„Mit der Zeit werden Sie verarbeiten, dass Sie ein behindertes Kind haben. Das dauert bei jedem unterschiedlich lange“, erklärte mir damals Niklas‘ Ergotherapeutin, als ich mit meinem kleinen vierjährigen Zwerg vor ihr saß und wieder mal nicht wusste, wohin mit all meinen widersprüchlichen Gefühlen.
Ich liebe mein Kind, wie es ist.
Was kann ich alles tun, um ihn zu fördern?
Welche Entwicklungsauffälligkeiten sollte man therapieren und wo akzeptieren, dass Manches einfach zu ihm gehört?
Wie erkläre ich anderen selbstbewusst unsere neue Situation?
Wie gehe ich gleichzeitig mit meinen vielen Fragen und Unsicherheiten um?
Und so weiter…
So viele Fragen, die einen als Mutter umtreiben, wenn man plötzlich oder auch nach und nach mit dieser besonderen Lebenssituation umgehen lernen muss.
Es stimmte natürlich, was die Therapeutin damals zu mir sagte – nach und nach lernt man immer mehr dazu und klärt auch für sich selbst Lebensfragen, die manchmal direkt, aber manchmal auch nur indirekt mit dem behinderten Kind zu tun haben. Das zu trennen, ist gar nicht so einfach und meiner Erfahrung nach eine der zentralen Verarbeitungsaufgaben.
Verarbeitung läuft nicht linear
Was mir die Therapeutin damals nicht sagte – weil es in dem Moment nicht so wichtig war oder weil sie es vielleicht nicht wusste oder weil sie mich nicht entmutigen wollte – ist, dass die Verarbeitung nicht linear vonstatten geht.
Manchmal kommt man in Situationen, in denen es einen plötzlich wieder wie der Schlag trifft und man sich in Gefühlswelten zurückgeworfen fühlt, die man längst hinter sich gelassen glaubte.
Verarbeitung besonderer Lebenssituationen verläuft in Spiralen, selten linear. Die Erfahrung machen andere Eltern und ich immer wieder:
Anja erzählt mir, dass sie sich wie geschlagen fühlte, als sie einen Anruf einer Cousine erhielt, mit der sie nur sehr selten Kontakt hat. Die Cousine hatte sich auch noch nie nach Anjas autistischem Sohn erkundigt. Inzwischen war Tobi schon sechs Jahre alt und da klingelte das Telefon: „Hallo, hier ist Tina, wie geht´s Euch?“ Weiterer Smalltalk folgte. Dann die Frage, um die es eigentlich ging: „Ich bin übrigens schwanger und ich wollte Dich fragen, ob das, was Dein Tobi hat, genetisch bedingt ist. Das würde ich dann vorher untersuchen lassen.“
Anja fühlte sich schrecklich in dem Moment, alte Wunden rissen auf, Aufklärung wurde von ihr gefordert, ohne dass es wirklich um Tobi ging. Sie fühlte sich instrumentalisiert, ausgefragt und irgendwie auch beschmutzt. Das lässt sich von außen wahrscheinlich schwer nachvollziehen, aber ich konnte es gut verstehen, als sie mir davon erzählte.
Und es warf sie zurück in der Annahme, sie könne ihren kleinen Tobi irgendwann gut aufgehoben in einer empathischen Gesellschaft wissen. Gegen das Kopfkino und all die Gedanken, die solche Äußerungen auslösen, kann man wenig tun.
Ich selbst wurde eines Tages in ein Gespräch verwickelt, das ich als sehr schrecklich empfand. Ich stand mit einer guten Freundin zusammen und eine mir unbekannte Frau gesellte sich zu uns. Niklas war auch dabei. Die Frau sah Niklas an und sagte: „Da haben Sie ja ein schweres Los zu tragen. Das tut mir sehr leid für Sie.“
Zum Glück gehörte dieser Moment nicht zu denen, in denen es mir die Sprache verschlug. Ich erwiderte, dass ich mein Kind nicht als schweres Los, sondern als Geschenk empfinde. Bevor ich das jedoch sagen konnte, hatte meine Freundin der Frau bestätigend zugenickt und gemurmelt „ja, das ist es.“
Du bist nicht überempfindlich, wenn Du Dir das zu Herzen nimmst
Diese vermeintlichen Kleinigkeiten sind es, die einem manchmal den Boden unter den Füßen wegziehen (rw), den man sich vorher sorgsam aufgebaut und stabilisiert hatte (rw). Von einem Moment auf den nächsten kann all das verschwunden sein, weil man den Glauben an seine Mitmenschen verliert, geschockt, traurig, wütend oder desillusioniert ist.
