Gastbeitrag:
Mein Name ist Susanna, ich werde meistens aber Susa genannt, bin verheiratet und habe eine Tochter, Ramona (2,5 Jahre). In unserer Patchworkfamilie bin ich die älteste Tochter. Da gibt es noch meine Schwester Pia, die auch aus Mamas erster Ehe stammt, so wie ich, dann Marie, die Mamas neuer Ehemann Thomas in die Familie mitgebracht hat. Simon und Sina, als gemeinsame Kinder von Mama und Thomas, machen die Familie schließlich komplett.
Als Simon geboren wurde, war ich schon 16 Jahre alt und bei Sina 18, daher habe ich von Anfang an sehr viel von ihrer Entwicklung mitbekommen.
Bei Simons Geburt und in den ersten Jahren, war noch nicht bekannt, dass Simon Asperger-Autist ist. Dass etwas anders, als bei anderen Kindern ist, war allerdings früh klar. Er konnte lange nicht sprechen. Musste sorgsam Buchstaben für Buchstaben einzeln aussprechen lernen und schließlich zusammenfügen. A-F-F-E, E-V-A…
Leider wurde Sina, mit einer chronischen Hormonerkrankung geboren.
Diese bringt viele Krankenhausaufenthalte mit sich und anfangs auch große Ängste über ihre gesundheitliche Entwicklung. Auch heute, sechs Jahre später, erschwert Sinas Krankheit manchmal den Alltag, zum Beispiel steht noch mindestens eine große Operation bevor, wo Mama und Sina auch länger im Krankenhaus bleiben müssen und Simon somit öfters auch von anderen Familienmitgliedern betreut wird.
Es ist nicht einfach, wenn man sich als Mutter beziehungsweise als Eltern, auf zwei Kinder mit besonderen Bedürfnissen einstellen muss. Außerdem, ist es gerade mit Verhaltensauffälligkeiten, wie bei Simon oft ein langer Weg bis zur Diagnose. Diese lautete in Simons Fall Asperger-Autismus.
Für mich persönlich war es durch die Diagnose leichter zu verstehen, was in ihm vorgeht, wenn es zu einem Konflikt kommt und warum es überhaupt so weit kommt, bei oftmals banalen Dingen.
Simon sieht man seinen Autismus nicht an, dies verwirrt manchmal. Viele Menschen nehmen die Tatsache, dass Simon manchmal nicht anders kann, auch nicht hundertprozentig ernst. Es ist auch schwer zu verstehen.
Mir selber geht es oft so, wenn ich auf Simon aufpasse, dass ich in alte erzieherische Muster zurückfalle und versuche, ihn mit Konsequenzen oder Ärger zu bestrafen. Das tut mir im Nachhinein immer leid, weil ich eigentlich weiß, dass er manchmal wirklich nicht aus seiner Haut (rw) kann. Aber es ist schwer, zu differenzieren, ob du es gerade einfach nur mit einem unartigen, sturköpfigen Kind zu tun hast, oder ob ihm sein Autismus keinen anderen Ausweg mehr bietet.
Wenn Simon sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann konzentriert er sich mit all seiner Energie plötzlich nur noch auf diesen einen Wunsch, dieses eine Bedürfnis, und sieht wie mit Scheuklappen vor den Augen, plötzlich kein links und rechts mehr und in diesen Situationen hilft leider kein Ermahnen, kein überhebliches „Es ist eben so“ oder „Das geht doch wohl nicht, wo kommen wir denn da noch hin?“
Du kannst ihm nur entweder seinen Willen erfüllen, oder mit viiiiiiel Geduld versuchen, sanft vom Thema abzulenken, neuen Raum oder eine neue Situation zu schaffen.
Wenn dann aber die Wünsche anderer Menschen, wie der kleinen Schwester oder, wenn ich aufpasse, meiner kleinen Tochter, auch genau zu diesem Zeitpunkt erfüllt werden müssen, ist es sehr schwierig, sich die nötige Zeit für Simon zu nehmen und sich nur auf ihn zu konzentrieren. Da haben es die Lehrer in der Schule und Erzieher im Hort sicher auch oft schwer.
Fakt ist meiner Meinung nach, dass Simon jeder Konflikt, jeder Zusammenstoß sehr viel Energie kostet und es ihm sicher keine Freude bereitet, wenn er selbst von seinen Bedürfnissen überrollt wird.
Leider machen Veränderungen Simon große Schwierigkeiten. Sei es ein Lehrerwechsel in der Schule, eine neue Umgebung zum Beispiel im Urlaub bei Verwandten, andere Bezugspersonen oder wie dieses Jahr auch eine neue Klasse. Es braucht sehr viel Kraft, sich nichts anmerken zu lassen, aber zu Hause sieht man oft, dass er einfach nicht mehr angepasst und ruhig bleiben kann.
Bilder von Städten oder Zügen zu zeichnen, gibt Simon ein bisschen Entspannung und mich faszinieren seine Detailgenauigkeit und seine Ausdauer.
