Pia: „Auf dem Weg zur Autismus-Diagnose baute ich mir eine sozial kompatible Hülle, bis mein Körper streikte.“

veröffentlicht im Januar 2020


Wie wichtig es sein kann, eine korrekte Diagnose zu bekommen, um sich selbst zu verstehen und richtig behandelt zu werden, vermittelt sehr eindrücklich Pias (Name geändert) Gastbeitrag.
Nachdem sie sich jahrelang angepasst hatte, streikte ihr Körper und führte sie auf den Weg zur Diagnose. Diese bekam sie, als sie 16 Jahre alt war.

Gastbeitrag von Pia:

Im Sommer 2018 begann alles.
Tag für Tag merkte ich mehr, dass ich weniger Kraft hatte, fragte mich, was los war, warum ich all das, was meine MitschülerInnen schafften, nicht schaffte. In der Grundschule dachte ich noch, die anderen wären merkwürdig, relativ schnell merkte ich aber, dass ich mit meiner Interpretation der Welt in der Unterzahl war. Ich schloss daraus, dass wohl ich merkwürdig sein musste.

Mit den meisten Gleichaltrigen konnte ich mich noch nie identifizieren. Sie jagten Trends nach, die für mich keinen Sinn ergaben, Klamotten kaufen werteten sie als Hobby und sie schienen ohne groß nachdenken zu müssen zu wissen, wie man cool ist.

Um nicht ganz so sehr anzuecken, baute ich mir über die Jahre eine einigermaßen sozial kompatible Hülle auf, bestehend aus dem Nachnamen meiner Mitschüler und aus Sätzen und Benehmen, die laut meiner Beobachtungen cool oder wenigstens akzeptiert sein mussten. Jeder einzelne Tag, den ich mit meiner Hülle durch die Schule lief, kostete mich spürbar mehr Energie. Richtig beliebt wurde ich dadurch nicht, aber zumindest fühlte ich mich nicht mehr ganz so sonderbar zwischen meinen Mitschülern.
Diese Hülle perfektionierte ich und erneuerte sie mit den neuen Verhaltensweisen meiner Mitschüler. Ich trug sie jeden Tag bis zur 9. Klasse.

Quelle: pixabay, User josealbafotos

Schon im Sommer nach der achten Klasse hatte ich gemerkt, dass ich mich irgendwie ständig schlapp und müde fühlte. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass ich nach den Sommerferien erholt zurückkommen würde, aber das war nicht der Fall.
Die erste Zeit nach den Ferien schaffte ich es noch einigermaßen, meinen Alltag zu bewältigen. Aber relativ bald fühlte sich mein Akku komplett leer an. Ich fehlte ständig, konnte aber nicht benennen, warum es mir schlecht ging. Ich hatte schlichtweg keine Kraft mehr, meine fast 30 Klassenkameraden, ihren dauerhaften Lärmpegel, das grelle Licht, die lauten Pausen und die vollen Gänge zu ertragen. All diese Reize fühlten sich jeden Tag noch größer an.

Mir wurde in jeder erdenklichen Situation schwindelig, mehrmals musste ich in der Schule liegen und ständig abgeholt werden. Ohnehin verbrachte ich, wenn ich denn einmal da war, die meiste Zeit in unserem Schulsanitätsraum. Schon allein das „dasein“ in der Schule kostete mich Unmengen von Energie. Die vielen Geräusche und vor allem das Gedränge im Gebäude machten mich wahnsinnig.

Es wurde ein Nachteilsausgleich vereinbart, was ich von meiner Schule sehr zuvorkommend fand, denn es gab ja keine diagnostizierten Einschränkungen, mit denen ich mich hätte rechtfertigen können. Man hatte also vereinbart, dass ich, wenn es mir zu viel wurde, auf eigene Faust (rw) früher nach Hause gehen durfte, außerdem durfte ich jederzeit den Unterricht verlassen, um mich vor der Tür etwas auszuruhen.
Der Nachteil an diesem Ausgleich war jedoch, dass einzelne Lehrer es nicht für nötig hielten, mir diese Dinge bei Bedarf zu gewähren, sie fühlten ihren Unterricht dadurch gestört. Durch Situationen, in denen ich die Hand hob, um zu fragen, ob ich den Raum kurz verlassen durfte und es mir nicht gewährt wurde, fühlte ich mich nahezu gefangen im Klassenzimmer, was bei mir ein Fluchtbedürfnis auslöste. Da einige Lehrer mich also entweder nicht gehen ließen oder mich ewig nicht drannahmen, stand ich irgendwann einfach auf und rannte nach draußen.

Ich bekam zittrige Hände, mir wurde schwindelig, Panik brach in mir aus, weil ich nicht wusste, was los war. Die Angst vor körperlichen Krankheiten machte mich noch panischer und der Schwindel gab mir das Gefühl, keine Kontrolle über mich zu haben.
Schließlich war ich soweit, dass ich das Haus nicht mehr verlassen konnte. Ich ging bis auf vereinzelte Tage gar nicht mehr zur Schule, auch ansonsten ging ich nicht nach draußen. Die ganze Welt schwankte vor mir, ich hatte das Gefühl, als könnten mich meine eigenen Beine nicht mehr tragen.

