Lisa: „Autistische Frauen kompensieren so gut, dass sie kaum auffallen. Auf Dauer macht das krank.“

veröffentlicht im September 2018


Der Kontakt zu Lisa hat mich sehr beeindruckt. Sie ist Autistin und bekam erst spät im Erwachsenenalter ihre Diagnose. Der Grund dafür ist, dass sie viel kompensierte bis sie an ihre Grenzen und darüber hinaus kam. Im Interview erzählt sie aus ihrem Leben und klärt darüber auf, warum Mädchen und Frauen so oft als Autistinnen übersehen werden.

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Liebe Lisa, Du bist Autistin. Wie alt bist Du und seit wann hast Du Deine Diagnose?

Ich bin 35, fast 36 Jahre alt und habe meine Verdachtsdiagnose am 27.10.2017 erhalten (F84.1, atypischer Autismus). Fast ein Jahr später, am 21.09.2018 werde ich meine endgültige Diagnose bekommen, am 03.09.2018 durchlief ich eine weitere Testung, die ich mit IGe-Leistung bezahlen musste. Hinauslaufen wird es auf F84.0, frühkindlichen Autismus mit Hochfunktionalität, dies sagte die Ärztin bereits nach dem Anamnese-Gespräch.

Was macht Dein Leben mit Autismus aus? Welche Stärken hast Du und wo liegen die Herausforderungen?

Ich habe einen Blick für Details sowie das Talent, jeden Rechtschreib- sowie Interpunktionsfehler zu sehen. Ich kann mir wahnsinnig gut Zahlen und Daten merken. Telefon-, Handy- und Kontonummern kann ich aus dem Gedächtnis abrufen, ebenso wie Geburtstage. Ich verbinde diese bewusst mit bestimmten Menschen, somit kann ich mir merken, wer sich hinter dem jeweiligen Geburtstag verbirgt – Gesichter verschwimmen sofort und werden einfach nicht erkannt.
Ein Sprachtalent habe ich auch, habe mir diverse Fremdsprachen selbst beigebracht. Kann diese aber leider fast nur schriftlich anwenden, da ich ein erhebliches verbales Kommunikationsdefizit habe. Das ist nicht einfach für mich, wenn ich andauernd Pronomen und Redewendungen sowie Verhältniswörter vertausche.

Ich arbeite Vollzeit im Büro und hasse das Telefon. Ich vermeide es möglichst, viel zu sprechen und schweige lieber, verrichte meine Arbeit schnell und gewissenhaft sowie zuverlässig. Aber all das geht nicht ohne Routinen: Immer denselben Weg zur Arbeit mit dem gleichen Bus um exakt dieselbe Uhrzeit, weicht es um ein paar Minuten ab, werde ich hochgradig nervös und unruhig, sogar fast panisch. Ich halte minutengenau meine Pausen bei der Arbeit ein sowie morgens beim Aufstehen erfolgt jeder Schritt in exakt derselben Abfolge wie am Vortag. Abends um 21 Uhr habe ich über Messenger mein Ritual mit meinem Partner, noch wohnen wir leider nicht zusammen.
Rituale sind für mich überlebenswichtig und geben mir Halt. Da mein Leben in sog. sozialen Situationen nur aus Unsicherheit besteht, kann ich mich an meinem Tagesablauf festhalten und den Tag unter größter Anstrengung bewältigen.

Eine erhebliche Herausforderung ist für mich die Unfähigkeit, Emotionen anderer zu erkennen. Ich kann es nicht ansatzweise und ecke somit überall an. Meine ständigen Fragen: „Was ist los, habe ich was falsch gemacht oder gesagt?“ Gestik, Mimik und Blicke anderer sind für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich habe deswegen auch kaum Freunde, baue mir jetzt aber langsam nach langer Zeit einen kleinen Freundeskreis auf. Online über Facebook sowie Freunde aus Selbsthilfegruppen und die meines Partners. Sie helfen mir alle.
Womit ich auch Schwierigkeiten habe: Interessen und Gefühle zu teilen. Ich kann keine Emotionen explizit benennen, ich fühle aber intensiv, nur kann ich es nicht beschreiben, was genau. Mein Betriebssystem läuft binär, es gibt dort wie beim PC nur 1 & 0. Sog. Grauzonen dazwischen sind für mich nicht existent. Ich freue mich über etwas sehr doll, zeige dies aber kaum – ein gestelltes Lächeln vielleicht und ein auswendig gelerntes Dankeschön, das tut mir und anderen sehr weh. Ich KANN es aber nicht. Nur schriftlich vermitteln, das wiederum ist kein Problem.

