Was man beim Biss in ein herzhaftes Käsebrot über Tischmanieren nachdenken kann…

Neulich las ich in einem Beitrag darüber, welche Tischmanieren Kinder ab vier Jahren beherrschen sollten. Da musste ich doch herzhaft lachen, als ich in mein ebenso herzhaftes Käsebrot biss. Beim Kauen las ich dann weiter.

Gehen wir sie mal durch die tollen Regeln:

Hände waschen vor dem Essen

Ok, das lässt sich machen, auch wenn Sohnemann an manchen Tagen die Akustik im Bad nur schwer ertragen kann. Dann kommt Mama eben mit dem Waschlappen angelaufen und wischt die Hände sauber.

Ab dem vierten Lebensjahr wird mit Besteck gegessen

Ach so – na klar. Das erinnert mich an eine Dame vom „Medizinischen Dienst der Krankenkassen“, die zur Begutachtung der Pflegestufe (jetzt Pflegegrad) bei uns war und meinte, den zehnjährigen Niklas herausfordern zu müssen.
„Na, kannst Du denn nicht doch alleine mit dem Besteck essen?“, fragte sie ihn freundlich lächelnd.
Bevor Niklas die Gelegenheit beim Schopfe packen konnte, um mit Messer und Gabel Darts zu spielen, ging ich dazwischen und fragte die Dame, ob sie denn eigentlich Wechselkleidung im Auto dabei hat.
Ein kurzes Zögern folgte und: „Na dann lassen wir das lieber mit dem alleine essen.“

Am Esstisch „bitte“ und „danke“ sagen

Na, wenn´s weiter nichts ist. Etwas schwierig bei einem nicht-sprechenden Kind, aber man kann es natürlich auch gebärden oder beschriftete Karten zum Auswählen bereit legen, auf die dann regelmäßig getippt wird: „bitte“ hier und „danke“ dort.
Nee, das ist mir dann doch zu umständlich und mir reicht eine Tischrunde mit zufriedenen Gesichtern völlig aus.

Mit dem Essen wird erst begonnen, wenn alle etwas auf dem Teller haben

Hihi, da verschluckte ich mich dann fast an meinem herzhaften Käsebrot.
Völlig unvorstellbar. Wenn was da ist, wird es auch sofort gegessen und zwar ohne Pause. Niklas bekommt das Essen, sofern es per Hand zu essen ist, stückchenweise, weil er kein Gefühl dafür hat, es zu portionieren und beim Essen zu dosieren. Es würde in ein Gestopfe ausarten, wenn wir das anders handhaben würden.
Insofern essen sowieso nicht alle gemeinsam, sondern einer ist immer dabei, Niklas entweder das Essen zu geben oder es für ihn zu portionieren, bevor wir unser eigenes Essen genießen können. Da ist es dann auch schon egal, wer wann anfängt, da wir sowieso versetzt essen.

Nicht mit dem Essen spielen

Grins :-) Also, was genau ist denn „spielen“ in diesem Zusammenhang?
Wenn die Nudel über der Lampe hängt oder der Kartoffelbrei an der Wand klebt oder Pommes die Frisur der Gäste verzieren – ist das „spielen“ oder ist das impulsives und unkoordiniertes Handeln?
„Spiel nicht mit dem Essen.“ Das wäre eine Ansage, die mein Sohn überhaupt nicht verstehen würde.

Nicht schmatzen, schlürfen, schniefen oder schlingen.

Da erübrigt sich jeder weitere Kommentar. Ich glaube, wir würden wohl aus jedem Lokal rausfliegen. Darum gehen wir nie essen.

Während des Essens nicht vom Tisch aufstehen

Und wie ist das, wenn Kinder grundsätzlich Rundlauf beim Essen machen und gar nicht still sitzen können? Wie ist das, wenn man froh ist, dass das Kind überhaupt etwas isst, und zwar nur, wenn es dabei herumläuft? Wieso soll ein Kind nicht aufstehen dürfen, wenn es damit doch niemandem weh tut und es einfach tun muss, um sein inneres Gleichgewicht wenigstens annähernd wiederzufinden – wegen und trotz der vielen Essensgeräusche der anderen Personen rundherum.
Also wir rennen ständig rum beim Essen – wir alle, der eine voraus, die anderen hinterher. ;-)

Auf das Essen konzentrieren und nicht nebenbei aufs Smartphone gucken oder spielen

