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Gastbeitrag von Katrin: „Wie behindert darf man sein, um eine Förderschule besuchen zu können?“

veröffentlicht von Silke Bauerfeind im Februar 2020


Katrin ist Mutter zweier Kinder mit Diagnosen aus dem Autismus-Spektrum. Mit ihrem Gastbeitrag greift sie ein Thema auf, das von vielen Leserinnen und Lesern an mich herangetragen wird: Autismus und die Probleme in der Schule.

„Ich beneide Dich darum, dass Ihr das Thema Schule bereits abschließen konntet“, schrieb Katrin mir. Und obwohl wir eigentlich sehr viel Glück mit Niklas‘ Beschulung hatten und er sicherlich aus vielen anderen Schulen hochkant rausgeflogen wäre, sind wir auch froh. Denn leider läuft es bei vielen nicht so gut.
Katrin schreibt in ihrem Gastbeitrag frei über ihre Gedanken und Erfahrungen und bringt es auf den Punkt: selbst viele Förderschulen sind mit unseren Kindern überfordert und die betreuungsintensiven und sogenannten herausfordernden Kinder sollen erstmal zuhause bleiben, bis sich ihr Verhalten ändert…. !!?

einzelne Spielfigur als Außenseiter

Gastbeitrag von Katrin: Wie behindert darf man sein, um eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung besuchen zu können?

Ein seltener Gendefekt, a-typischer Autismus, starke geistige Behinderung.
Sprechend. Massive Wahrnehmungsbesonderheiten, Impulsdurchbrüche, stark herausforderndes Verhalten.

Die Wahl der Schulform fiel auch in Zeiten der Inklusion nicht schwer: der geschützte Rahmen der Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung sollte es sein. Ein Ort vermeintlicher Kenntnis der Besonderheiten von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung.
Ein Ort, an dem gemeinsames Lernen nach individuellen Förderplänen ermöglicht wird.
Ein Ort, der Teilhabe zum Ziel hat, der Selbständigkeit fördert, der Ressourcen aufspürt.
Ein Ort, an dem Verständnis und Respekt für die individuelle Besonderheit jeder Schülerin und jeden Schülers herrscht.

*** fügen Sie hier ein unangenehmes, quietschendes Geräusch ein***

In der Realität erhalten wir Briefe zur Benachrichtigung über den „Ausschluss vom Unterricht“.
In der Realität können wir zu jeder Zeit unseres (Erwerbsarbeits)Tages angerufen werden, um umgehend das Kind aus der Schule abzuholen.
In der Realität wird uns von tätlichen Angriffen auf Lehrpersonen und Gewaltandrohungen gegenüber Mitschülern berichtet.
In der Realität ist diese Schule ein Ort der Stigmatisierung und der Ausgrenzung für ein Kind, das mit den Herausforderungen des schulischen Umfeldes überfordert ist.

Das Verhalten des Kindes muss sich ändern. Das Kind muss sich anpassen. Seine Behinderung? Lassen wir den Autismus jetzt doch bitte einmal weg. Lediglich 20 % der gezeigten Verhaltensweisen lassen sich mit den fachärztlichen Diagnosen erklären – so die Lehrerschaft.
Nein, die anderen 80% lassen sich nicht mit … nennen wir es … pädagogischen Unsicherheiten erklären, wie könnte man!

Ein Anruf.
Das Kind möge bitte von der Landstraße abgeholt werden. Es sei von der Schwimm-AG weggelaufen. Das geht so nicht! Wie das Kind sich verhält, ist keinem zuzumuten!!
Der Zusammenhang: das Kind wurde erstmalig zwei fremden Lehrern in einer neuen Gruppenzusammenstellung übergeben. Vorbereitung auf diese Situation: geh mal mit dem Herrn X mit, ihr fahrt jetzt ins Schwimmbad. Ein fremdes Schwimmbad, da das schuleigene Bad kernsaniert wird. Ein neuer Bus, der falsche Sitzplatz. Das Handy mit Kopfhörern und Musik zur Reizabschirmung wurde vergessen. Ebenfalls wurde die Gabe des reizabschirmenden Medikamentes vergessen.
Das Kind kompensiert. Sitzt am falschen Platz, mit fremden Kindern neben sich, ohne Kopfhörer. Es zieht sich um, schwimmt viele Bahnen, ist erschöpft und reizüberflutet. Als das Kind wieder in den Bus einsteigen soll, weigert es sich, kann seine Überforderung nicht artikulieren, läuft weg. Wird von der Schwimm-AG ausgeschlossen. Logisch. Denn wer sich hier „falsch“ verhalten hat, ist sonnenklar: das Kind.