Ich weiß schon immer, dass ich anders bin und sage das auch. Der Autismus war immer schon da, aber unerkannt und relativ gut kompensiert. Aber durch die Kompensation wurde ich ernsthaft krank.
Das erste Anzeichen war eine Iris-Entzündung in meinem linken Auge, die wieder vorüber ging. Etwa ein halbes Jahr später hatte ich sehr starke Schmerzen in den Füßen und ging zum Orthopäden. Drei Jahre lang sagte er immer dasselbe: „Das ist eine nervliche Entzündung, da müssen Sie mit leben, geht irgendwann zurück.“ Ich konnte aber wirklich kaum mehr laufen.
Nach einer MRT-Untersuchung bekam ich den Befund: Aktivierte Arthrose (Ich war gerade 32 Jahre alt). Für mich brach eine Welt zusammen.
Ich bekam Medikamente und Einlagen. Beides vertrug ich nicht. Setzte die Medikamente ab und fing an zu kiffen. Das half mir nach kurzer Zeit, so dass ich einigermaßen wieder laufen konnte.
Seitdem ich die Diagnose habe, gehe ich offen mit dem Autismus um. Ich kompensiere ihn nicht mehr und wurde gesund (Depressionen weg, Arthrose ohne Schmerzen, kein Kiffen mehr nötig).

Was ich damit ausdrücken möchte: Kompensation ist falsch. Nur, um anderen zu gefallen, das eigene Ich zu verstellen, das macht krank. Der Körper richtet es gegen sich selbst. Ich habe es erkannt. Der hochfunktionale Autismus ist sehr gefährlich, aber das erkennen die wenigsten Fachärzte und auch Betroffene, weil sie bereits fast jede Hoffnung aufgegeben haben, was ihr Verhalten angeht. Und gerade Frauen sind so gut kompensiert, dass sie kaum auffallen. Deswegen schreibe ich als Frau, die schlimme Erfahrungen gemacht hat: Hinterfragt alles, jede Reaktion eures Körpers will euch was sagen. Sensibilisiert euch und lernt, Signale eures Körpers wahrzunehmen und zu erkennen. Es dauerte bei mir auch viele Jahre. Aber jetzt bin ich körperlich gesund, allerdings wird natürlich der Autismus noch sichtbarer als zuvor.

Wie ging es Dir in der Schulzeit?

Schulzeit? Bitte nicht noch einmal. Es war ja nicht nur die. Im Kindergarten war ich schon auffällig und spielte entweder allein sinnlose Spiele oder war in Konflikte verwickelt. Habe nach Elternabenden meist eine Ansage bekommen, ich möge mich bitte zurückhalten. Grundschule und Gymnasium, welches ich in der 10. Klasse wechselte, waren die schlimmsten Jahre meines Lebens. Ich wurde gemobbt, ausgelacht, verhöhnt, geschlagen und nachgemacht, ausgegrenzt und hintergangen. Die Lehrer haben das nicht sehen wollen und sagten zu meiner Mutter: „Ihre Tochter ist komisch und kann sich nicht in den Klassenverband integrieren, reden Sie ein ernstes Wort mit ihr, damit sie lernt, wie man sich benimmt!“
Sie war natürlich verzweifelt und stand mir bei, ist bei jedem Mobbingvorfall in die Schule gegangen und hat das Gespräch mit Lehrern und Eltern der Mitschüler gesucht, dass sie es lassen, mich zu mobben. Genützt hat es nichts. Im Gegenteil, es war kontraproduktiv und wurde noch schlimmer. Jeden Tag ging ich zur Schule und wünschte mir: Heute sind sie nett zu dir und lassen dich in Ruhe. Aber das war nie der Fall. Auch, wenn nicht aktiv gemobbt wurde, spürte ich die Blicke, hörte verstohlenes Gelächter und Fingerzeigen auf mich. Lautes Gelächter, wenn ich anfing zu sprechen. Ich wusste zu keinem Zeitpunkt, was mache ich richtig oder falsch, wann hören sie endlich damit auf?
Neue Strategie: Ich kopierte 1:1 ihr Verhalten und zog mich an wie sie, schminkte mich sogar etwas. Es wirkte aber künstlich, trotzdem bekam ich kurze Zeit Anerkennung und keine Ablehnung. Das klappte aber nur kurz, da es meine ganzen, geistigen Kräfte aufbrauchte.
Nach der Schule musste ich fast täglich erstmal schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich wollte Freundinnen haben, hatte auch eine kurzfristig, aber ich war distanzlos, war wie eine Klette, damit sie auch ja bei mir bleibt. Tat sie aber nicht. Somit drehte sie sich um und folgte dem Mob. Das ist erstmal alles zum Thema Schulzeit. Der eine oder andere Autist wird genau das kennen, das muss ich nicht ausführlicher schreiben, da Mobbing manche Menschen unheimlich triggert, wie mich noch vor zwei Jahren. Heute spreche resp. schreibe ich offen darüber.