Also, ein Smartphone würde sowieso an die Wand fliegen, denn da könnte ja ein unerwarteter Ton rauskommen, gibt´s also grundsätzlich nicht.
„Aufs Essen konzentrieren“ – hm, das kann ich jetzt schwer einschätzen, was unter Konzentration und was unter hungrige-Erwartung-und-große-Augen-machen fällt ;-)

Aufrecht sitzen und das Besteck zum Mund führen und nicht umgekehrt

Der größte Lacher zum Schluss! Unglaublich!
Selbstredend ist das undenkbar bei uns.
Aber mal ehrlich – welche Kinder sind denn genauso wie hier beschrieben? Ich kann mir nicht helfen und habe irgendwie Fräulein-Rottenmeier-Assoziationen im Hirn.

Käsebrot

Wenn ich meine Energie auch noch auf diese Essens-Benimmregeln richten würde, puh – da hätten wir wohl ein Leben lang zu tun und würden sie doch nie erfüllen können.
Und dabei würde ich Vieles vernachlässigen müssen, das viel wichtiger ist:
Immer weiter Verständnis für mein Kind und sein Handeln entwickeln und immer weiter vorangehen auf dem Weg aufeinander zu und nebeneinander her – je nachdem – und zwar jenseits irgendwelcher Benimmregeln, sondern so, wie es für uns passt.

Nur um das klarzustellen: Ich habe natürlich nichts gegen Tischmanieren und man kann mich unbesorgt und ohne Angst einladen :-) . Aber jetzt laufe ich erstmal mit meinem Käsebrot eine Runde durch den Garten, ohne Besteck und mit Smartphone in der Hose.
Ups! Hatte ich mir die Hände schon gewaschen? :-)

***

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6 comments

  • Sabine Mischek

    Amüsant. Klappt auch bei mir nicht. 1. Sohn kommt um 17 15 uhr nach Hause. (Feierabend als Maurer). 2. Sohn kommt aber schon um 16 30 Uhr nach Hause. Hat Hunger. Der 3. Dachdecker von Beruf kommt zwischen 17 45 Uhr und 19 Uhr nach Hause. Sollen die ersten beiden wirklich auf den letzten warten? Jeder isst dann wenn er hunger hat. Ausser an den Wochenenden. Da essen wir gemeinsam.

  • Miriam Abu-Hesen

    Dass selbst das Essen mit diesem Benimmzwang bei autistidchen Kindern in Stress ausartet, ist doch klar! Und was haben wir in puncto essen gelernt: streefrei, entspannt genießen, sonst gibt’s Essstörungen – und die will doch nun eirklich keiner! Also: immer schön locker bleiben ;-)

  • Grünewald Jessica

    ??? Herrlich, ich lach mich weg!
    Und wenn dann zB irgendein „besorgter Lehrer“ auf mich zu kommt, warum denn mein Kind so dünn sei, kriegt er als Antwort „hey, er kann kniggemäßig“ an jedem Dinner teilnehmen. ?
    Mal ernsthaft wenn ich ein Kind beim Essen erleben würde das sich so benimmt käme in mir die Frage auf ob es evtl ein klitze kleine Zwangstörung haben könnte✌?.

  • Zarinka

    „Neulich las ich in einem Beitrag darüber, welche Tischmanieren Kinder ab vier Jahren beherrschen sollten.“

    Ja, und deswegen wird gleich auch noch empfohlen damit ab dem 1. Lebensjahr des Kindes zu beginnen…so dass es diese dann mit 4 Jahren auch wirklich beherrscht.

    Und da frage ich mich schon seit langem wozu das Ganze eigentlich?

    http://www.business-wissen.de/artikel/tischmanieren-erstklassiges-verhalten-bei-tisch-wozu-und-wie/

    „Obwohl heutzutage steife Etikette bei Tisch nicht mehr angesagt ist, gilt angenehmes Verhalten beim Essen noch immer als Eintrittskarte in die gute Gesellschaft. Wer gemeinsam isst, befindet sich immer auf einer „Bühne“.“

    Was ist denn hier mit guter Gesellschaft gemeint?
    Und wie muss ich das mit der „Bühne“ verstehen?

    Ich selbst schätze mich glücklich dass ich überhaupt etwas zu essen habe, denn leider habe ich auch schon einige schlechtere Zeiten erlebt. Nein, wirklich hungern musste ich natürlich nicht, aber (um es mal positiv auszudrücken) bescheiden fielen einige Mahlzeiten dennoch recht häufig aus.