Manchmal darf man sich dann noch anhören: „Also, ich hätte nicht gedacht, dass Dich das so mitnimmt. Du hast das offenbar noch nicht alles verarbeitet. Sei doch nicht so empfindlich.“
Andere sollten sich mal bewusst machen, was dieses „das alles“, was man angeblich noch nicht verarbeitet hat, denn eigentlich ist. Es geht um das eigene Kind und dessen Lebenssituation, über die in dieser Weise gesprochen wird. Und selbstverständlich ist dieses Thema niemals abgeschlossen – bei keinem Kind – und bei unseren autistischen Kindern erst recht nicht.
Was ich damit sagen möchte:
Es ist normal, wenn Du Dir sowas zu Herzen nimmst. Er ist normal, wenn Du wütend und enttäuscht bist und wenn Du von Deinen Mitmenschen mehr Verständnis und Empathie erwartest.
Und es ist normal, wenn Du manchmal merkst, dass Dich wieder einmal Schmerz packt, von dem Du dachtest, dass er niemals wiederkehren würde und den Du nicht richtig deuten kannst.
Was Du in dem Moment aber ganz genau weißt, ist, dass dieser Schmerz nichts damit zu tun hat, dass Du Dein Kind nicht genauso lieben würdest, wie es ist.
Eine Mutter erzählte mir, dass ihr vorgeworfen werden würde, dass sie so überempfindlich sei und dass sie nun wisse, dass sie sensibel für die Belange ihres Kindes sein darf und muss und dass sie auch äußern darf, wenn respektlos über ihr Kind gesprochen wird (siehe zum Beispiel oben „das schwere Los“).
Unser Verarbeitung und das Gefühlsleben unserer Kinder
Würde man ein Diagramm malen und den fortschreitenden Verarbeitungsprozess als schräge aufsteigende Linie definieren, würde man diese bei den meisten von uns sicherlich auch erkennen.
Aber eben nicht stetig, sondern man würde auch Spiralen sehen, die zurückführen, sich um den linearen Weg herumdrehen, bevor sie irgendwann wieder auf die Linie stoßen, die weiter nach oben führt.
Mal mehr mal weniger, mal schneller, mal langsamer, und manchmal geht es vielleicht auch ein Stückchen abwärts.
Würde man eine zweite Linie daneben malen, die das Gefühlsleben und das Wohlbefinden unserer Kinder symbolisiert, wären die Linien wohl meistens parallel, ganz gleich, ob sie gerade linear oder in Spiralen, auf oder ab verlaufen.
Es ist gut, wenn Du mit der Zeit ein Gefühl dafür bekommst, wo sofortiger Handlungsbedarf besteht und Du Dich ad hoc kümmern musst. Und es ist gut, wenn Du mit der Zeit gelassener wirst, das kann man wirklich lernen.
Aber lass Dir von niemandem einreden, dass Du Dich von der Gefühlswelt Deines Kindes distanzieren solltest. Man kann dieses wertvolle Band aufrechterhalten und trotzdem – vielleicht sogar gerade deshalb – sehr viel Elternkompetenz bei wichtigen Entscheidungen und im Alltag zeigen.
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Zum Weiterlesen:
Sieben Vorschläge, was man Eltern autistischer Kinder sagen kann
Das mit dem Verarbeiten in Spiralen stimmt echt. Der Frust über den Misserfolg einen Job zu finden oder die schlechten Erfahrungen in der Schulzeit/Jugend kommt oft wenn ichs grad nicht brauchen kann. Haben oft Therapeuten im CI-Zentrum abgekriegt wenn sie launig nach dem Job fragen und bei mir den wunden Punkt treffen und dann eingeschnappt reagieren.
Ja, das verarbeiten kommt nicht linear aber es kommt und es kommt immer wieder bei jeder einzelnen Äußerung bei der unsere Gefühle in Wallung geraten. Zwischendurch ruhen wir und arbeiten daran.
Allerdings ist es auch sehr enttäuschend zu sehen wie wenig doch manchmal auch sehr nahe stehende Menschen verstehen obwohl man so oft schon darüber berichtet hat und auch selbst miterlebt wurde.
Ich geb es inzwischen fast auf.