Ihr kennt das ja alle selbst nur zu gut. Manchmal läuft alles gut und wir freuen uns über die positiven Entwicklungen unserer autistischen Kinder. Dann plötzlich, gefühlt wie aus heiterem Himmel (rw), ist alles chaotisch und Situationen eskalieren. Wir verstehen die Welt nicht mehr und versuchen unseren Kindern zu helfen, wieder zur Ruhe zu kommen.
Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Über die Gefahr, nach positiven Erlebnissen immer noch mehr und mehr zu wagen und zu unternehmen bzw. die Anforderungen weiter hoch zu halten, hatte ich bereits im Beitrag Auch positive Entwicklungen kosten Kraft – Autismus und Energiemanagement geschrieben.
Heute möchte ich auf ein anderes Detail hinaus. Wenn wir lernen darauf zu achten, kann es helfen, Eskalationen frühzeitiger vorzubeugen: und zwar den Aktionsradius unserer Kinder.
Wie sich der Aktionsradius im Urlaub veränderte
So richtig bewusst wurde es mir in unserem letzten Urlaub, der zweigeteilt war: eine Woche überwiegend zu dritt in aller Ruhe in einem Haus in Norwegen und eine Woche mit neun Personen in einem Haus in Dänemark.
Klar, es war vorherzusehen, dass die zweite Woche viel schwieriger werden würde – mehr Geräusche, mehr Gewusel, mehrere Bedürfnisse, die unter einen Hut zu bekommen (rw) sind. Aber wir dachten, dass es klappen könnte, da wir gute Rückzugsmöglichkeiten hatten. Am Ende brachen wir die zweite Woche frühzeitig ab. Aber der Reihe nach.
Im Haus in Norwegen angekommen, suchte sich Niklas gleich ein Lieblingsplätzchen auf einem kuscheligen Sofa mit Wand im Rücken, von dem aus er alles wunderbar beobachten konnte. Er machte sich nach und nach mit der Umgebung vertraut, den Geräuschen, den Gerüchen und bekam Tag für Tag mehr Sicherheit in dieser neuen Umgebung.
So vergrößerte sich sein Aktionsradius Stück für Stück bis er nach etwa vier Tagen alles erkundet hatte, was es an Zimmern, Winkeln, Ecken und Terrasse zu entdecken gab. Es war sehr schön zu sehen, dass er sich stetig ein Stückchen weiter vorwagte und sich dabei auch wohlfühlte. Das Tempo überließen wir ganz ihm.
Als wir in Dänemark ankamen, war alles viel aufregender, andere Personen waren da und Niklas wollte gleich alles sehen – auf der Suche nach einem neuen Lieblingsplatz. Den fand er auch ziemlich schnell, wieder ein Sofa, von dem aus er vieles beobachten konnte. Auch von hier aus wagte er sich in andere Bereiche vor und erkundete Teile des Hauses. Dabei machte er allerdings die Erfahrung, dass allerhand Unerwartetes passieren konnte, wie Geräusche oder Begegnungen, die nicht angekündigt waren.
Man kann auch sagen – sein Aktionsradius überschnitt sich natürlich bei mehreren Personen viel schneller mit dem Aktionsradius anderer Personen.
Das führte dazu, dass er sich Stück für Stück zurückzog und nach zwei Tagen nur noch in seinem Zimmer sein wollte – ein Rückzugsbereich, der ohne wenn und aber akzeptiert wurde und in dem es eben keine Überschneidungen gab. Dennoch stieg die Unzufriedenheit und es gab mehr und mehr Aggressionen.
Leider lief das völlig konträr zu der Erfahrung aus Norwegen und da immer einer von uns Eltern bei Niklas sein muss, saßen wir schließlich abwechselnd mit ihm in seinem Zimmer und entwickelten nicht wirklich Urlaubsgefühle.
Ab und zu wollte Niklas wieder zu den anderen, aber zwischen „diesen Plan bzw. Mut fassen“ und dem Ankommen passierten dann wieder Kleinigkeiten (ein knarzender Boden, die Kaffeemaschine, Klappern aus dem Badezimmer,…), die für ihn in diesem Moment eben keine Kleinigkeiten waren, sondern ihn den Rückzug antreten ließen.
Wir beschlossen gemeinsam mit ihm, früher als geplant nach Hause zu fahren und als wir Niklas das sagten, blühte er wieder auf. Aus einem „Warten auf die Abreise“ oder „wie lange ich hier wohl noch bleiben muss“ wurde ein vorfreudiges „wir reisen ab“.
Was das für andere Lebensbereiche bedeuten kann
Warum ich euch das so genau erzähle?
Ich denke, dass sich das auf andere Lebensbereiche übertragen lässt: Zuhause, Kita, Schule, Besuche, Arbeit, Wohnen…. die Art und Weise, wie sich der Aktionsradius unserer Autistinnen und Autisten vergrößert oder verkleinert kann ein Indiz dafür sein, ob man auf dem richtigen Weg ist.
Selbstverständlich ist das immer im Kontext mit vielen weiteren Faktoren zu sehen, aber mir wurde klar, dass es ein Teilbereich ist, den wir und andere Bezugspersonen bewusst beachten können, bevor Situationen eskalieren.
Natürlich bedeutet das nicht immer, dass man abreist bzw. Brücken komplett abbricht, wie wir das mit dem Ferienhaus gemacht haben. Aber es könnte dazu beitragen, sich aktiv Gedanken über Rahmenbedingungen zu machen, die womöglich gerade nicht passen. Und zwar bevor es zu anderen unschönen Zwischenfällen kommt, die ja häufig der letzte Ausweg für unsere Kinder sind, wenn sie sich nicht adäquat mitteilen können.
Vielleicht hilft dieses kleine Mosaiksteinchen ein bisschen weiter, hin und wieder Situationen zu entschärfen oder zu verändern. Eine vermeintliche Kleinigkeit, die helfen kann und oft nicht beachtet wird. Ich wünsche es euch sehr.
Zum Weiterlesen:
Auch positive Entwicklungen kosten Kraft
Barrierefreiheit für Autistinnen und Autisten
Welche Rahmenbedingungen Autisten und vielen anderen Schülern helfen
Onlinekurs: Autismus und Übergänge gestalten
Onlinekurs: Autismus und herausforderndes Verhalten