Das Thema Wahrnehmung und die damit häufig verbundene Reizüberflutung ist zentral im Bereich Autismus. Auch ich habe das bereits in etlichen Beiträgen aufgegriffen, Heute erklärt Nanna als Autistin, wie es sich für sie anfühlt und was helfen könnte – eine unschätzbare Ressource, die Innensicht zu erfahren. Ganz herzlichen Dank, liebe Nanna.
Gastbeitrag von Nanna Lanz
©Copyright: Nanna Lanz. Ich weise ausdrücklich auf das Urheberrecht (hier erläutert) der Gastautorin hin.
Wahrnehmungsbesonderheiten können zur Reizüberflutungen führen
Oberflächlich fällt oftmals das von der „Norm“ abweichende Verhalten bei Autistinnen und Autisten auf, die Ursachen sind in der Regel für Außenstehende unsichtbar.
Autismus ist meist von Wahrnehmungsbesonderheiten geprägt, diese können individuell sehr verschieden ausgeprägt sein.
- oft hochsensibel gegenüber Sinneswahrnehmungen, das heißt, viele AutistInnen nehmen Eindrücke durch die Sinne intensiver wahr.
- durch die Überempfindlichkeit kann es zu einer Reizüberflutung kommen, wenn zu viele Sinneseindrücke, gleichzeitig bewusst verarbeitet werden müssen.
- Reize werden weniger ausgefiltert und strömen somit unsortiert in das Gehirn. Somit wird zu viel auf einmal bewusst wahrgenommen. Reize die andere automatisch und unbewusst verarbeiten, müssen also bewusst verarbeitet werden.
- in manchen Fällen kann auch eine Unterempfindlichkeit gegenüber Reizen vorliegen oder eine Kombination aus Über – und Unterempfindlichkeit gegenüber Sinneseindrücken in verschiedenen Sinneskanälen.
- Sinneseindrücke werden zuweilen zu schnell oder verzögert wahrgenommen, auch eine Mischung aus beidem ist möglich.
- Zuweilen können die Reize nicht sinnvoll miteinander verknüpft werden, oder die Eindrücke geraten durcheinander und können nicht mehr getrennt werden
Folgen der veränderten Wahrnehmung und Reizüberflutung (Overload) können sein:
- Chaos im Kopf, Orientierungslosigkeit, Ohnmachtsgefühle, und Schmerz führen zu Panik und Überforderung. Es kommt also zu einem Overload durch Reizüberflutung, der zu einem Meltdown und/oder Shutdown führen kann.
Wie sich ein Overload für mich als Autistin anfühlt
Ein Overload fühlt sich an, als ob plötzlich alles um einen herum eine verschwimmende, flimmernde, unwirkliche, chaotische mal fluffige mal zähe Masse ist, in der man schwimmt.
Man fühlt sich wie benebelt und kann das weder fassen noch einordnen und nicht mehr klar denken. Man verliert die Orientierung und fühlt sich nicht mehr real. Man verliert das Körpergefühl.
Im Kopf fühlt sich nun alles bunt und durcheinander an. Es ist mitunter etwas so, als ob sich die Umgebung in einen surrealen 3 D Film verwandelt. Man verschmilzt langsam mit der Umgebung und beginnt sich aufzulösen, und trotz des Verschmelzens ist es wieder so, als ob man woanders getrennt von dieser Welt sei, irgendwie ein verlorener Fremdkörper der da nicht rein passt in diesem undefinierbaren Gebilde.
Die Empfindungen vermischen sich, so dass man z.B. plötzlich auch Geräusche als Masse wahrnimmt und die verschiedenen Empfindungen eine undefinierbare Masse sind aus Gerüchen, Geräuschen, Farben usw. und man das alles dann schwer auseinanderdividieren kann.
Insgesamt fühlt es sich an wie Kontrollverlust, gezieltes Denken und Handeln werden schwierig.
Oftmals gestaltet sich die Kommunikation zwischen Kopf und Körper als schwierig. Die Koordination von Handlungen kann sich dadurch als schwierig gestalten. Bei einem Overload verstärkt sich das noch
Wie fühlt sich ein aus einem Overload resultierender Meltdown an?
