Über Tischmanieren, wie (un)wichtig sie sind und Tipps für Familien mit autistischen Kindern

veröffentlicht im November 2023


Neulich las ich, welche Tischmanieren Kinder bereits ab vier Jahren beherrschen sollten. Da musste ich doch herzhaft lachen, als ich in mein ebenso herzhaftes Käsebrot biss. Beim Kauen las ich dann weiter.

©pixabay: User matthiasboeckel, Inhaltslizenz, vielen Dank!

Gehen wir sie mal durch die tollen Regeln:

Hände waschen vor dem Essen

Ok, das lässt sich machen, auch wenn Sohnemann an manchen Tagen die Akustik im Bad nur schwer ertragen kann. Dann kommt Mama eben mit dem Waschlappen angelaufen und wischt die Hände sauber.

Ab dem vierten Lebensjahr wird mit Besteck gegessen

Ach so – na klar. Das erinnert mich an eine Dame vom „Medizinischen Dienst der Krankenkassen“, die zur Begutachtung bei uns war und meinte, den zehnjährigen Niklas herausfordern zu müssen.
„Na, kannst Du denn nicht doch alleine mit dem Besteck essen?“, fragte sie ihn freundlich lächelnd.
Bevor Niklas die Gelegenheit beim Schopfe packen konnte, um mit Messer und Gabel Darts zu spielen, ging ich dazwischen und fragte die Dame, ob sie denn eigentlich Wechselkleidung im Auto dabei hat.
Ein kurzes Zögern folgte und: „Na dann lassen wir das lieber mit dem alleine essen.“

Am Esstisch „bitte“ und „danke“ sagen

Na, wenn´s weiter nichts ist. Etwas schwierig bei einem nicht-sprechenden Kind, aber man kann es natürlich auch gebärden oder beschriftete Karten zum Auswählen bereit legen, auf die dann regelmäßig getippt wird: „bitte“ hier und „danke“ dort.
Nee, das ist mir dann doch zu umständlich und mir reicht eine Tischrunde mit zufriedenen Gesichtern völlig aus.

Mit dem Essen wird erst begonnen, wenn alle etwas auf dem Teller haben

Hihi, da verschluckte ich mich beim Lesen fast an meinem herzhaften Käsebrot.
Völlig unvorstellbar. Wenn was da ist, wird es auch sofort gegessen und zwar ohne Pause. Niklas bekommt das Essen, sofern es per Hand zu essen ist, stückchenweise, weil er kein Gefühl dafür hat, es zu portionieren und beim Essen zu dosieren. Es würde in ein Gestopfe ausarten, wenn wir das anders handhaben würden. So kenne ich das auch von vielen seiner autistischen Freunde.
Insofern essen sowieso nicht alle gemeinsam, sondern einer ist immer dabei, Niklas entweder das Essen zu geben oder es für ihn zu portionieren, bevor wir unser eigenes Essen genießen können. Da ist es dann auch schon egal, wer wann anfängt, da wir sowieso versetzt essen.

Nicht mit dem Essen spielen

Also, was genau ist denn „spielen“ in diesem Zusammenhang?
Wenn die Nudel über der Lampe hängt oder der Kartoffelbrei an der Wand klebt oder Pommes die Frisur der Gäste verzieren – ist das „spielen“ oder ist das impulsives und unkoordiniertes Handeln?
„Spiel nicht mit dem Essen.“ Das wäre eine Ansage, die mein Sohn überhaupt nicht verstehen würde.

Nicht schmatzen, schlürfen, schniefen oder schlingen.

Da erübrigt sich jeder weitere Kommentar. Ich glaube, wir würden wohl aus jedem Lokal rausfliegen. Darum gehen wir nie gemeinsam essen.

Während des Essens nicht vom Tisch aufstehen

Und wie ist das, wenn Kinder grundsätzlich Rundlauf beim Essen machen und gar nicht still sitzen können? Wie ist das, wenn man froh ist, dass das Kind überhaupt etwas isst, und zwar nur, wenn es dabei herumläuft? Wieso soll ein Kind nicht aufstehen dürfen, wenn es damit doch niemandem weh tut und es einfach tun muss, um sein inneres Gleichgewicht wenigstens annähernd wiederzufinden – wegen und trotz der vielen Essensgeräusche der anderen Personen rundherum.
Also wir rennen ständig rum beim Essen – wir alle, der eine voraus, die anderen hinterher. ;-)
Mit den Jahren ist es allerdings etwas ruhiger geworden, was ganz angenehm ist.

