es ist immer noch vom Wohnort abhängig ob es Unterstützung gibt oder nicht. Habe selbst aus eigener Betroffenheit 2006 eine Gruppe jetzt Verein gegründet…. als Auffangbecken, Infobörse, und sozialpolitisches Forum. In meinem LK Esslingen fehlt Kurzzeit für Kinder zu wenig Plätze f. Erwachsene, Ferienbetreuung… und Schulkindergärten mit Regelöffnungszeiten. Die Altersarmut lässt grüßen… die meisten Frauen in unserem Verein können weg. desolaten Betreuungsangeboten nicht annähernd berufstätig sein. Mehr dazu unter http://www.rueckenwind-es.de unter Aktuelles/Presse. Freue mich über Kontakt. Gemeinsam sind wir stärker!

  2. „Gibt es eigentlich Heime für Autisten?“ schlägt in die gleiche Kerbe.
    „was braucht DEIN Kind denn für Pflege?“ – ja, stimmt. Es kann sich selbstständig anziehen (so mehr oder weniger) und es kann selbstständig essen. Das wars und das ist nicht altersgerecht. Es muss 24/7 betreut werden. „Aber Betreuung, das hat ja wohl nix mit Pflege zu tun.“ So die Meinung derer, die sich keine Vorstellung machen.

    Ich würde mir wünschen, dass nicht nur das Fachpersonal sieht, was man leistet. Aber vor allem würde ich mir wünschen, dass WENIGSTENS das Fachpersonal sieht, was man leistet „Sie lachen so viel, es scheint alles kein großes Problem zu sein, Sie brauchen keine weitere Hilfe, oder?“

    Nur wenige verstehen, dass man manchmal nur die Wahl zwischen Lachen und hemmungslosem Weinen hat…

  3. Wie wahr!
    Absolut sprachlos gemacht hat mich jedoch die Aussage der damaligen Leiterin der Autismus-Selbsthilfegruppe in meiner Wohnort Nähe vor etwa sieben Jahren.
    Mein Sohn war damals mit gut 11 Jahren gerade frisch als Asperger diagnostiziert worden und ich musste mich erst so richtig einarbeiten in die ganze Thematik, insbesondere in das schwierige Thema Autismus und Schule. Die gute Frau (selbst Mutter einer Autistin) empfahl mir doch allen Ernstes dringend zeitnah einen Heimplatz für meinen Sohn zu suchen, da ich spätestens bei Eintritt der Pubertät mit 15 Jahren nicht mehr mit ihm fertig werden könne und ihn dann sowieso weggeben müsse, weil ich ja auch an beiden Töchter denken müsse.
    Geht’s noch????
    Ist das Ignoranz, fehlendes Fachwissen, Dummheit oder schlicht und ergreifend der unfaire Versuch sich selbst ein gutes Gewissen zu verschaffen, weil sie ihr Kind nicht selbst betreut hat?

    Auf der anderen Seite musste ich mir den Vorwurf gefallen lassen, dass ich “eine schlechte Tochter bin”, weil ich mich relativ kurz danach entschlossen habe, meine sehr demente Mutter in ein Pflegeheim zu geben. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen die Pflege meiner demenzkranken Mutter mit der adäquaten Förderung und Begleitung meines Autisten und das ganz normale Familienchaos mit seinen beiden Schwestern (damals 8 und 14 Jahre) über Jahre unter einen Hut zu kriegen.

    Es wird mit zweierlei Maß gemessen ….

  4. Kann nur alles unterschreiben. Ich betreue, pflege und begleite meinen Sohn mit Behinderung Pflegegrad 5 seit 40 Jahren. Er besucht untertags eine Werkstatt der Lebenshilfe und wohnt bei uns zu Hause. Corona hat die Situation nicht besser gemacht, seit bald einem Jahr sind mein Mann und ich, 70 und 65 Jahre alt wieder rund um die Uhr für ihn da. Niemand redet seither von Loslassen und es gibt keine Unterstützung für uns als pflegende Angehörige. Kein Politiker erwähnt uns. Wir wurden bis heute nicht in die Impfstrategie miteinbezogen.

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