Außerdem liebt er Babys und Kleinkinder, diese beruhigen ihn sogar, wie er selbst sagt.
Des Weiteren ist Simon entgegen dem Vorurteil, dass Autisten angeblich keine Emotionen zeigen, sehr sensibel. Ich glaube auch, dass er alle Emotionen in seinem Umfeld sehr intensiv wahrnimmt und diese sich auch manchmal in seinem Verhalten widerspiegeln.
Am Schönsten ist das natürlich, wenn er sich über etwas freut, das kann er nämlich auch sehr gut zeigen.
Natürlich steckt da jetzt viel Interpretation meinerseits drin und manche Menschen sehen Autismus generell anders und manche würden vielleicht auch Simons Situation anders beurteilen.
Ich aber gebe hiermit einfach einen kleinen Einblick in Simons Welt aus meiner Perspektive. Und die Welt ist eben bunt und voller Vielfalt und kein Autist gleicht dem anderen zu hundert Prozent:
Mein Bruder ist Autist,
is okay, weil normal eh out ist.
Er liebt „Zurück in die Zukunft“
und sucht beim Zeichnen Zuflucht.
Wer sagt, dass Leben ein Gesetz ist,
du wenn du anders, nicht okay bist?
Bunt ist eben keine Einheit,
wenn wir alte Muster löschen,
gibt’s vielleicht ein bisschen Freiheit.
Mein Bruder ist Autist,
is okay, weil normal eh out ist.
Er liebt „Zurück in die Zukunft“
Und sucht beim Zeichnen Zuflucht.
Züge und Technik sind meines Bruders Fachgebiet,
hört am liebsten Ö3 und kennt ein jedes Lied,
doch was er nicht kann, ist sich anzupassen,
pass auf und hüte dich, ihn anzufassen.
Mein Bruder ist Autist,
is okay, weil normal eh out ist.
Er liebt „Zurück in die Zukunft“
Und sucht beim Zeichnen Zuflucht.
Wir alle könnten glänzen,
fangen wir heute damit an.
Wir können einfach ergänzen,
was der andere nicht so gut kann.
***
Ganz herzlichen Dank, liebe Susa für diesen Einblick in Euer Leben. Es ist toll, dass Du als Schwester diese Zeilen geschrieben hast und uns Deinen Bruder näher bringst. Man spürt in jeder Zeile, wie sehr Du ihn liebst und verstehen möchtest. Alles gute für Deine große Familie :-)
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zum Weiterlesen:
Wie man Wutanfälle und Meltdowns auseinander hält
Paula im Interview: meine Freundin hat einen autistischen Bruder
Hallo Susanna,
in dieser Aussage von dir kann ich mich gut wiedererkennen:
„Aber es ist schwer, zu differenzieren, ob du es gerade einfach nur mit einem unartigen, sturköpfigen Kind zu tun hast, oder ob ihm sein Autismus keinen anderen Ausweg mehr bietet.“
Das kann man tatsächlich nicht immer klar auseinanderhalten, da gebe ich dir aus eigener Erfahrung absolut Recht. So sehr ich unter meinem Autismus und seinen Folgen gelitten habe: Auch ich war als Kind hin und weder frech, habe Mist gebaut, Streiche gespielt und meine Grenzen ausgetestet, so wie alle Kinder das tun. Das kann ich mir heute eingestehen, ohne dass es meinen Autismus (und die damit verbundenen Probleme) relativiert.
Für mich selbst kann ich heute im Rückblick relativ gut unterscheiden, ob mein Verhalten im Autismus begründet lag oder ob aus purem Übermut irgendeinen Blödsinn angestellt habe. Die Frage ist nur: Wie sollen es nicht-autistische Erwachsene auseinanderhalten, ob ein Kind gerade vorsätzlich seine Grenzen austestet, oder ob es durch seinen Autismus bedingt nicht anders kann?
Ich hätte selbst gerne eine bessere Antwort, aber ich fürchte, es gibt kein Patentrezept, um diese Unterscheidung in jeder denkbaren Situation mit absoluter Sicherheit zu treffen. Die Gefahr, dass man in die eine oder andere Richtung falsch reagiert (entweder zu streng oder zu inkonsequent) lässt sich nie ganz ausschalten. Man kann nur versuchen, sich dieses Dilemma bewusst zu machen, genau hinzusehen und sein eigenes Verhalten als Erwachsener immer wieder zu hinterfragen.
Ich weiß, dass das leichter gesagt ist als getan. Selbst bei meinem 11-Jährigen Neffen, der ebenfalls Asperger-Autist ist, bin ich mir bis heute nicht immer sicher, wann ich Verständnis für ihn zeigen muss und wann ich auch mal sauer auf ihn sein darf. Man kann im Zweifel nur nach bestem Wissen und Gewissen handeln, mehr bleibt einem schlussendlich nicht übrig. Ein Restrisiko, dass man eine Situation auch mal falsch einschätzt, wird aber immer bleiben – und auch damit, dass man dem Kind vielleicht nicht immer und in jeder Situation gerecht werden kann, so gerne man das auch möchte.