Auf das Essen konzentrieren und nicht nebenbei aufs Smartphone gucken oder spielen

Also, ein Smartphone würde sowieso an die Wand fliegen, denn da könnte ja ein unerwarteter Ton rauskommen, gibt´s also grundsätzlich nicht, weil mein Sohnemann alle elektrischen Geräte zunächst mal suspekt findet.
„Das ist ja super“, sagte mal eine andere Mutter zu mir, „du hast es echt gut, weil du nicht ständig den Medienkonsum eingrenzen musst.“ Und ich dachte mir: Ja, echt super, wenn das Kind kein Hobby hat und rund um die Uhr beschäftigt werden muss. Die Dame, die das zu mir sagte, gehört zu den Menschen, denen ich inzwischen nur noch knapp antworte, weil alles andere vergebens ist….und deshalb war`s das auch schon mit der kleinen Zwischenepisode.

Wir waren beim Essen…. „Man soll sich auf Essen konzentrieren“ – hm, das kann ich jetzt schwer einschätzen, was unter Konzentration und was unter hungrige-Erwartung-und-große-Augen-machen fällt.

Aufrecht sitzen und das Besteck zum Mund führen und nicht umgekehrt

Der größte Lacher zum Schluss! Unglaublich!
Selbstredend ist das undenkbar bei uns.
Aber mal ehrlich – welche Kinder sind denn genauso wie hier beschrieben? Ich kann mir nicht helfen und habe irgendwie Fräulein-Rottenmeier-Assoziationen im Hirn.

Wenn ich meine Energie auch noch auf diese Essens-Benimmregeln richten würde, puh – da hätten wir wohl ein Leben lang zu tun und würden sie doch nie erfüllen können.
Und dabei würde ich Vieles vernachlässigen müssen, das viel wichtiger ist:
Immer weiter Verständnis für mein Kind und sein Handeln entwickeln und immer weiter vorangehen auf dem Weg aufeinander zu und nebeneinander her – je nachdem – und zwar jenseits irgendwelcher Benimmregeln, sondern so, wie es für uns passt.

Ich habe natürlich nichts gegen Tischmanieren und man kann mich unbesorgt und ohne Angst einladen. Aber werden wir doch gerne noch kurz konstruktiv. Ein paar Hilfestellungen für die Mahlzeiten mit autistischen Kindern habe ich hier zusammengetragen. Vielleicht hilft der eine oder andere Ansatz weiter.

Ein paar Anregungen für Mahlzeiten mit autistischen Kindern

Flexible Essenszeiten: Erlaube dir flexible Essenszeiten, die zu den Bedürfnissen deines Kindes passen. Vielleicht bevorzugt es kleinere Mahlzeiten über den Tag verteilt, anstatt zu festen Uhrzeiten zu essen.

Angepasste Sitzmöglichkeiten: Sorge dafür, dass dein Kind eine bequeme Sitzgelegenheit hat, die seinen Bedürfnissen entspricht. Vielleicht mag es Sitzkissen oder spezielle Stühle und einen größeren Abstand zu anderen Personen.

Sensorische Anpassungen: Achte darauf, die Bedürfnisse deines Kindes im Bereich der Wahrnehmung zu berücksichtigen. Versuche störende Geräusche oder grelles Licht während der Mahlzeiten zu vermeiden. Es kann auch helfen, den Sitzplatz deines Kindes visuell zu kennzeichnen, damit es genau weiß, wo Geschirr und Besteck seinen Platz haben sollen. Vergleiche dazu gerne Beiträge zum TEACCH-Ansatz hier im Blog.

Spezielles Geschirr: Probiere verschiedene Arten von Geschirr oder Besteck aus, um herauszufinden, was deinem Kind am besten gefällt und am angenehmsten zu benutzen ist. Es gibt Teller, die am Tisch haften und unterschiedliche Materialien, die du testen könntest.

Erlaube Selbstbestimmung: Lass dein Kind so oft es geht, selbst entscheiden, was es essen möchte. Natürlich achtest du weiterhin auf gesunde und ausgewogene Ernährung, aber Wahlmöglichkeiten einzubauen, stärkt das Gefühl von Autonomie und Zufriedenheit.

Berücksichtige Konsistenz und Temperatur: Beachte die Vorlieben oder Abneigungen deines Kindes bezüglich der Konsistenz (flüssig, breiig, schnittfest,…) und Temperatur von Lebensmitteln. Finde auch heraus, ob dein Kind die Lebensmittel gerne vermischt oder lieber getrennt auf dem Teller oder sogar auf verschiedenen kleinen Tellern haben möchte.

Bereite vertraute Mahlzeiten zu: Koche häufig Mahlzeiten, die dein Kind kennt und mag, wenn es darum geht, kleine Routinen einzuführen. Nicht alles auf einmal, sondern immer nur Kleinigkeiten verändern.