Im Klassenverbund ist das Kind quasi nicht zu beschulen. Einen Einzelfallhelfer mit fachlichem Hintergrund empfiehlt der behandelnde Kinder- und Jugendpsychiater.
Das machen wir an unserer Schule nicht, hier gibt es die „Pool-Lösung“.
Zu Deutsch: Pech gehabt, eine Sonderregelung wird es nicht geben, auch wenn das die Gesamtsituation deutlich verbessern würde.
Eine andere Schule? In der ländlichen Gegend, in der das Kind wohnt, gibt es keine Alternative. Die Schule ist zuständig für 9 Gemeinden.
Die Perspektive? Ja, das Verhalten des Kindes muss sich ändern. Eine autismusfreundliche Umgebung? Jetzt lassen wir doch diese Diagnose bitte einmal weg! Wir müssen da auch an die anderen Schüler denken. Jeder hat ein Recht auf Unterricht!

Jeder?!? Scheinbar nicht. Das Kind, das sehr lustig, begeisterungsfähig und interessiert an alltagspraktischen Tätigkeiten ist, dieses Kind hat scheinbar kein Recht auf Unterricht. Dieses Kind fordert zu viel, stört, verlangt nach kreativen Lösungen, die in das bestehende Förderschulkonzept nicht hineinpassen. Es gibt schwarz oder weiß, anpassen oder aussterben.
Ein anderes Kind aus der Nachbarschaft (Diagnose frühkindlicher Autismus) wird nur an drei Tagen für 1,5h beschult. Ist das die Lösung?? Die „schwierigen“, betreuungsintensiven Kinder erhalten die Minimalbeschulung? Der Mutter wurde sehr deutlich gesagt, sie könne sich schon einmal darauf einstellen, dass dieses Kind niemals einen Platz in einer Werkstatt erhalten wird. Ist dann halt so. Irgendwie nicht das Problem der Schule. Das Wohl der Allgemeinheit, das Recht auf reibungslosen Unterricht für Mitschüler und Lehrkräfte steht über dem Wohl des einzelnen Kindes.

Was wird aus diesen Kindern? Welchen Platz haben sie in unserer Mitte? Das ist Inklusion? Oder gilt Inklusion an Förderschulen nicht? Gedanken, die Eltern in der Nacht wach halten.
Kaufpreise von Bauernhöfen in Schweden werden gegoogelt. Vielleicht ein eigenes, alternatives Projekt aufbauen. Ein neuer Tab auf dem PC wird geöffnet. Der Cursor gibt den Begriff „Fachanwalt für Schulrecht“ ein. Die Tüte Chips wird im Diätmonat Januar geöffnet. Im Ernst? Wollen wir anwaltlich gegen eine Förderschule vorgehen, um eine behindertengerechte, wertschätzende Pädagogik für unser Kind einzufordern?
***

„Das Verhalten soll sich ändern, dann kann das Kind wiederkommen“ – etwas, das viele Eltern autistischer Kinder zu hören bekommen.
Hier wurde vom Gegenüber leider nicht verstanden, dass unter anderem die Rahmenbedingungen das Verhalten bedingen und der Schlüssel bei den Erwachsenen liegt, die es besser wissen sollten.
Es erreichen mich viele Zuschriften zum Thema Schule und es gibt glücklicherweise auch positive Erfahrungsberichte – schickt mir gerne mehr davon, damit andere Schulen und Familien, bei denen es nicht so gut läuft, davon profitieren und lernen können, wie man es besser machen kann.

Zum Weiterlesen:

Ihr Kind kann nicht mehr in unsere Schule kommen

Anregungen von Maria: das hätte mir als Autistin in der Schule geholfen

wer hier schreibt

Silke Bauerfeind

Gründerin von Ellas Blog (2013), Buch- und Kurs-Autorin, Kulturwissenschaftlerin, psychologische Beraterin, Referentin. 

"Ich verbinde persönliche Erfahrung mit Wissen rund um Autismus, Teilhabe und Familienrealität. Mein Schwerpunkt liegt auf Autismus mit hohem Pflege- und Unterstützungsbedarf – Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz kommen"

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Zum Weiterlesen:

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Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

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