Was würdest Du Pädagogen gerne sagen, die autistische Kinder in der
Klasse haben?

Gebt den Autisten eine Chance, ihr Potenzial zu entfalten! Lasst es nicht zu, dass sie gemobbt werden! Akzeptiert und integriert sie, erklärt nicht-autistischen Kindern, dass sie ein anderes Betriebssystem im Kopf haben und Anleitungen benötigen! Lasst Autisten die Aufgaben erledigen, die sie am besten können und zwingt ihnen nicht auf, bspw. eine Rechenaufgabe an der Tafel lösen zu müssen und sie damit zu demütigen sowie lächerlich dastehen lassen. Es gibt Autisten, die unter Dyskalkulie leiden, eine angeborene Rechenschwäche, wie ich sie habe.

Welche Tipps hast Du für autistische Kinder und Jugendliche?

Ganz ehrlich: Schwer zu sagen, da es selbst für mich schwierig ist, mich im Leben zurechtzufinden. Das Einzige, was wirklich wichtig ist: Sagt, dass ihr anders seid, sagt Bescheid, wenn ihr gemobbt werdet (es gibt in der heutigen Zeit Mobbingbeauftragte, die sich kümmern). Seid und bleibt so, wie ihr seid und lässt euch nicht manipulieren und verbiegen.

Warum denkst Du, dass gerade Mädchen und Frauen häufig erst spät
diagnostiziert werden?

Habe ich oben bereits erwähnt. Mädchen und Frauen wirken ob ihres Geschlechts zu unauffällig. Beispiel: Pferde und Reiten sind ein sehr beliebtes Hobby bei Mädchen und jungen Frauen. Ist eine von ihnen autistisch und beschäftigt sich ewig damit, ganz konzentriert, werden viele denken: Ach, die und ihre Pferde, aber gut, lass sie. Hat sie wenigstens eine Beschäftigung.
Auf ihr Verhalten bezogen heißt es oft: Stell dich nicht so an, andere bekommen das auch auf die Reihe! Und zack, ziehen sich die Frauen zurück und wirken „bloß schüchtern“. Dass die junge Frau vielleicht eine Entwicklungsstörung hat und massiv darunter leidet, auf den Gedanken kommt keiner. Auch haben die Frauen Angst, dass der rzt ihnen ihre Vermutung abspricht, was bei guter Kompensation oftmals passiert. Darum ist auch die Dunkelziffer undiagnostizierter Frauen und Mädchen so hoch. Das muss sich ändern, sonst gehen diese einmaligen Wesen mit ihren Gaben und Begabungen unerkannt zugrunde, werden mit Medikamenten vollgestopft, die eklatante Nebenwirkungen nach sich ziehen. Auch kann es passieren, dass sich Frauen in einem endlosen Strudel nach unten befinden durch die ganze Ablehnung und Nichtakzeptieren durch andere. Am Ende des Strudels wartet leider oftmals der Suizidgedanke und dessen Umsetzung auf sie. Und das darf alles nicht mehr passieren.
Ich für meinen Teil habe gemerkt: Lisa, halt stopp – bis hierhin und nicht weiter. Mir wurden derzeit das erste Mal klare Grenzen gezeigt, ehe es zu spät war. Denn auch ich habe eine Narbe am Handgelenk, direkt über der Schlagader.

Hast Du aktuell Pläne? Womit verbringst Du deine Zeit?

Pläne habe ich. Möchte raus aus der Stadt zu meinem Partner umziehen. Jobwechsel steht bevor, irgendwann nächstes Jahr unsere Hochzeit… da wird sich noch vieles ändern.
Zeit außerhalb der Arbeit verbringe ich zuerst mit meiner Familie, wohne noch zuhause. Dann mit meinem Partner. Danach bin ich lange online und möchte, dass Autismus gerade bei Frauen publik gemacht wird.

Was wünschst Du Dir von Deinen Mitmenschen?

