Interview mit Mark: „In meiner Freizeit zähle ich keine Zahnstocher und lerne auch nicht das Telefonbuch auswendig.“

veröffentlicht im Juni 2017


Mark ist Autist und freiberuflicher Programmierer.
„Eine Anstellung fand ich nicht/nie, die meisten Arbeitgeber scheuen sich davor, Menschen mit besonderen Fähigkeiten einzustellen. Trotz bestem Abitur sollte es einfach nicht sein und studieren stand nicht auf meinem Lebensplan“, schrieb er mir.
Mich interessierten vor allem seine Erfahrungen aus der Schulzeit und seine jetzige Situation. Dazu durfte ich ihm einige Fragen stellen.

***

Mark, Du hast mir erzählt, dass Du in den 1980er Jahren Deine Autismus-Diagnose erhalten hast. Damals war das Wissen über das Thema Autismus noch nicht so umfassend wie heute. Hattest Du Glück, an jemanden zu geraten, der sich auskannte, oder wie kam es zu Deiner Diagnose?

Der Schulpsychologe, der auch gleichzeitig Vertrauenslehrer war, hatte wohl einen Verdacht, da ich im Schulalltag durchaus auffällig gewesen sein muss. Heißt, ich hatte einen höheren Verschleiß an Lehrern, da ich es problemlos schaffe, Menschen zu stressen. Sagt man. Ich habe 5+6 Klasse übersprungen, war so derart wissbegierig, dass ich immer weit voraus war und alles „aufsaugte“, was ich an Input bekam. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert.
Es kam zu einem Psychiatergespräch, kurz danach zu einem klinischen Gespräch. Direkt danach hatte ich das F84.5 Zettelchen in der Tasche. Ob ich also „Glück“ hatte, sei mal dahingestellt, denn MIT der Diagnose änderte sich die Sicht auf mich, dazu später mehr.

Wie erging es Dir in der Schulzeit? Unterstützung von Schulbegleitern gab es damals ja noch nicht. Welche Schwierigkeiten hattest Du und welche Strategien hast Du entwickelt, um zurechtzukommen?

Ich habe schon damals das gemacht, was ich noch heute praktiziere. Ich gehe nicht unter Menschen, meide Ansammlungen, habe keine Freunde, bewege mich nur im Netz sicher genug.
Durch die Diagnose war es damals so, dass die Klassenkameraden dann ein Opfer hatten, zumindest fühlte es sich so an. Ich war der Jüngste, aber gleichzeitig auch der Klügste, gemessen an den Leistungen und dem IQ Test, der damals gleich „mitgemacht“ wurde. Das uferte oft in Gewalt auf dem Schulweg aus, gerne auch auf dem Schulhof, wenn keiner hinsah.
Strategien? Jaein. Das einzige, was ich mache, ist Berieselung durch Musik. Ging damals nur eingeschränkt, ein Walkman war eben was anderes als ein iPod heute. Wird mir heute alles zuviel, setze ich tatsächlich meine Kopfhörer auf und gehe im Wald spazieren. Musikalisch bin ich dann bei Pink Floyd, mit deren Musik konnte ich mein Leben lang am meisten anfangen. Episch und beruhigend zugleich.

Wie hat Dein Umfeld (Eltern, Familie, Schule) auf die Diagnose reagiert?

Schlecht. Im Nachhinein betrachtet.
Meine Eltern haben mich ab dann wie einen Sonderling behandelt. Ich bekam in der Kindheit permanent Schläge, eben weil ich auffällig war, in vielerlei Hinsicht. Ab der Diagnose nahm das dann zu. „Du bist nichts, du hast nichts, du wirst nichts“, diese Worte hallen noch heute hin und wieder nach. War damals mein Credo. Aufgedrängt.
Ich zog wenige Monate danach die Reißleine und bin begleitet durch das Jugendamt ausgezogen. Meine Großmutter finanzierte mir eine „WohnKochKlo“ Wohnung, wie ich das nannte, parallel stand das Jugendamt alle vier Wochen in der Tür und schaute nach dem Rechten. Im Nachfass meine beste Entscheidung. Ich brach jegliche Kontakte zu meinen Eltern ab, wir haben uns nie wieder gesehen.

