Warum es die Frühlingsgefühle dieses Jahr besonders schwer haben

veröffentlicht im März 2022


Frühling ist bei den meisten Autistinnen und Autisten nicht unbedingt die liebste Jahreszeit. Natürlich kann man das nicht verallgemeinern, aber ich weiß von vielen, die – genauso wie Niklas – erhebliche Probleme haben. 
Das sind wir eigentlich schon gewohnt – aber dieses Jahr ist es besonders schwer und vielleicht geht es euch ja ähnlich.

Quelle: pixabay User braetschit, vielen Dank!

Autismus und Frühling

Wie schon erwähnt, ist der Frühling für viele ohnehin schwierig. Die Sonne scheint wieder viel heller, die Vögel zwitschern, Menschen arbeiten mit Sägen und Rasenmähern in ihren Gärten, mehr Leute auf den Straßen, mehr Kindergeschrei, mehr von allem irgendwie und das muss die Wahrnehmung erstmal verkraften.

Bei uns sind wieder vermehrt die Vorhänge zugezogen und die Rückzugsmöglichkeit muss immer im Blickfeld sein, wenn wir uns nach draußen bewegen und wir sprechen etwas leiser.
In dieser Zeit, die Anforderungen etwas zurückzuschrauben und vermehrt für Pausen und Rückzug zu sorgen, ist sehr hilfreich. Allein dieses Verständnis dafür zu enwickeln und auch andere darüber aufzuklären, warum manches zur Zeit nicht geht oder nur langsamer klappt, wirkt manchmal bereits entspannend.
Wenn wir unsere Erwartungen verringern und nicht noch unnötig Druck ausüben und für die notwendigen Rahmenbedingungen sorgen, wird es für alle Beteiligten angenehmer.

Ernüchterung und Enttäuschung, was die Pandemie betrifft

Ich weiß, das will niemand mehr hören, aber es gehört hierhin, wenn es darum geht, dass es unbeschwerte Frühlingsgefühle dieses Jahr irgendwie schwer haben.
Die Hoffnung, dass nun alles gut und wieder einfach und „normaler“ wird, die schwindet gerade wieder. Die Infektionszahlen sind aktuell in die Höhe geschnellt, Schuldzuweisungen hier und da, unterschiedlicher Umgang mit Regeln (lassen, lockern, veschärfen), es scheint ein Never-ending-Thema zu sein und viele Familien sind nicht einfach nur genervt, sondern schon längst am Ende ihrer Kräfte.

Während manche schon fast aus Trotz versuchen, eine Normalität „herbeizuleben“, ist es Familien mit chronisch kranken und behinderten Angehörigen z.T. nicht möglich, daran nur zu denken. Sie sind auf die Solidarität, den Schutz durch andere angewiesen – nur ist dieser leider immer noch nicht ausreichend vorhanden.

In den letzten beiden Jahren habe ich in einigen Beiträgen ausführlicher darüber geschrieben.

Und dann dieser schlimme Krieg

Auch darüber möchte hier vielleicht nicht jede/r lesen, aber er gehört zu unserer Realität dazu und wie ich neulich im Newsletter schon schrieb: Autistinnen, Autisten und ihre Familien leben eben nicht in einer anderen Welt, sondern mittendrin. Zum Teil sogar buchstäblich: Man will und kann sich gar nicht vorstellen, wie es AutistInnen im Kriegsgebiet und auf der Flucht ergehen mag.

Dieses Thema legt sich wie ein Schleier über alles, wir sind entsetzt, traurig, fühlen uns ohnmächtig, haben Angst. Wir fühlen und leiden mit. Und ich denke, hier dürfen und müssen wir aufpassen, um für uns und unsere Familien weiterhin da sein zu können.
Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, ob ich eigentlich weiter arbeiten, weiter Kurse verkaufen, weiter Spaß haben, weiter lachen darf. Darf ich das alles? Und ich habe mich mit anderen ausgetauscht, die von ähnlichen Fragen wach gehalten werden. Es hat etwas geholfen, mit diesen Zweifeln an dem, was wir tun können und vielleicht nicht mehr tun dürfen, nicht allein zu sein.