Akzeptanz, Anerkennung der Fähigkeiten, Förderung von Autisten und Weiterverbreitung von Wissen über diese ganz besondere Störung, deren Forschung ja noch fast in den Kinderschuhen steckt. Ich habe mir unglaublich viel Wissen angelesen (bin gelernte Kauffrau trotz Dyskalkulie und ohne medizinisches Studium), trotzdem weiß ich sehr viel über das Autismus-Spektrum. Ich erwarte auch von anderen, dass sie sich damit beschäftigen und unser Leid anerkennen und nicht milde belächeln. DAS wünsche ich mir, ein erweitertes Bewusstsein.

Was ist Dir sonst noch wichtig zu sagen?

Ich habe alles gesagt und bin froh, dass ich anders bin, da ich dadurch einen anderen Blick auf die egoistische Welt habe und dieses Verhalten nicht für gutheiße.

Das Ego ist die falsche Persönlichkeit.

Herzlichen Dank an Ellas Blog,

Lisa S. aus H.

Lisa schreibt auch einen eigenen Blog, Ihr könnt in direkt HIER auf Facebook besuchen.

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Herzlichen Dank an Dich, liebe Lisa. Du hast eine ganz besondere Gabe im Schreiben. Ich hing förmlich an Deinen Zeilen, als ich sie zum ersten Mal las. Danke für Deine wichtige und wertvolle Aufklärungsarbeit, die in dieser Form nur Du als Autistin leisten kannst. Kein neurotypischer Mensch kann vermitteln, was Du an Erfahrung und Wissen zu geben hast.
Danke. Alles gute für Dich, Silke alias Ella

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Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Hallo,ich möchte gerne als Lisas Partner dazu sagen,das ich mich grad aufgrund ihrer Eigenschaften in sie verliebt habe. Sie ist z.B. bedingungslos ehrlich und ein ungeheuer starker Mensch.
    Das Leben mit einer autistischen Partnerin ist einfacher,als viele denken. Man(n) muß ein offenes Auge und Ohr für die Signale haben,die Autisten aussenden und diese richtig deuten. Das lernt sich schnell und macht das gemeinsame Leben wirklich einfach.

    1. Mit manch autistischen Partner/Partnerinnen mag das Leben unter Umständen hier und da auch einfach sein…einfacher als einige vielleicht denken, das will ich persönlich jetzt nicht in Abrede stellen.

      Jedoch für mich persönlich liest es sich jetzt doch ein wenig „zu einfach“, so nach dem Motto:

      „Man(n) muss „nur“ ein offenes Auge und offenes Ohr haben…aussendendes Signal des Autisten erkennen…dann noch richtig deuten (was sich schnell lernt) und schon macht es das gemeinsame Leben einfach.“

      Eine Partnerschaft erfordert doch eigentlich von beiden Partnern die Bereitschaft des ständigen Entgegenkommens, des Zuhörens aber eben auch gegenseitige Rücksichtnahme. An dieser Bereitschaft muss jahrelang immer wieder aufs neue gearbeitet werden.

      Ich gehöre hier anscheinend zu den wenigen? weiblichen Autisten die wohl so gut wie keine Signale aussendet. Das macht die Bereitschaft des Daran Arbeiten für uns beide immer wieder aufs neue recht schwer.

      Obwohl wir nun schon sehr lange verheiratet sind und einander doch recht gut kennen, war (und ist auch heute noch) unsere Partnerschaft alles andere als einfach. Und nicht jeder Autist „ist ein ungeheuer starker Mensch“, das darf auch nicht außer Acht gelassen werden.

      Wir (mein Mann und ich) respektieren und akzeptieren einander so wie wir nun ein mal sind. Doch das mussten wir beide erst einmal lernen, denn das ist einfacher gesagt als getan…es auch wirklich in die Tat umgesetzt bekommen, ist wirklich nicht einfach…leider.

      Ich persönlich finde es schön hier auch einmal von einem Partner einer Autistin zu lesen. : )

  2. Vielen Dank für dieses Interview!

    Ich bin weiblich, 29 Jahre alt und habe letztes Jahr meine Asperger-Diagnose bekommen. Ich habe vieles von dem erlebt, was Lisa beschreibt.

    Vor allem das jahrelange Mobbing in der Schulzeit hat mich stark geprägt (soziale Phobie + rezidivierende Depressionen). Als Mädchen/Frau mit unerkanntem Austismus hat man es extrem schwer. Gerade weil man oft einfach als „schüchtern“ usw. abgestempelt wird, obwohl so viel mehr dahintersteckt!