Essen außerhalb von Gesellschaft: Biete deinem Kind die Möglichkeit, alleine oder in einer ruhigen Umgebung zu essen, wenn es das bevorzugt. Damit vermeidest du Reizüberflutungen. Bei Familienfeiern essen wir mit Niklas meistens in einem anderen Raum. Das ist nicht schlimm und spart viel Aufregung.

Visualisierung verwenden: Nutze visuelle Hilfsmittel wie Bildspeisekarten oder Zeitpläne, um deinem Kind zu helfen, den Ablauf der Mahlzeiten zu verstehen, v.a. wenn ihr zum Beispiel eingeladen seid oder außer Haus esst.

Bitte denke immer daran: das sind nur Tipps und nicht jeder Hinweis muss für jedes Kind und jede Familie passen. Richte die Situationen so ein, wie sie für euch alle am entspanntesten sind, rechtfertige dich nicht vor anderen und passe die Gegebenheiten neu an, wenn erforderlich.
Du musst niemandem etwas beweisen und auch nicht Normen erfüllen, die andere aufgestellt haben, wenn es anders für euch besser klappt.

Und ganz wichtig: Geh ab und zu mal mit deinem Partner /deiner Partnerin oder Freunden alleine zum Essen, um dich nur auf dich selbst konzentrieren zu können. Organisiere jemanden für dein Kind und wenn es nur für eine Stunde ist, um selbst eine kleine Auszeit zu bekommen.

***

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Informationen zum TEACCH-Ansatz

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KOMMENTARE

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  1. Guten Morgen!
    Zwei Ergänzungen:
    1. Nicht darauf herumreiten (Rw), wie „korrekt“ das Besteck in die Hand genommen wird. Wichtiger ist, dass das Essen nicht herunterfällt.
    2. Eigenes Geschirr/Besteck, das der Betroffene an einen nur für ihn zugänglichen Ort (Zimmer/Schublade) aufbewahrt (bei Angst vor Kontamination ect.).

  2. Liebe Silke,
    ich danke dir, dass du dieses heikle Thema aufgegriffen hast. Es ist auch mein Eindruck, dass Tischmanieren für viele Eltern und auch Pädagoginnen einen hohen und fast schon dogmatischen Stellenwert besitzen. Ich glaube weiterhin, dass es gerade für Autistinnen oft nur schwer möglich ist, die klassischen Ansprüchen von Tischmanieren zu befolgen ‒ und wenn, dann nur mit großer Kraftanstrengung.
    Auch mir hat man in jungen Jahren oft nachgesagt, ich hätte keine Tischmanieren und würde „wie ein Schwein“ essen. Das mag so gewirkt haben, das will ich nicht abstreiten. Mittlerweile habe ich glücklicherweise ein Gespür dafür entwickelt, was in Gesellschaft als angemessen empfunden wird und was nicht.
    Trotzdem fällt es mir noch heute schwer, den Sinn von gemeinsamen Mahlzeiten nachvollziehen und Freude daran zu empfinden. Für mich (sicher auch für viele andere Autistinnen) ist Essen zunächst einmal nur Nahrungsaufnahme, nicht mehr und nicht weniger. Für nichtautistische Menschen scheint dagegen der kommunikative Faktor; das gesellige Beisammensein eine zentrale Bedeutung zu haben, was für Autistinnen naturgemäß anstrengend und kraftraubend ist. Man muss sich klarmachen: Korrekt zu Essen (auf die richtige Haltung des Bestecks zu achten usw.) und gleichzeitig im Kontakt zu bleiben (über Blicke, Mimik, Gestik usw.) ist eine Form von Multitasking, die für autistische Menschen oft nicht leistbar ist.
    Noch heute esse ich in der Betriebskantine für mich alleine an einem Einzeltisch. Kurz bevor die Essensausgabe schließt und nur noch wenig los ist. Zum Glück wird das in meiner Firma akzeptiert. Ich wünsche mir von der Gesellschaft generell mehr Toleranz und Gelassenheit, wenn autistische Menschen (egal ob Kinder oder Erwachsene) lieber für sich allein essen. Auch das kann ein wichtiger Beitrag sein zu einer echten Akzeptanz autistischen Andersseins ‒ und bedeutet keineswegs, dass autistische Menschen deshalb (das muss ich hier sicher nicht begründen) misanthropisch oder desinteressiert sind, im Gegenteil: Sie brauchen ihre Schonräume, um Kraft zu tanken, damit sie sich in anderen Situationen umso besser und authentischer auf andere Menschen einlassen können.

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