War die Diagnose eine Erleichterung für Dich?

Nein. Man wusste, „was man hat“, gleichzeitig wurde man überschüttet mit Informationen. Klar, die werden an vielen Stellen gut gemeint gewesen sein, aber es war zuviel, zumal sich vieles wie eine Bedienungsanleitung las. Ich stehe ja auf starre Regeln, auf Leitplanken, aber mir gegenüber empfand ich das als fragwürdig.

Inzwischen bist Du selbst Vater. Denkst Du, dass sich Deine „autistische Sicht“ auf die Welt auch auf die Erziehung Deiner Kinder auswirkt? Hast Du z.B. das Gefühl, dass Dir besondere Werte wichtig sind, weil Du Autist bist?

Ja. Werte und Normen sind mir tatsächlich sehr wichtig. Auf der anderen Seite lasse ich meine Kinder einfach Kinder sein. Die sollen unbeschwerter sein als ich. Ich fördere im Rahmen meiner Optionen deren Leistungen, gebe ihnen aber auch mehr als genügend Freiraum. Sie sollen selbstverantwortlich handeln dürfen. Etwas, was ich für ganz wichtig halte, schon weil mir da durchaus Grenzen gesetzt sind.
Unabhängig davon gibt es keinerlei „Gewalt“, selbst der „leichte Klaps auf den Po“, den viele Eltern scheinbar für ein probates Mittel halten, würde ich nie durchsetzen. Meine Kinder kennen die gängigen Werte wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, etc. DIE sind mir wirklich wichtig. Schon, weil sie mein Leben vereinfachen.

Wie geht es Dir heute? Brauchst Du Unterstützung in Teilbereichen Deines Lebens? Fühlst Du Dich von der Gesellschaft akzeptiert?

Klares „Nein“ zu letzterer Frage.
Ich benötige keine Hilfe, obwohl ich auch schon drei Mal in der Autistenambulanz war, das allerdings nur in totalen Ausnahmesituationen, wo ich wusste, dass ich mein direktes Umfeld überfordere.
Die Gesellschaft ist immer noch im RainMan Klischee gefangen. Fragen in diese Richtung zeigen dies immer wieder. Oder man wendet sich komplett von einem ab, sobald man erfährt, was genau ich habe. Kam auch schon mehrfach vor und ist total sinnlos. BIS dahin ging der Kontakt. Eingeschränkt, aber ging. Als man dann eben ehrlich war und seinen Asperger erläuterte, wenden sich Menschen ab.
Mag sein, dass das aus Berührungsängsten entstand. Ich vermag das nicht zu beurteilen. Wer sich dem allerdings nicht gewachsen fühlt, hat es dann nicht verdient, meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Es gibt schließlich für alles eine Lösung.

Was würdest Du Eltern autistischer Kinder gerne mit auf den Weg geben?

Lasst ihnen Freiräume. Ich sehe das immer wieder, dass Eltern dann ihre Kinder regelrecht einpacken. Vergleiche das gerne mit dieser „Ploppfolie“ die um Waren gepackt wird, damit diese nicht kaputt gehen können beim Versand. Damit tut man uns Autisten keinen Gefallen. Genau das Gegenteil passiert.
Lasst eure Kinder sich so entfalten, wie sie es für richtig halten, auch wenn das Ganze dann vielleicht in einer Richtung ausartet, die nicht geplant war. Wir sind nicht krank. Wir wollen nicht behandelt werden, als wenn wir „anders“ sind. Wir sind Menschen, wie ihr.

Ist Dir sonst noch etwas wichtig zu sagen?

Ich würde mir wünschen, dass die Gesellschaft endlich aufhört, in uns Dustin Hoffmann zu sehen. In meiner Freizeit zähle ich keine Zahnstocher und lerne auch nicht das Telefonbuch auswendig, auch wenn ich das durchaus könnte.
Ich habe Stärken und Schwächen wie jeder andere Mensch auch. Möchte aber eben deswegen, wie jeder andere Mensch behandelt werden.

Ganz herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen und alles Gute für Dich, lieber Mark.