    Seit der offiziellen Diagnose mache ich große Fortschritte. Ich bekomme spezifischere Hilfen, kann meine Probleme besser benennen und somit auch verstehen und lösen. Hätte ich diese Hilfe bereits früher bekommen, wäre mir viel Negatives erspart geblieben…

    Bleibt nur zu hoffen, dass das Bewusstsein der Menschen wirklich sensibilisiert wird für dieses Thema.

    Lisa, viel Glück auf deinem weiteren Weg!
    Silke, danke für deinen Blog und die wertvollen Beiträge!

    Liebe Grüße
    Melanie :-)

  3. Betroffen macht es mich, dass Lisa so eine schlimme Schulzeit erleben musste, auch wenn vieles hier nur angedeutet wird. Was ich mich frage: Wenn Mobbing und Gewalt an Schulen so weit verbreitet sind, und wenn nahezu jeder Autist irgendwann in seinem Leben Mobbing erlebt hat, dann muss man sich schon fragen: Was läuft in unseren Schulen, in den Elternhäusern und in der ganzen Gesellschaft schief?

    Warum sind wir so oft nicht in der Lage, Kinder und Jugendliche zu empathischen Menschen zu erziehen, die schwächeren und gehandicapten Menschen mit Mitgefühl und Respekt begegnen, statt ihren eigenen Frust an ihnen auszulassen? Und warum gibt es auch unter Lehrern und Pädagogen so viele Feiglinge, die bewusst wegschauen? Und wie ist das alles mit dem Ziel der Inklusion zu vereinbaren? Wollen wir überhaupt Inklusion und Teilhabe für alle? Oder wollen wir in Wahrheit eine „Ellenbogengesellschaft“, in der letztlich nur das Recht des Stärkeren gilt?

    Das sind Grundsatzfragen, die den Rahmen eines Autismusblogs übersteigen, aber trotzdem: Bei all dem, was auch Lisa erlebt hat, kann ich es verstehen, wenn sich viele Autisten irgendwann ganz bewusst aus der Gesellschaft zurückziehen und sich nur noch in ihren eigenen Communities austauschen. Ich kann es auch verstehen, wenn einige Autisten (damit meine ich nicht Lisa) aus einer Art inneren Notwehr heraus anfangen, ihren Autismus zu idealisieren. Letzteres habe ich immer kritisch gesehen, aber es stimmt schon: Die gesellschaftlichen Reaktionen sind oft das größere Problem als der Autismus selbst. Es ist schade, dass es so ist – und ich wünsche mir von der Gesellschaft manchmal eine ehrlichere Diskussion über die oben angesprochenen Fragen.

  4. Vielen Dank für dieses Interview. Meine AS-Diagnose kam erst mit 24. Mobbingprobleme waren nur in der Grundschule und in der Berufsschule, die weiterführende Schule war eine christliche Privatschule wo großen Wert auf gegenseitige Akzeptanz gelegt wurde, obwohl es da auch Hänseleien gab, alles können die Lehrer halt auch nicht sehen. Zumal die Schule quasi ein Sammelbecken für alle war die woanders nicht klarkamen, drei viertel der Klasse hatten ADS/AHDS, LRS oder sonstige Verhaltensprobleme. Da bin ich schlichtweg übersehen worden. Totzdem bin ich froh dass es diese Schule war, weil 13 Jahre Mobbing hätt ich nicht gepackt. Deswegen habe ich nicht mehr so große Lust mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Ich leb lieber in meiner eigenen kleinen gemütlichen Seifenblase. Mit der Diagnosestellung sind auch etliche Gesundheitsprobleme weggegangen (Rückenschmerzen, Fußschmerzen, Migräne). Arbeiten schaff ich aber nicht, dann hab ich chronische Nasenentzündung. Ich werf mir ja so schon haufenweise Immunstärkungskram rein , damit ich eben nicht dauernd krank bin.

    @Dario: Das Gleiche denke ich auch. Wieso können wir nicht einfach nett zuander sein? Die anderen NT-Kids haben ja im Prinzip nur das nachgemacht was ihre Eltern vorgemacht haben. Mobbing wird halt gern untern Tisch gewischt, weils ja unangenehm ist. So ala war doch nur Spaß…., sei doch nicht so empfindlich…