Man fühlt Ohnmacht. Man kann nicht mehr denn man ist überfordert. Alles um einen herum ist nun zu viel.
Man will kein Wort mehr hören, keinen zusätzlichen Reiz. Wenn dann trotzdem noch etwas auf einen eindringt oder etwas Unvorhergesehenes passiert, kommt absolute Hilflosigkeit auf. Denn man kann das nicht mehr aufnehmen. Das Gehirn ist bereits überfüllt mit Reizen.
Das eigene Verhalten ist nun nicht mehr steuerbar. Man braucht Schutz und will allem entfliehen. Es ist, als ob sich der Kern des eigenen Selbst aufgelöst habe. Man ist im Überlebensmodus, und versucht nur noch durchzuhalten.
Urreflexe wie Starre, Flucht oder Angriff können nun ausgelöst werden.
Es handelt sich um keinen Wutanfall, man kann einfach nicht mehr.
Wie fühlt sich ein Shutdown an?
Beispiel: Man hört gleichzeitig mehreres um sich herum sehr scharf, wenn man dann auch noch etwas sagen soll, dann hört man plötzlich seine eigene Stimme aus dem Gewirr an Geräuschen nicht mehr heraus.
Das bunte Gewirr im Kopf wird plötzlich ausgeschaltet. Es wird schwarz, dann ist es wie ein Blitz im Kopf. Man kann nicht mehr sprechen und nichts mehr wahrnehmen. Man ist ausgeschaltet.
Das kann zur völligen Erschöpfung und zum Zusammenbruch führen. Es kann Tage andauern sich von diesem Zustand zu erholen.
Was kann man als Außenstehender in der akuten Situation tun?
- Reize aus dem Weg schaffen
- keine zusätzlichen Reize schaffen indem man z.B. auf den Betroffenen einredet
- Kissen und (schwere) Decke bringen
- evtl. Zelt oder Höhle bauen, in die sich der Betroffene verkriechen kann
- evtl. feste Umarmung einer sehr engen Bezugsperson
- ansonsten nur anfassen oder eingreifen bei Selbst- oder Fremdverletzung
- viel Ruhe und Zeit lassen
Gefühle, die ich als Autistin währenddessen habe
Oftmals ist die kognitive Empathie beeinträchtigt, das heißt, das Erkennen von Mimik, Gestik und Körperhaltung erfolgt nur eingeschränkt. Dabei ist jedoch die emotionale Empathie in vielen Fällen übermäßig ausgeprägt. So kann ein Gefühls-Overload (ist etwas anderes als ein Overload durch Reizüberflutung, Zustände können getrennt oder in Kombination auftreten) oder ein Gefühlschaos entstehen.
In vielen Fällen werden Gefühle mit Erinnerungen verbunden (autistisches emotionales Elefantengedächtnis). Orte und Personen werden z.B. mit bestimmten Gefühlen verknüpft. AutistInnen ent-emotionalisieren Erinnerungen bei weitem weniger als Neurotypische. Dabei können hochemotionale Zustände auftreten, als hätte sich die Begebenheit erst kürzlich ereignet.
Zuweilen können dann die Gefühle anderer nicht wirklich von den eigenen Gefühlen getrennt werden.
Durch diese andere Wahrnehmung und abweichende Gefühle kommt schon früh das Gefühl hoch, anders zu sein. Auch nimmt man die Erwartungshaltung der Umwelt wahr. Zustände wie Angst, Ohnmachtsgefühle, Selbstzweifel und Druck kommen auf.
Masking – das Gefühl, sich anpassen zu müssen – Gefahr eines Burnouts
Nimmt man die Erwartungshaltung, Enttäuschungen und die negativen Rückmeldungen der anderen auf, kann es zu dem Gefühl kommen, sich anpassen zu müssen. Dies kann zum sog. Masking führen.
Man versucht dabei, die anderen zu kopieren, um sich anzupassen und nicht ständig aufzufallen.
Masking ist äußerst ungesund und kann über die Jahre ausgeübt zu schweren Schäden wie autistisches Burnout führen.
