Eloquenz und Handlungskompetenz: Warum Autistinnen und Autisten manchmal überschätzt werden

veröffentlicht im Dezember 2017


Manche AutistInnen werden unterschätzt, weil sie nicht sprechen. Man unterstellt ihnen oftmals eine geistige Behinderung, weil sie über keine Verbalsprache verfügen. Wer nicht gut aufgeklärt ist, geht davon aus, dass ein nichtsprechender Autist auch nicht versteht, was um sie oder ihn herum gesprochen wird. Das ist ein Fehlschluss und darunter leiden viele. Dazu an anderere Stelle mehr.
 
Graphik sprechenUnd es gibt natürlich AutistInnen, die sprechen, manche sogar sehr eloquent. Man unterstellt ihnen deshalb, dass sie alles verstehen und jeden Zusammenhang begreifen. Und daher geht man davon aus, dass sie keine Lust haben, zu faul sind oder sich verweigern, wenn sie einer Aufforderung nicht nachkommen bzw. trotzdem ein hoher Unterstützungsbedarf in alltäglichen Dingen besteht.
Darunter leiden auch viele und um diesen Aspekt soll es hier gehen.
 
Manuela (alle Namen geändert) schreibt mir: „Dass Nina spricht, sorgt ständig dafür, dass sie überschätzt wird.“
Nina hat die Diagnose „frühkindlicher Autimus, hochfunktional“. Auch wenn man inzwischen von einem Autismus-Spektrum spricht, bediene ich hier bewusst noch einmal die „alten“ Diagnosen, weil es hilft, das Dilemma der Betroffenen deutlicher zu machen.
Weil Nina so schlau und oft ja auch mit vielen Fremdwörtern durchsetzt spricht und dann aber andererseits Windeln trägt oder Hilfe braucht, ihre Jacke und ihre Schuhe anzuziehen, reagieren die Leute oft mit großem Unverständnis bis hin zu ziemlich unverschämten Kommentaren in die Richtung: altklug reden, aber dann nicht aufs Klo gehen können…“
Nina kompensiert, wie viele andere AutistInnen auch, sehr gut, so z.B. auch im Kindergarten und daher merkten manche andere Eltern über die reinen Hinbringen- und Abholsituationen auch nach Jahren nicht, dass Nina Förderbedarf hat.
„Nina? Ein Inklusionskind? Sie redet doch so schön. Sie schreit nur viel.“
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Manuela berichtet mir von einer beeindruckenden Aktion, mit der sie verdeutlichen konnte, wie unterschiedlich Nina wahrgenommen wird. Sie drehte ein Video, auf dem Nina zu sehen ist, wie sie eine ausschweifende Fantasiegeschichte erzählt.
„Auf dem Video ist Nina ganz in ihrem Element. Das überstrahlt alles andere. Wenn man das Video ohne Ton anguckt, dann sieht man ein Kind was sehr hypoton mit ganz verdrehten Füßen und einer Orthese auf und ab wippend, die Hände schraubend und mehr oder weniger ins Leere, an der filmenden Person vorbei schaut. Ohne Ton sehen die Leute ein behindertes Kind. Mit nicht.“
Nina kompensiere zwar viel, erzählt Manuela weiter, aber es gebe immer noch sehr viele Bereiche, in denen sie Hilfe brauche. „Die Schule geht nur mit Vollzeit Schulbegleitung, und das ist in einem halbstündigen Gespräch auf einem Amt, wo Nina sich perfekt ausdrückt und für die Zeit aber auch zusammenreißen kann, sehr schwer zu vermitteln.“
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„Ich werde oft nicht ernst genommen, wenn ich etwas frage“, erzählt Tom. Einige andere  Zuschriften erreichten mich, in denen entweder Eltern von AutistInnen oder AutistInnen selbst davon berichten, dass sie bei Nachfragen zu vermeintlich banalen Dingen Antworten erhalten wie z.B.: „Jetzt frag doch nicht so komisch nach. Du verstehst doch alles. Hast Du keine Lust, oder was ist los?“
Für einige passt es nicht zusammen, dass jemand einen großen Hilfebedarf in alltäglichen Dingen, wie z.B. Hygiene, Putzen, Einkaufen, Kochen, usw., hat, aber sich trotzdem verbal offensichtlich gut äußern kann.
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Nicht übersehen werden darf das echolalische Sprechen oder das einfache Nachsprechen von Floskeln oder Dingen, die der/die AutistIn schon einmal gehört hat. Das wirkt in manchen Situationen sehr eloquent und schlau, sagt aber nicht immer etwas über das Begreifen von Zusammenhängen aus.
Selbstverständlich kann man das nicht pauschal sagen, daher ist es immer gut, sich mit freundlichem Nachfragen zu vergewissern, ob das Gehörte und das Gesagte auch wirklich verstanden wurde.