  5. Noch ein paar Gedanken: Ich habe ein total schlechtes Zeitgefühl, entweder ich bin im Hier und Jetzt, dann kommt irgendwann oooops wer hat an der Uhr gedreht ist das wirklich schon so spät oder ich gucke total gestresst jede Minute auf die Uhr. Meine innere Uhr läuft irgendwie nach afrikanischer Zeit, im durchgetakteten D ist das natürlich total doof. Die Sommerzeit macht mich total kirre. Ein anderes Riesenproblem für mich ist, dass ich mich total anstrengen muss korrekt du oder sie zu sagen. Das fühlt sich für mich schwieriger als ein 5-gängiges Islandpferd korrekt ohne Gangsalat sprich Passtölt oder so zu reiten. Ich wünschte, ich würde in Schweden oder Island usw. leben, dann hätte ich das Du/Sie-falschanwendeproblem nicht. Fühle mich auch total unwohl wenn ich gesiezt +Nachname angesprochen werde wie bei einer Prüfung. Ich hatte gedacht wenn ich über 20 bin gewöhn ich mich dran, aber bisher hält das Unwohlsein an, mal sehen wie es über 30 und älter ist. Händeschütteln ist auch so eine Sache, meine Mum sagt immer ja du fasst doch auch Frösche+Kröten an und die sind doch ekliger. Nee, die sind emotional nicht so aufgeladen oder so, weiß auch nicht was genau das ist. Ich fass lieber Tiere an als Leute die Hand zu geben. Ich mache es schon wenn es erwartet wird, aber eben mechanisch und ohne Freude.

    @Ella: Ich würde zu gerne wissen wie ihr „Enten“ das macht mit der korrekten Zuordung von Sie/Du. Ist das so ein nettes kleines Feature was intuitiv bedient wird und bei mir nicht läuft. Ist ja logisch Windows-Kram läuft auf einem Apple oder Linux nicht.

    1. Oh, das bin ich mir auch manchmal unsicher mit dem „Du“ und dem „Sie“. Manchmal ist es intuitiv klar, aber nicht immer und dann versuchen viele „Enten“ die Anrede zu umgehen.

    2. Ich kenne zwar die Regeln von du und sie, aber ich habe oft das Problem, dass andere mich ungefragt duzen. Und ich weiß nie, ob das dann angemessen ist von denen, und ich einfach nur zu empfindlich bin, oder ob deren Verhalten zu distanzlos ist. Aber es gibt bestimmte Szenen oder Läden oder Clubs oder was auch immer, wo man jeden duzt. Und ich spüre schon, ob mich jemand einfach duzt, weil er glaubt, die Kleine ist ja irgendwie komisch, oder ob man sich dort einfach mal duzt, und ich einfach dazu gehöre, so nach dem Motto, du gehörst dazu. Mit dem Händeschütteln ist es schwierig, wann gebe ich die Hand, wann gebe ich sie nicht, wem gebe ich sie wann zuerst. Da habe ich dann eher das Problem, den richtigen Zeitpunkt zu finden oder zu wissen, wann ich es machen muss und wann nicht. Strecke ich die Hand hin, passt es nicht, Strecke ich sie nicht hin, passt es auch wieder nicht. Und häufig bekommen immer die anderen zuerst die Hand, obwohl ich die ältere und die Frau bin, wohingegen ich immer noch den Status eines Kindes habe und immer als letztes die Hand kriege und erstmal ausgelassen werde, bis man wieder zu mir zurück kommt. Das stört mich dann auch. Schwitzige Hände mag ich auch nicht, oder wenn mich jemand einfach an der Hand fast, wenn er mir irgendwo hilft und mich hinführt, oder irgendwie schwielige oder sonst wie dreckige Hände, wenn mir jemand die Hand reicht. Das finde ich dann auch zu nah.

  6. Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich habe im vorletzten Jahr auch gemerkt, dass Kompensation sehr krank machen kann. Das Umfeld bemerkte meinen Autismus zwar auf den ersten Blick nicht mehr, dafür habe ich allerdings sämtliche Energie verloren. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wer ich selbst überhaupt noch bin, fühlte mich wie eine Marionette oder wie ein Mensch in einem Chamäleonkostüm. Nun arbeite ich daran, dass ich im Alltag und vor allem in meiner Freizeit wieder weniger kompensiere. Es ist nicht leicht, gerade wenn man viel Mobbing aufgrund seiner Art und Weise erfahren hat.

    Liebe Grüße
    Sarinijha

  7. Ich sehe mich in Lisa.
    Daten, Zahlen, Fakten.
    Dyskalkulie.
    Nur mit Legasthenie, ADHS,
    HSP, und überdurchschnittlichen IQ-Test (heißt nicht das ich etwas besseres bin).

    Dank Lisa!
    Du ähnelst mir!

    Ich möchte gerne mehr von deinem Leben wissen, und mich gerne mit dir austauschen.

