Gastbeitrag Thema Wohnen: Wir bauen etwas Nachhaltiges auf und müssen nicht alles alleine machen

veröffentlicht im Mai 2023


Gastbeitrag von Diana:

Hallo, ich bin Diana, schon lange Leserin von Ellas Blog und heute heute möchte ich gerne die Erfahrungen der letzten Wochen, Monate, ja vielleicht Jahre in Bezug auf das Thema Wohnen mit euch teilen.

Wie viele von euch, habe ich ein autistisches Kind.
Wie viele von euch, lese ich schon lange auf Ellas Blog.
Und wie viele von euch, finde ich mich in vielen Beiträgen wieder.

©pixabay, User geralt, vielen Dank!

Als Silke vor einiger Zeit darüber schrieb, dass man sich frühzeitig Gedanken darüber machen sollte, wie eine Wohnsituation für unsere Kinder aussehen könnte, dachte ich: naja, das hat doch noch Zeit, mein Kind ist erst 17 Jahre alt, geht noch ein Jahr zur Schule und dann wird jemand auf mich zukommen und uns etwas vorschlagen. Vielleicht kann mein Sohn dann gemeinsam mit seinen Freunden in ein Wohnheim ziehen. Dafür sind sie doch gebaut worden und es wird schon klappen.
Ich glaube, ich dachte, wie die allermeisten, weil ich unwissend und naiv war und und zu meiner und zur Ehrenrettung von vielen anderen, weil ich einfach keine Ressourcen hatte, mir etwas andere vorzustellen und für möglich zu halten. So vieles hatten wir schon durchkämpfen müssen in den letzten Jahren, beim Wohnen muss es doch einfacher gehen und klappen, so meine Gedanken.

Dann kam noch ein Beitrag von Silke darüber, dass es eine trügerische Sicherheit sei, zu meinen, dass es einfach so weiter geht nach der Schule und jemand eine Lösung vorschlägt. Ich runzelte vor meinem PC die Stirn und wollte eigentlich gar nicht weiterlesen, spürte aber, dass das ein Thema ist, das mich und unsere gesamte Familie angeht. Also las ich weiter. Natürlich gibt es positive Beispiele, das verschwieg auch Silke nicht, aber es ist eigentlich fahrlässig (meine Worte!) sich darauf zu verlassen.

Und ich kam ins Grübeln, denn was ist, wenn es wirklich so ist, dass das nicht einfach so weitergeht und dass es vielleicht keinen geeigneten Platz gibt….?

Mein Sohn ist nonverbal und zeigt häufig sog. herausforderndes Verhalten. Viele Bezugspersonen kommen mit ihm nicht zurecht, eigentlich nur, wenn sie ihn schon länger kennen, die schwierigen Situationen schon im Vorfeld erkennen und deshalb wissen, was sie tun müssen, um Situationen zu deeskalieren. Da wäre natürlich sehr wichtig, dass es eine konstante Betreuung mit festen Bezugspersonen im Wohnen gäbe, damit Situationen gemeistert werden können und sich Vertrauen nach allen Seiten aufbaut. Aber ist das möglich?
Ich wurde unsicher. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich nicht einfach verlassen kann. Und das Gefühl, die Beiträge über Wohnen mit den Anstupsern, sich rechtzeitig zu kümmern, nicht wirklich lesen zu wollen, wandelte sich in: also gut, dann mal her mit dem Thema. Ich beschäftige mich jetzt damit.

Ich begann zu recherchieren, welche Wohnmöglichkeiten es für Menschen wie meinen Sohn, bei uns in der Nähe gibt. Sechs Einrichtungen rief ich an. Bei vieren bekam ich direkt die Auskunft, dass sie Wartelisten führen und erst wieder in fünf Jahren Plätze frei sind. Es sei aber unsicher, ob sich die Situation bis dahin nicht weiter verschärft, weil viele Mitarbeiter fehlen.
Ups. Da war ich schon mal perplex.

Eine weitere Einrichtung lud uns zu einem Gespräch ein. Das war auch ganz nett. Fazit war allerdings, dass sich mein Sohn vom Verhalten „verbessern“ müsse, wenn es tatsächlich um einen Einzug geht. „Oppositionelles Verhalten können wir hier nicht begleiten, darunter leiden die anderen Bewohnerinnen und Bewohner.“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen, hatte ich mir doch bisher nicht vorgestellt, dass mein Sohn eine Art Bewerbungsverfahren durchlaufen müsse und sein durch den Autismus bedingtes Verhalten in einer Einrichtung für Autisten zum Ausschlusskriterium führt.

Dann war da noch eine Einrichtung. Auch dort wurden wir freundlich behandelt. Und es wurde uns mitgeteilt, dass die Warteliste lang sei, etwa drei Jahre und dass sie meinen Sohn nur aufnehmen könnten, wenn die Kostenträger eine 2:1 Begleitung genehmigen würde, also zwei Mitarbeitende nur für meinen Sohn, konstant rund um die Uhr.
Ich weiß ja, dass mein Sohn zuweilen wirklich herausfordernd ist, aber das kam selbst uns übertrieben vor. Sicherlich gibt es Situationen, in denen zwei Personen notwendig sind, um Gefahren einzudämmen und alle Beteiligten zu schützen, aber das geht doch nicht rund um die Uhr so. Man müsse das trotzdem so vorhalten, denn er sei ja „eine tickende Zeitbombe, daher geht das nur mit 2:1“. Wir sollten uns aber keine Hoffnung machen, der Kostenträger würde das ohnehin nicht bewilligen. Nach diesen Worten mit der Bombe hatten wir sowieso schon jegliches Vertrauen in die Einrichtung verloren.