Vor allem, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, die sich auf das Leben der/des AutistIn nachhaltig auswirken, wäre es äußerst wünschenswert, sich mehrfach zu vergewissern, ob das Gespräch inhaltlich entsprechend aufgenommen wurde. Ebenso wichtig ist es, sich zu vergewissern, ob das von der/dem AutistIn Gesagte inhaltlich auf denselben Kontext bezogen war oder ob die gesagten Worte aus einem anderen Zusammenhang stammen.
Echolalien finden manchmal auch im Kopf statt, ich nenne sie „stumme Echolalien“. Die/der AutistIn wirkt ruhig und aufmerksam, in Wirklichkeit spielt sich im Inneren jedoch ein ständiges Wörter- und Sätze-wiederholen ab. In solchen Situationen ist keine wirkliche Aufmerksamkeit und Aufnahme von Informationen möglich, auch wenn es nach Außen so wirken mag.
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Einige AutistInnen schrieben mir, dass sie bemerkt haben, wie ihre Mimik fehlinterpretiert wird. „Nur weil ich lache, bedeutet das nicht, dass ich den Scherz, die Ironie oder den Sarkasmus verstanden habe. Ich weiß, dass ich irgendwie reagieren muss, wenn andere etwas sagen und offensichtlich eine Reaktion von mir erwarten. Mein Lachen ist häufig voller innerem Unverständnis, eine Maske“, erzählt Tom.
Auch hat es nicht automatisch Desinteresse oder Unmut zu bedeuten, wenn eine schlichte Reaktion auf eine für neurotypische wundervolle Nachricht erfolgt, die möglicherweise noch mit Metaphern angereichert ist. „Ich weiß manchmal nicht, wie ich Freude oder Überraschung ausdrücken soll. Und manchmal verstehe ich die Bilder in der Sprache nicht. Dann friert mein Gesicht ein (rw), aber in mir drin freue ich mich mit dem anderen“, erzählt Lisa.
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Ein weiterer Aspekt, der vielen sprechenden AutistInnen zu schaffen macht, ist der manchmal auftretende Mutismus. Es kann sein, dass in einigen Situationen nicht mehr abgerufen werden kann, was mit vertrauten Personen oder in gewohnter Umgebung möglich ist. Dann bleibt das Sprechen aus. Auch das ist keine Faulheit, Unlust oder Dummheit, sondern die durch den Autismus bedingte Schwierigkeit, in soziale Interaktion zu treten. Der Umgang mit Fremden bzw. in der Öffentlichkeit ist hier ein sehr gut nachvollziehbares Beispiel, denke ich.
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Tom erzählt mir weiter: „Ich weiß, dass man jetzt Autismus-Spektrum sagt, aber ich möchte erklären, wie ich mich fühle. Ich fühle mich so zwischen frühkindlich und Asperger. Ich kann einiges, was non-verbale Frühkindliche nicht können, aber ich kann mir nicht so Vieles aneignen und antrainieren, wie das manch Asperger kann. Das soll nicht wertend, sondern nur erklärend sein. Ich werde oft von Menschen überschätzt, das ist sehr schwierig für mich.“
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Wenn etwas irgendwie nicht zusammenzupassen scheint, müsse das doch mit ein wenig Anstrengung hinzubekommen sein, so die Annahme einiger.
Aber das ist fatal und wird AutistInnen oftmals nicht gerecht.
Man kann nicht von einer Situation auf die andere schließen und auch nicht von einer Kompetenz auf die andere – viele Handlungs- oder Kommunikationskompetenzen müssen losgelöst voneinander betrachtet werden, Erwartungshaltungen sollte man nicht von einer Kompetenz ableiten, denn ein anderes Handlungsfeld oder eine neue Situation birgt möglicherweise neue Schwierigkeiten.

„Was würde helfen?“, fragte ich nach.

  • Aufforderungen in Schule, Beruf, Wohnen,… visualisieren
  • Tagespläne visualisieren, auch bei „Sprechern“ (schafft eine sichere Verständnisgrundlage)
  • nicht automatisch davon ausgehen, dass sprechende Autisten alles verstehen
  • nicht von Faulheit, Dummheit u.ä., sondern von Verständnisproblemen ausgehen
  • Erwartungshaltung anpassen
  • nicht von einer Kompetenz auf die nächste schließen
  • nachfragen, um sicher zu gehen, dass der Kontext verstanden wurde
  • nachfragen, um sicher zu gehen, ob das vom Autisten Gesagte in den Zusammenhang gehört
  • aufmerksam für Kompensationsstrategien sein, um Überforderung zu vermeiden (weniger auffallen bedeutet nicht weniger Probleme)
  • klare Sprache verwenden, keine Floskeln, Redewendungen und Metaphern
  • sich vergewissern, ob „stumme Echolalien“ am Laufen sind
  • Übergänge zwischen Themen bewusst gestalten, Zeit lassen, Zusammenhänge herausstellen/erklären