    1. Hallo Sabra,
      entschuldige bitte die späte Antwort.
      Finde mich auf Facebook „Lisa P. Dorsten“
      Danke.

  8. Vielen Dank für Carstens und Zarinkas Beiträge zum Thema Partnerschaft. Hab nämlich manchmal Angst, abgelehnt zu werden aufgrund meiner (Asperger ) Diagnose.

  9. Ich sehe mich in dir, Lisa. Schön, dass du so offen geschrieben hast. Ich hab meine Diagnose durch Zufall 2018 in einer Reha bekommen, in der ich wegen Depressionen war. Ich bin jetzt 54 Jahre alt. Ich weiß, dass ich vor allem meine Jugend nur überstanden habe, weil ich eine Zwillingsschwester habe. Wir haben dasselbe Problem. Wir hatten auch z. T. durch Schüler fremder Klassen einiges auszuhalten, waren aber sehr gut in der Schule. In meinen jüngeren Berufsjahren, ich wurde sogar Kindergärtnerin, war das Leben noch einfacher. Ich war jung und mein Verhalten galt noch als niedlich, weil naiv. Aber je älter ich wurde, um so schwieriger wurde es. Die Arbeit mit den Kindern klappte, aber Kollegen und Familienmitglieder der Kinder überforderten mich. Es kam immer öfter zu Spannungen und ich wechselte mehrfach den Arbeitsplatz. Ich wollte nur so akzeptiert werden wie ich war und bin. Es gab aber immer jemanden, der das nicht tat. Ich litt psychisch darunter, dachte oft an Selbstverletzung und Schlimmeres. Durch ständige Arbeitsplatzwechsel verhinderte ich dies und konnte von vorn anfangen. Ich war zuerst sehr euphorisch, super fleißig, brachte mich überall ein. Aber die Anerkennung meiner Leistung hielt sich manchmal in Grenzen und die Euphorie verblasste. Dann ging das Spiel von vorne los. So hatte ich 13 verschiedene Einrichtungen durchlaufen. Ich wusste, das ich anders war. Aber ich verstand nicht, was nicht gut an mir war und ich konnte mir auch rein logisch nicht erklären, warum ich nicht so akzeptiert wurde, wie ich war. Ich akzeptiere jeden.
    2017, ich bekam einen heftigen depressiven Schub und war über 1 Jahr krank, wurde mir Psychotherapie verordnet und ich war zusätzlich 8 Wochen in einer Tagesklinik wegen der psychischen Probleme. Der Psychotherapeut diagnostiziert eine Angststörung zu den Depressionen. Aber erst in der Reha 2018 erkannte ein Arzt die Autismus-Spektrum-Störung. Von da an ging es mir etwas besser. Ich verstehe die Menschen zwar immer noch nicht, aber ich weiß jetzt, dass ich keine Schuld daran habe. Ich habe meinen Arbeitsplatz gewechselt und den Beruf ganz aufgegeben. Ich arbeite jetzt in der Verwaltung im öffentlichen Dienst und habe weniger Personen um mich. Aber auch hier gibt es schon kleine Probleme, weil ich Signale, Mimik und Gestik der Kollegen nicht verstehe und nicht entsprechend reagieren kann. Aber ich habe über meine Erkrankung gesprochen und den Wunsch geäußert, immer Probleme , die mich betreffen, anzusprechen. Auch müssen die Worte gewählt werden, die auch gemeint sind, da ich Ironie, Sarkasmus…nicht verstehe. Viele Verhaltensregeln habe ich durch Übung gelernt, obwohl ich sie nicht immer verstehe. Leider ist die Welt immer noch nicht bereit für uns. Kaum einer, außer Betroffene, kann sich vorstellen, wie anstrengend so ein Arbeitstag sein kann, wenn man immer sein Verhalten, seine Worte und Handlungen so kontrollieren muss, damit es nicht falsch verstanden wird oder aufdringlich wirkt. Ich mache immer zu viel, „versaue“ die Norm, bin zu schnell. Es ist sehr schwer, langsam zu arbeiten wenn es einem doch Spaß macht. In meiner Ehe hatte ich es auch nicht immer leicht, da mein Mann mit meinem Verhalten oft schwer umgehen konnte. Erst seit der Diagnosestellung zeigt er Verständnis, da er jetzt weiß, dass hinter meinem Verhalten keine böse Absicht steht.
    Ich habe zwar immer noch Kämpfe auszustehen, auf Arbeit und in der Familie, aber kann jetzt mehr Verständnis erwarten. Ich hoffe und wünsche mir, dass der jetzige Arbeitsplatz mein letzter ist und ich durchhalte.
    Ich möchte nicht nochmal schwer erkranken. 2016 wurde eine Krebserkrankung diagnostiziert und die rechte Brust abgenommen. Ich war psychisch so angeschlagen, dass ich froh über jede Erkrankung war, weil ich nicht zur Arbeit musste. Das soll mir nicht mehr passieren.
    Ich wünsche allen Betroffenen und Angehörigen viel Kraft und eine verständnisvolle Mitmenschen.