Ich las mir wieder die Beiträge auf Ellas Blog durch und dachte mir: besten Dank, liebe Silke, dass du das Thema angesprochen hast und mich, wenn auch ungefragt und auch wenn ich eigentlich erstmal nichts davon hören wollte, auf ein wichtiges Zukunftsthema gestoßen hast.

Und nun? Mein Mann und ich, unsere gesamte Familie – wir alle setzten uns mit unserem Sohn zusammen und überlegten nochmal ganz neu, wie es wohl nach der Schule und mit dem Wohnen weitergehen könnte.
Mein Sohn spricht zwar nicht, aber wir können recht gut miteinander kommunizieren. Er versteht alles und nutzt einen Talker, um sich mitzuteilen.
Es zog sich über einige Wochen hin, aber nach und nach bekamen wir heraus, dass es ihm in der Schule häufig zu laut ist (das wussten wir schon) und dass er das Internat, in das einige seiner Mitschüler gehen und das er schon einige Male anschauen konnte, auch viel zu laut ist und er sich nicht vorstellen könnte, dort zu leben (das war neu für uns). Genauso wenig möchte er in ein Wohnheim ziehen, in dem er nur ein Zimmer hat und sonst die Räumlichkeiten mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern teilen muss.
„Ich möchte selbst bestimmen, wer mir im Badezimmer hilft.“
„Ich möchte selbst bestimmen, was es zu Essen gibt.“
„Ich möchte meine Zeit frei einteilen.“

Das sind Aussagen von ihm, die ihm einige Menschen, denen wir davon erzählten, nicht zugetraut hatten. Auch Personen, die ihn bereits lange Zeit in der Schule begleiten, waren perplex, solch klare Zukunftsvorstellungen von ihm zu hören.
Ich denke, es trifft nicht nur auf meinen Sohn zu, dass er unterschätzt wird. Sicherlich ist das bei vielen anderen Autistinnen und Autisten auch der Fall. Mir wurde einmal mehr klar, wie wichtig es ist, ihn nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu fragen und mit ihm eine Zukunftsplanung zu beginnen.

Ich bin begeistert von Silkes Inspiration. Wir sind nun so viel motivierter, die Zukunft unseres Sohnes selbstbestimmter und kreativer und vor allem individuell auf seine Bedürfnisse abgestimmt in die Hand zu nehmen. Ohne sie würden wir wahrscheinlich immer noch denken, dass das alles schon werden wird und uns irgendwann jemand eine Lösung präsentiert. Aber Pustekuchen, das ist nicht so und selbst wenn – ist eine bedürfnisorientierte und eigene Lösung nicht viel sinnvoller?

Ist das nicht nur für reiche Leute? Das fragte mich neulich jemand. Nein, überhaupt nicht.
Man muss natürlich wissen, welche Kosten wie und wo gedeckt werden, wie man das verhandeln kann und welche Möglichkeiten es gibt, auch Leistungen mit anderen gemeinsam in Anspruch zu nehmen.
Das Schwierige ist, eine Immobilie, eine Wohnung zu finden, die geeignet ist und die dann z.B. angemietet wird (Kosten werden dann über Grundsicherung und Eingliederungshilfe übernommen). Aber ob ich jetzt händeringend einen Heimplatz suche, der dann auch nur ein Wackelplatz ist, weil mein Sohn ja so viel Personal bindet und das alles nicht leistbar sei (sinngemäße Zitate) oder ob ich das lieber selbst in die Hand nehme, gemeinsam mit anderen nach geeigneten Menschen suche, die uns auf unserem Weg begleiten, das ist von der Energie her (für mich) gleich.

Zufällig habe ich in der letzten Woche auch gleich zwei Mal mitbekommen, dass Bewohnern der Heimplatz, den sie schon mehrere Jahre hatten, wieder gekündigt wurde. Die Begründung war dieselbe, die wir schon im Vorfeld zu hören bekommen hatten: bindet zu viel Personal, Verhalten zu schwierig, ist für uns nicht mehr leistbar, besser zurück zu den Eltern.
Das hat mich echt schockiert, weil es für mich bis dato immer nur Geschichten waren, wenn ich sowas hörte. Dieses Mal waren es Familien, die ich kannte und wo die Eltern noch deutlich älter sind als wir, Eltern, die dachten, dass sie einen guten und sicheren Weg eingeschlagen hatten, der aber plötzlich zu Ende war. Unfassbar.

Wir haben jetzt das Gefühl, etwas Nachhaltiges aufbauen zu können, konnten neue, sehr wohltuende Kontakte knüpfen und sind unendlich dankbar für den Anstoß und das Wissen, das wir über Silkes Impulse bekommen haben.

Was ich inzwischen auch lernen durfte: man muss nicht alles alleine machen. Das ist ja eine große Angst, wenn man etwas Eigenes aufbaut. Natürlich macht es Arbeit, aber sie ist sinnvoll. Und es gibt viele Ansatzpunkte, an denen man sich helfen lassen kann, Dienstleistungen vergeben und Aufgaben auf mehrere Schultern verteilen kann, gerade wenn man ein Projekt für mehrere Bewohner verwirklicht.

Daher nochmal auch hier im Gastbeitrag ein herzliches Dankschön an dich, liebe Silke. Du hattest mal irgendwo geschrieben, dass ein solches Projekt lebensverändernd sein kann. Ja, das ist es.
Und ich möchte den Leserinnern und Lesern Mut machen. Wenn du hier liest und ein Grummeln im Bauch hast, weil du doch eigentlich hoffst, dass alles von alleine seinen Weg gehen wird, dann nutze die Zeit, kümmere dich rechtzeitig, informiere dich und eigne dir so viel Wissen wie möglich an, um eine gute und informierte Entscheidung treffen zu können.

Mit den besten Grüßen, eure Diana.

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