Es wurden sämtliche körperliche Untersuchungen durchgeführt, aber keine davon war auffällig. Sowohl meine Mitschüler, meine Lehrer als auch die meisten Ärzte schienen überzeugt zu sein, dass ich nur die Schule schwänzen wollte. Ich erlebte sehr respektlose Unterhaltungen mit Ärzten, die mich nicht ernst nahmen. Auch mein Klassenlehrer legte in einem Elterngespräch mit meiner Mutter eine sehr abfällig formulierte Frage an den Tag. Er wollte wissen, ob ich an einer Essstörung litt, da Eltern das, laut ihm, oft verheimlichen würden. Den Wortlaut, in dem er diese Frage stellte, möchte ich nicht wiederholen.
Nachdem also auch nach wochenlangen Versuchen für mich kein Schulbesuch mehr möglich war, landete ich auf einer psychosomatischen Station. In der Therapie dort wurde versucht mir beizubringen, mit meiner Panik und dem Schwindel umzugehen. Doch die eigentlichen Ursachen meiner Schwierigkeiten fand auch dort keiner. Die Übungen, die mit mir gemacht wurden, hatten kaum einen Lerneffekt bei mir.

Eines Abends unterhielt ich mich mit einer Mitpatientin, die die Diagnose Asperger hatte. Wir sprachen über alles Mögliche, darunter auch die Probleme, die uns hierher führten und sie fragte mich erstaunt, ob man mich noch nie auf Autismus getestet habe. Ich fiel erstmal aus allen Wolken (rw) und dachte, das sei ein Witz. Dass ich einige Parallelen mit Autismus hatte, war mir bereits bewusst, aber wie das mit meinen aktuellen Problemen in Zusammenhang stehen sollte, war mir zunächst ein Rätsel. Die Vermutung ließ mir jedoch keine Ruhe. Ich las immer mehr über das Thema und meine Mitpatientin war sich mittlerweile komplett sicher, dass ihre Vermutung stimmte.
Ich vertröstete sie mit dem Argument, wenn sie wirklich Recht habe, würden die Therapeuten das schon merken. Meine Mitpatientin war aber überzeugt, dass die Therapeuten auf der Station nicht selbst darauf kommen würden. Ich beschloss also, noch zwei Wochen zu warten, dann würde ich meinen Verdacht selbst äußern.

Genauso kam es. Zwei Wochen später äußerte ich also meinen mittlerweile starken Verdacht auf Asperger. Ich legte meiner Therapeutin eine Liste mit Anzeichen vor, die ich bei mir beobachtet hatte. Mittlerweile vermutete ich auch, dass mein ständiger Schwindel auf eine dauerhafte Reizüberflutung zurückzuführen war.
Zuerst war sie äußerst erstaunt über diese Vermutung, nach dem Ausfüllen von zwei Screening-Fragebögen bestätigte sie aber meinen Verdacht.
Ich wurde an eine fachkundige Diagnosestelle verwiesen, wo ich wenige Wochen später meine Diagnose Asperger-Autismus bekam.
Nach über einem Jahr auf der Suche hatte ich schließlich eine Diagnose bekommen, die nicht nur meine derzeitigen Probleme, sondern auch viele andere Besonderheiten und Schwierigkeiten erklärte.

Danke, liebe Pia, für Deine sehr bildhafte Schilderung. Ich bin sicher, dass sich viele darin wiederfinden und einige vielleicht – so wie Du – auf einen Weg gebracht werden, der schließlich weiterhilft.
Erfahrungsberichte wie Deine sind unverzichtbar.

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Liebe Pia, danke für deine Offenheit. Ich habe eine Tochter, die gerade frisch diagnostiziert wurde. Drauf gekommen sind wir durch ihren Bruder.
    Auch bei ihr sind Bauchweh, Schwindel, Übelkeit und Zittern regelmäßige Begleiter geworden. Darf ich dich fragen, ob du das schon irgendwie „in den Griff bekommen hast“? Und wenn ja – wie?

    1. Es freut mich sehr, dass du meinen Beitrag gelesen hast :-) So oft es geht versuche ich trotz Schwindel alles „normal“ zu machen. Das ist schwierig und bei mir mit sehr großer Anstrengung verbunden. Aber es bewahrt mich davor, deshalb nur noch zuhause zu „hocken“. Ich denke, der beste Umgang damit ist, seine eigenen Grenzen zu kennen, sprich: Wenn ich merke, heute habe ich nicht die Kraft z.B. trotz Schwindel zur Schule zu gehen, gebe ich eben einmal nach und ruhe mich den Tag aus. Denn ab einem bestimmten Maß von „alles trotzdem machen“ tut es mir eben nicht mehr gut und ich werde dann so erschöpft, dass ich meist gleich eine ganze Woche zuhause bin und mich ausruhen muss.
      Auch das Zittern kenne ich. Das habe ich ganz gut mir „motorischer Beschäftigung“ unter Kontrolle. Ich habe immer Gegenstände dabei, die ich bei Aufregung oder Überreizung in die Hand nehmen kann, das macht mich ruhiger und ich fange nicht so schnell und nicht so stark an zu zittern.
      Besonders gerne nehme ich Haargummis und verknote diese immer wieder oder dies „Foldback“ Klammern zum auf und zu klicken.
      Am meisten jedoch hat mir sowohl gegen den Schwindel als auch gegen das ständige Zittern die Gewissheit, dass ich körperlich gesund bin, geholfen. Nach einem kompletten Durchchecken meines Körpers war ich schon viel beruhigter, da ich zuvor immer Angst hatte, in Ohnmacht zu fallen oder umzukippen.
      Wenn du noch Fragen hast kannst du mir gerne nochmal schreiben!
      Liebe Grüße,
      Pia

  2. Ich bin an Deinen anschaulichen Schilderungen sehr interessiert.
    Du beschreibst alles so gut, dass man am ganzen Körper mitfühlt.
    Liebe Grüße aus Österreich

  3. Liebe Pia

    Dein Text hat mich berührt. Ich wünsche dir, dass du dich heute lieben und akzeptieren kannst. So wie du bist. Denn wir alle ob mit oder ohne Handycap haben ihre Werte. Ich musste das auch lange und mit Begleitung lernen.

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