    1. Liebe Andrea, vielen Dank für den Einblick in Dein Leben und Deine Erfahrungen. Das ist ganz bestimmt sehr wertvoll für andere zu lesen, die in einer ähnlichen Situation sind. Ich wünsche Dir alles Gute und verständnisvolle Mitmenschen, Silke

  10. Danke, liebe Silke. Ich hatte eine so schnelle Reaktion auf mein Geschriebenes nicht erwartet. Ich beschäftige mich gerade intensiver mit dem Problem, weil ich 1. nächste Woche ein Gespräch mit meiner neuen Chefin habe, in dem mein Sozialverhalten zur Sprache kommt und 2. sich meine Zwillingsschwester jetzt in stationärer Psychotherapie befindet. Sie erzählt mir natürlich, wie es da für sie läuft, was mit ihr gemacht wird. Das Augenmerk wird durch die Ärzte nur auf die Arbeit und Arbeitsleistung gelenkt. Nicht einer kam bis jetzt auf die Idee, eine autistische Störung in Betracht zu ziehen. Und dabei ist es bei ihr noch viel offensichtlicher als bei mir. Sie hat größere Schwierigkeiten als ich, Emotionen zuzulassen und zu zeigen. Jeder Blinde müsste das sehen.
    Mich ärgert solche Inkompetenz. Eine richtige Diagnostik ist doch so wichtig. Sie muss ein Tagebuch schreiben, dass von den Ärzten gelesen wird. Nun riet ich ihr, all das aufzuschreiben, was ihr das Arbeiten und den Umgang mit anderen so erschwert. Ich hoffe, einem Arzt fällt das auf und er reagiert richtig.
    Als ich auf diese Seite traf und die Kommentare gelesen habe war ich so erleichtert, dass andere Menschen auch so sind wie ich und ich nicht allein bin mit meiner Art. Nicht, dass ich mich freue, dass sie die Erkrankung haben, ihr versteht schon…
    Ich wünsche allen Betroffenen und Lesern viel Glück und bleibt gesund.

    1. Ja, es ist an vielen Stellen noch unglaublich viel Aufklärung nötig. Ich wünsche Dir und Deiner Schwester von Herzen alles Gute!

  11. Ich nochmal. Wenn ich die vorherigen Kommentare so lese erkenne ich mich wieder und muss darüber lächeln.
    Die Anrede hat echt ihre Tücken, du oder sie vertausche ich gern mal. Meist eiere ich drumrum, so dass auf eine Anrede verzichtet werden kann. Auf Arbeit im Kindergarten konnte ich nicht die Eltern duzen, obwohl das gewünscht war. Die Eltern nahmen es mir zum Teil übel. Auch grüße ich immer zuerst, fühle mich wie ein Kind, obwohl ich zum Teil wesentlich älter als mein Gegenüber bin.
    Ich habe damit Probleme, mich als Mensch zu sehen. Andere dürfen Fehler machen, denn Menschen machen nun mal Fehler. Ich darf keine machen. Was bin ich dann? Irgendwie fühle ich mich nicht hierher gehörig, nicht in diese Welt. Am liebsten ein Raumschiff oder ein anderer Planet, nur ganz wenige Menschen, das reicht.
    Ich würde auch lieber in einem Archiv arbeiten und Akten sortieren, ich liebe Zahlen und die Mathematik, das wäre es. Natürlich bekomme ich nicht so eine Stelle, aber mit meiner neuen Arbeit bin ich schon näher dran.
    Ich finde es toll, dass es diesen Block noch gibt, obwohl die letzten Kommentare schon etwas zurückliegen. Danke dafür, liebe Silke, und für die Zeit, die du dir für das Lesen und Antworten nimmst. Schön, dass es dich gibt ( ich duze dich einfach mal, weil mir hier das „Sie“ nicht mehr passend erscheint).

    1. Liebe Andrea, ich finde das auch häufig schwierig, aber meistens löst sich das auf, wenn man einfach direkt nachfragt, ob „Du“ in Ordnung ist oder doch lieber „Sie“ oder umgekehrt :-))
      Danke fürs Mitlesen und Kommentieren :-)

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Das Forum plus ist der Mitgliederbereich von Ellas Blog

Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

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