Es gibt sicherlich nicht den einen Weg, mit alledem umzugehen. Wir sind alle so verschieden, haben unterschiedliche Ressourcen, materieller und mentaler Art, auf die wir zurückgreifen können, unterschiedliche Lebenssituationen, sehr unterschiedliche autistische Kinder und Angehörige.
Dies alles spielt mit hinein in das, was wir tun können und auch nicht können, weil es niemandem hilft, wenn wir uns selbst auch noch fertig machen und dann nicht mehr in der Lage sind, anderen zu helfen.

Wie gesagt, es ist verschieden und in seiner Verschiedenheit absolut ok, wie und was jede und jeder für sich entscheidet. Ich für mich habe entschieden, dass es gut und wichtig ist, dass meine Arbeit hier weitergeht. Unsere Kinder brauchen uns und wenn wir unser Umfeld, unser Leben stabil halten, sind wir auch am ehesten in der Lage, anderen etwas von unserer Kraft und von unseren Ressourcen abzugeben. Geleitet wird mein Tun schon immer von dem Ziel, Mut zu machen, Perspektiven aufzuzeigen, Ressourcen aufzudecken und lösungsorientiert zu denken. Auch Selbstwirksamkeit ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was ich weitergeben möchte, um aus Abhängigkeiten und Ohnmacht herauszukommen. Gerade jetzt braucht es eine Gemeinschaft, die u.a. an diesen Werten und Zielen festhält, um dann andere stützen zu können.

Eine weitere Art, mit alledem umzugehen und zurechtzukommen, ist etwas zu tun, aus der Ohnmacht herauszugehen und für einzelne Menschen einen Unterschied zu machen. Das können Geldspenden, Sachspenden, Anbieten von Unterkünften, Unterstützen von Projekten mit ehrenamtlicher Arbeit und vieles mehr sein. Und auch hier gilt wieder: jede und jeder wie er kann.

Die Mutter eines autistischen Kindes mit Pflegegrad 4 sagte mir im Elterncoaching, sie hätte ein unglaublich schlechtes Gewissen, weil sie das Gästezimmer in ihrem Haus nicht als Unterkunft anbieten könne. Ihre autistische Tochter würde das komplett aus dem Gleichgewicht bringen, der so wichtige heimische Rückzugsbereich wäre damit nicht mehr vorhanden. Aber das sei doch alles nichts im Vergleich zum Leid der Geflüchteten.
Es hat mich sehr berührt, weil es meinen Gedanken so ähnlich ist…. was muss man, was kann man, was darf man….? Und es hat mich berührt, weil die Familien, die ohnehin schon zu kämpfen haben, gerade häufig diejenigen sind, die mit sich hadern, wenn sie nicht derart helfen können, wie sie gerne würden.

Aber mit Vergleichen kommen wir hier, wie so oft im Leben, nicht weiter. Und ich bin der festen Überzeugung, dass jede/r für sich sehr gut überlegen wird, was getan werden kann und dabei nicht aus dem Blick verlieren wird und auch nicht muss, was das eigene – in diesem Fall autistische – Kind braucht. Allein diese Überlegungen zeigen doch, dass ein offenes Herz da ist und dass ganz gewiss an anderen Stellen, auf geeignetere Art und Weise gegeben und geholfen werden kann.

Ja – so ist das dieses Jahr mit den Frühlingsgefühlen,

… die noch ganz andere Dimensionen eröffnen, an die wir alle wahrscheinlich niemals gedacht hatten.
Ich wünsche uns allen Freude im Kleinen, einen achtsamen Umgang mit euch selbst und euren Lieben, einen offenen Blick für diejenigen mitten unter uns, die unsere Hilfe brauchen (und sei sie noch so klein), das Bewusstsein für Nicht-Selbstverständliches und Gesundheit.
Ich wünsche uns Frieden und ich wünsche dir, dass du weiter deine Projekte und die Förderung deines Kindes verfolgst und dich über schöne Momente und Fortschritte freust – denn das ist trotz allem so wichtig und ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, absolut erlaubt.

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