Nach dem, was mir zugetragen wurde, scheint mir das Wichtigste zu sein, immer wieder nachzufragen, im Austausch zu bleiben und sich zu vergewissern, ob die Kommunikation gelingt. Oftmals gehen Aussagen und Kontexte aneinander vorbei, so dass Missverständnisse, Frust und unangemessene Erwartungshaltungen entstehen.

So wie im Bereich Wahrnehmung die Verarbeitungsvorgänge im Gehirn von AutistInnen anders verknüpft zu sein scheinen, ist auch das Feld der Handlungskompetenzen anders verknüpft. Von neurotypischer Logik auszugehen, wird AutistInnen oft nicht gerecht.

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Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Moin,
    Ich studiere Sonderpädagogik und bin sehr an der Kommunikation interessiert. Wie hinterfrage ich denn eine „stumme echolalie“? Auch für nicht sprechende Menschen mit Autismus Spektrum wäre es interessant zu wissen.
    Ich finde es großartig, dass ein paar Leitsätze zum Hinterfragen aufgeführt wurden. Oftmals möchte man Kommunizieren, weiß aber nicht warum es nicht klappt.
    Liebe Grüße Yvonne

    1. Liebe Yvonne, es ist toll, dass Du Dich als Studentin so interessierst, danke für Deinen Besuch hier auf „Ellas Blog“.
      Wie Du sicherlich gelesen hast, bin ich keine Pädagogin, sondern kann Dir nur aus der Erfahrung als Mutter berichten und das weitergeben, was andere Eltern mir zutragen. Wenn Du den Verdacht hast, dass sich eine „stumme Echolalie“ abspielt, würde ich versuchen, die Situation zu verändern, um den Kreislauf zu unterbrechen (nicht einfach versuchen zu unterbinden, sondern was Neues anbieten). Wechsele den Raum oder fange eine ganz neue Tätigkeit an. Wenn Du den Eindruck hast, dass Du wieder die Aufmerksamkeit der Autistin oder des Autisten hast, kannst Du nochmal versuchen, das ursprüngliche Thema aufzugreifen oder nachzufragen, über was sie oder er sich gerade Gedanken gemacht hat. In der Situation selbst nachzufragen, bringt meistens nichts, weil wahrscheinlich kaum etwas durchdringt und eher noch dazu führt, dass sich Stimming und Echolalie verstärken.
      Das Visualisieren von Aussagen oder Fragen kann auch sehr hilfreich sein, um den Fokus auf einen anderen Sinneskanal zu legen.
      Gut ist es, dass Du überhaupt im Hinterkopf hast, dass sich eine solche Echolalie abspielen könnte, da Du dann nicht automatisch von Desinteresse, Faulheit oder Dummheit ausgehst, was leider häufig passiert.
      Alles Gute Dir, herzlich Silke

    2. Hallo Yvonne,
      Respektvoll ausgedrückt könntest Du dann, wenn Du stumme Echolalie oder Nachdenklichkeit bemerkst, etwa sagen: „Ich sehe, Du bist gerade sehr nachdenklich, ich komme am besten später wieder um mit dir zu sprechen. Ich lege dir einen Zettel hin, wo drauf steht wann wir weiter sprechen.“ Zettel mit Hinweis und Uhrzeit hinlegen, sich dann aber auch an die Zeit halten. Nichts ist entnervender als spontane Änderungen.

      Manchmal braucht es aber auch nur ein paar Minuten Geduld vom Gegenüber weil unsere Reaktionen zum Teil verzögert kommen z. B. man ist bemüht sein Gegenüber richtig einzuschätzen (ich gehe da sehr nach Wahrscheinlichkeiten und danach, was ich schon von der Person an Einstellungen/ Stimmungen/Meinung/Wissen kenne), trotz Problemen bei der Erfassung von Subtext und Kontext, denkt mehr in die Tiefe (was bedeutet das was mein Gegenüber sagt weiter gedacht/ in letzter Konsequenz), versucht Sachverhalte stark abzuwägen, ist gerade mutistisch „blockiert“ (ich muss die Verspannung dann erst „veratmen“), auch… wie kann ich mich jetzt so ausdrücken, dass mein Gegenüber einen verwertbaren Eindruck davon bekommt, was ich anders wahrnehme /wie anders ich denke/fühle und viele weitere Gründe…

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