Zustände wie Overload, Meltdown und Shutdown sind gefährliche Zustände, diese können langfristige Folgen und körperliche sowie psychische Schäden der Gesundheit hervorrufen. Eine der möglichen Folgen ist ein autistisches Burnout.
Da AutistInnen Zustände der Überforderung gewohnt sind, ist ein autistisches Burnout meist heftiger als ein Burnout bei Neurotypischen. Fähigkeiten können dadurch auch ganz verloren gehen. Deshalb sollten solche Zustände bereits im Vorfeld vermieden und Anzeichen dafür individuell erkannt werden.
Vorzeichen eines Overloads durch Reizüberflutung
Die Vorzeichen können sehr individuell sein. Der Betroffene und sein Umfeld sollten erlernen, solche Anzeichen zu erkennen um rechtzeitig einzulenken, damit diese Zustände gar nicht erst auftreten.
- starrer Blick
- Herzklopfen
- Schweißausbruch
- Hyperaktivität
- motorische Stereotypien
- Mutismus
- Dissoziation
- aggressive Durchbrüche
Tipps für das Vorbeugen von Overload, Meltdown und Shutdown
Um kritischen Zuständen vorzubeugen, ist ein den Bedürfnissen angepasstes Umfeld ein gutes Mittel. Dabei sollte die besondere Wahrnehmung, daraus resultierendes anderes Kommunikations- und Interaktionsverhalten, anderes Lernen und die andere Wahrnehmung von Gefühlen berücksichtigt werden.
- Verständnis für die individuellen Bedarfe der AutistInnen und echtes wertschätzendes Interesse an der Persönlichkeit der Betroffenen
- Unterstützung in der Kommunikation, die eigenen Bedürfnisse zu verbalisieren
- Unterstützung bei der Akzeptanz der eigenen Bedürfnisse
- Ein reizarmes Umfeld schaffen z.B. separaten Raum in der Arbeit und Ruheraum in Schule, Sichtschutz, Trennwände
- Alle Sinne abfragen z.B. zu laut? Lüften wegen Geruch oder Temperatur? Heizung rauf/runter? Licht dämpfen oder ausschalten? Rollos/Vorhänge zuziehen? Störende Geräusche?
- Sicherheitsatmosphäre schaffen, z.B. Triggermöglichkeiten kurz abfragen wie: stört etwas im Raum? Wo möchte der Betroffene sitzen?
- Korkfußboden zur Schalldämmung
- Planbarkeit, Vorhersehbarkeit sicherstellen (W-Fragen, Wer? Wo? Was? Warum?)
- Berechenbares Verhalten; Personen mit emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen sind deshalb schwer kompatibel mit AutistInnen.
- Strukturierung z.B. TEACCH-Ansatz
- Atemübungen, Entspannungstechniken und Meditation
- Eltern als Experten und Anwälte für das eigene Kind anerkennen, wenn sie sich in dieser Rolle sehen
- Kommunikation: klar, wahr, rar
- Hintergrundgeräusche vermeiden, kein paralleles sprechen mehrerer Personen gleichzeitig, zu schnellen Sprecherwechsel vermeiden
- Hilfsmittel nutzen bzw. zur Verfügung stellen z.B. Lärmschutz-Kopfhörer, Sonnenbrille
- Genügend Zeit einräumen
- Bei Bedarf Körperführung als Ersatz für eingeschränkte Imitation (z.B. Affolter Konzept)
- Erläuterungen visuell anbieten
- Akzeptanz für die Routinen der Betroffenen
- Selbstvertrauen stärken (Lob, Wertschätzung, Anerkennung, „Du darfst so sein wie du bist!“)
- Spezialinteressen wertschätzen und nutzen
- Orientierung: Raumschilder, Raumplan, Begleitung anbieten
- Sanddecken
- Aufblasbare Westen
Zum Weiterlesen:
Overload, Meltdown, Shutdown – was ist das?
Wenn Orte und Personen unverrückbar mit Assoziationen verbunden sind
Autismus – eher ein Zuviel als Zuwenig an Gefühlen
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