    In solchen Augenblicken habe ich mir nun wirklich am wenigsten Gedanken über die Tischmanieren meiner Familie (Kinder) gemacht, geschweige denn den Wunsch nach einer Eintrittskarte in die gute Gesellschaft verspürt. (Was immer darunter zu verstehen ist.)

    Wenn unsere Gesellschaft keine anderen Sorgen hat als sich über die Tischmanieren unserer (1-4jährigen) Kinder Gedanken zu machen, dann scheint es vielen in dieser Gesellschaft anscheinend fast schon zu gut zu gehen.
    (So jetzt mein persönliches Empfinden dazu.)

  • Saskia

    Ein schönes Thema, grins.
    Wir sind zu sechst. Jeder hat so seine Eigenheiten beim Essen. Der eine kann den Popo nicht ganz still halten, der andere isst gerne mit den Händen, dann wird noch schnell aufgestanden weil etwas fehlt, einer fängt erst an wenn der andere schon fertig ist, u.s.w.
    Und alle gleichzeitig an den Tisch zu bekommen ist auch so eine Sache.
    Mit den Manieren schön und gut. Wenn es jemand in seiner Familie schafft, schön. Aber gerade wenn Oma und Opa mit am Tisch sitzen, kommen von ihnen besondere Eigenheiten, wo ich denke, das sie es aber bestimmt anders gelernt haben.
    Wir haben unsere eigene Essenskultur.

  • Das mit den Tischmanieren ist ein gutes Beispiel, dass viele „normale“ Erziehungsratschläge (à la Supernanny) bei autistischen Kindern entweder gar nicht anwendbar sind oder nur nach hinten losgehen können.

    Davon abgesehen halte ich es ohnehin für fragwürdig, wenn man ernsthaft dafür plädiert, bereits vierjährigen Kindern (auch wenn sie nicht autistisch sind) derart strenge Tischregeln aufzuzwingen, so manches liest sich ja wirklich wie zu Großvaters Zeiten!

    Ich finde, Kinder in dem Alter sollte man Kinder lassen und sie nicht an den steifen Verhaltensvorstellungen von Erwachsenen messen. Mein Eindruck ist, dass konservative Erziehungsvorstellungen in den 10-15 Jahren generell wieder gesellschaftsfähiger geworden sind. Davon sind letztendlich auch autistische Kinder betroffen, denn bestimmte Erziehungsideale sind auch ein idealer „Nährboden“ für Methoden wie ABA, das kommt alles nicht grundlos.

    Es wäre mal interessant zu wissen, ob es überhaupt so etwas wie einen Erziehungsratgeber bzw. Erziehungstipps für autistische Kinder gibt. Wie gesagt: Die üblichen Erziehungsratschläge greifen bei Autisten oft nicht, anderseits brauchen ja auch autistische Kinder ein gewisses Maß an Erziehung, an Regeln und Grenzen, so plakativ sich das auch anhört. Die Frage wäre nur: Wo muss man autistische Kinder eventuell anders erziehen, wo müssen andere Regeln und Grenzen gelten, als man sie nicht autistischen Kindern abverlangen würde?

    Ich persönlich denke schon, dass Erziehung bei autistischen Kindern in bestimmten Punkten anders aussehen muss, wie eben beim Thema Tischregeln, wie Silke sehr eindrucksvoll dargelegt hat. Entscheiden kann man es wahrscheinlich immer nur individuell, welche erzieherischen Regeln und Grenzen man einem autistischen Kind zumuten kann und wo man Abstriche machen muss, z.B. im Vergleich zu nicht-autistischen Geschwisterkindern.

    Ich finde das ein höchst spannendes Thema, denn wenn ich auf meine eigene Kindheit zurückblicke, dann denke ich, dass man einerseits viel zu streng mit mir umgegangen ist und mir Regeln und Anforderungen abverlangt hat, die ich (auch durch meinen Autismus bedingt) nicht leisten konnte. In manchen Situationen ist man aber auch zu inkonsequent mit mir umgegangen, was mir auch nicht gut getan hat.

    Gerade bei autistischen Kindern ist es meiner Meinung nach nicht einfach, das richtige Maß in Sachen Erziehung zu finden, ich weiß das leider aus eigener Erfahrung. Ich hoffe, diese Gedanken sind mir an dieser Stelle gestattet, auch wenn sie über das Thema Tischmanieren hinausgehen.

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