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  1. Da ich zwischenzeitlich eine Nachfrage erhielt, und ich mir vorstellen könnte, dass dies ggf nochmal erfragt wird, möchte ich hier kurz Stellung beziehen. Also, die „Ploppfolie“ ist eine Art running gag geworden, nachdem ich meine Ehefrau bat, damit aufzuhören, dass sie mich „in Watte packe“. Da sie weiß, dass ich die Luftpolster-Verpackungsfolie so gerne bespiele, entstand dies als kleiner interner Spaß. Mir geht es halt darum, dass ich nicht zerbrechlich bin und auch nicht so behandelt werden möchte. Mein Bedarf an Unterstützung tendiert auch gegen Null.

    Ich bin, mit jetzt Ende 40, es schon gewohnt, mich im Alltag zurecht zu finden. Habe gelernt, mich unauffälliger zu verhalten, auch wenn das oft Kraft kostet und an die Nerven geht. Ich möchte keine Sonderbehandlung, möchte nicht behandelt werden, als sei ich behindert. Man erlebt so irrwitzige Sachen, wenn man den Mitmenschen eröffnet, dass man Autist ist. Ja, es soll sogar Menschen geben, die dann lauter mit einem sprechen, auch wenn das nicht wirklich irgendeinen Sinn ergibt.

    Bezogen auf „laßt eure Kinder einfach Kinder sein“ kann ich keinen wirklichen Rat geben. Ich bin da der falsche Ansprechpartner, da ich nur von mir ausgehen kann, und somit nicht die breite Masse darstelle. Anfängliche Unsicherheiten, die ich im jugendlichen Alter hatte, „verwuchsen“ sich im Laufe der Jahre. Glaube ich zumindest. Man wird selbstsicherer. Spielt seine Stärken irgendwann auch ein wenig aus, weil man sieht, dass Asperger auch eine Gabe sein kann, man sich positiv abhebt. Ging mir zumindest so und ich weiß auch von einer Handvoll anderer, dass es denen genauso erging.

    Fürsorge in der Kindheit ist sicher nett gemeint (auch wenn ich diese nicht erfuhr), aber ich kann mir vorstellen, dass es für viele einfacher ist, wenn der Freiraum eher größer als kleiner ist. Wenn man Hilfe benötigt, kann man dies immer noch kommunizieren. Anders herum wirkt aufgezwungene Hilfe wie eine Art „das schaffst du doch eh nicht“ und hemmt im Alltag.

  2. Wunderschön erzählt ! Vielen Dank!
    In meiner Kindheit und Jugend Zeit ging mir sehr ähnlich. Inzwischen bin ich Mutter von vier Kindern geworden, drei haben auch die Diagnose Autismus.Alles Beste für Dich und Deine Familie!

    1. Gerne. Wenn es Neurotypischen/Normalen Menschen hilft, uns etwas besser zu verstehen, sehe ich da kein Problem, ein Stück weit von mir zu erzählen. Meine Kinder sind nicht „betroffen“, da hatte ich durchaus etwas Sorge. Für beide ist es auch völlig in Ordnung, dass ich so meine Macken habe und nicht der Liebling aller sein möchte.

  3. Sensationeller Text!! Und, für mich als Mutter eines Asperger-Autisten
    Balsam für die Seele…weil ich dadurch schon wieder ein bisschen mehr Einblicke bekomme, wie es sich eventuell im Erwachsenenalter darstellt bzw. darstellen kann. Wir, als Mütter von heranwachsenden Autisten, sind froh für jegliche Beiträge dieser Art.
    Vielen lieben Dank, für die offenen Worte!

  4. Finde ich super geschrieben …ich habe einen Sohn mit Asperger Autismus …die heutige Gesellschaft ist damit überfordert …
    In der
    Schule ist er der Aussenseiter .Manchmal Frage ich mich trotzdem wer dort nicht in geordneten Bahnen läuft …die Lehrer sind derart unfähig …mittlerweile haben wir uns Rechtsbeistand geholt …
    Schulwege sind für Ihn auch der absolute Horror…er wird gemobbt mit allen Facetten die das Leben bietet …?

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