Leserbrief: Manchmal denke ich, dass ich nicht dazu gehöre…

veröffentlicht im September 2017


Liebe Ella, lieber Leserinnen und Leser dieses Blogs,

ich möchte mir etwas von der Seele schreiben, weil ich oft nicht weiß, wohin mit diesen Gefühlen. „Ellas Blog“ scheint mir der richtige Ort zu sein, weil ich mich hier verstanden fühle, Informationen bekomme und zur Ruhe kommen kann.

Aber es gibt diese Tage, da lese ich von Eltern autistischer Kinder, dass ihr Kind den Führerschein gemacht hat, alleine mit dem Zug 500 Kilometer an einen Urlaubsort fährt, dabei ist Abitur zu machen, so wahnsinnig fitt am Computer ist, alles über Meeressäugetiere und American Football weiß. Ich lese von Eltern, die sich darüber beklagen, dass sie nur Pflegegrad zwei erhalten haben, davon dass ein Kind eine Ausbildungsstelle im kaufmännischen Bereich erhalten hat, davon dass das Kind alleine einkaufen war, davon dass das Kind leider den ganzen Tag nur liest und kein Interesse am gemeinsamen Abendessen hat oder pausenlos redet.

Und wenn ich das alles an diesen Tagen lese und höre, dann denke ich mir: ich gehöre nicht dazu! Das ist doch was ganz anderes! Mein Kind wird keinen Schulabschluss machen, braucht bei allem Hilfe, könnte niemals alleine Einkaufen gehen, kann keinen Computer bedienen und ist nicht nur einfach nicht da beim Essen, sondern bedingt auch durch seinen extremen Betreuungsbedarf, dass alle anderen auch nicht gemeinsam essen können.
Mein Sohn hat Pflegegrad fünf, ich stehe fast jede Nacht auf, weil er Hilfe bei der Toilette braucht, weiß nicht, wie ich den für mich notwendigen Schlaf zusammenkratzen soll und ich würde mir so wünschen, dass mein Kind spricht oder mal ein Buch liest oder sich einfach neben mich setzt und zufrieden ist.

Ich kann es nicht mehr ertragen, mich in bestimmten Foren zu bewegen, nicht weil ich es den Familien nicht gönnen würde, dass ihre Kinder so viel mehr können als mein eigenes, sondern weil ich mich nicht zugehörig fühle. Unsere Sorgen und Probleme sind andere und von vielen Eltern, die auch autistische Kinder (aber eben anders autistisch) haben, fühle ich mich nicht verstanden, weil sie nicht wissen, wovon ich spreche, weil sie es selbst nicht so erleben.

Umgekehrt verstehe ich wohl auch nicht, was ihr Leben so schwer macht. Dessen bin ich mir bewusst und ich will es auch nicht klein reden. Das ist mir ganz wichtig zu sagen. Ich will nur sagen, dass es anders ist, es ist zum Teil so doll anders, dass ich mich nicht zugehörig fühle und es gerne in die Welt hinausschreien möchte.

Und dann komme ich auf „Ellas Blog“, lese hier bei einer bloggenden Mutter, die nahezu den gleichen Erfahrungshorizont hat wie ich in meinem Leben mit meinem 16jährigen Autisten und ich fühle mich verstanden. Und ich bewundere, wie sie trotz allem und immer wieder das Verbindende sucht und findet. Das, was ich so oft nicht sehe, vielleicht auch nicht sehen will, weil ich so fertig bin und die Kraft nicht aufbringe, mich in die Situation anderer hineinzuversetzen, die eben… anders ist.

Verzeiht diesen Ausbruch, es musste mal raus, weil ich mich oft so einsam fühle, weil die „frühkindlichen Familien“ leiser sind, denn ich höre sie so selten und weil ich mich hier so gut aufgehoben fühle, weil ich hier eine solche Stimme finde.

Danke an Ella, dass ich das hier anonym schreiben darf. Danke für alles.

Tina (Name geändert)

Quelle: pixabay, User Free-Photos, vielen Dank!

Liebe Tina,

ich danke Dir sehr für Deine ehrlichen und offenen Worte. Es ist nicht einfach, solche Gefühle zu formulieren, weil sie auch immer die Gefahr bergen, dass andere sich dann  auch nicht verstanden fühlen. Aber darum geht es hier nicht, es geht um Dich und jeden Einzelnen und da darf man sich einfach auch mal einsam fühlen und diesen Gefühlen Luft machen. Hier ist der Ort dafür, weil ich eben auch ein solches Kind wie Deines habe – sehr betreuungs- und pflegeintensiv.
Das war übrigens auch der Grund, warum ich vor einigen Jahren mit „Ellas Blog“ angefangen habe – weil ich mich und unser Leben auch nicht gesehen habe in all den Foren, in denen ich mich so aufhielt. Es waren andere Themen, die an unserer Lebenwirklichkeit vorbei gingen, und ich fragte mich – wie Du – ob ich überhaupt richtig bin mit unseren Anliegen, obwohl es doch ausnahmslos um autistische Kinder ging. Daher begann ich, selbst darüber zu schreiben, wie das Leben mit Autismus für uns aussieht.
Sicher muss man viel relativieren und Du hast richtig geschrieben, dass ich oft das Verbindende suche, das halte ich für außerordentlich wichtig. Aber es muss auch Platz für das Individuelle sein, denn darum geht es doch eigentlich: um unser ganz ureigenes Leben. Und da unterscheidet sich auch oft Vieles und das darf auch gesagt werden.
Fühl Dich mal lieb gedrückt und ich bin sicher, dass es andere Mamas und Papas gibt, die Dir sehr gut nachfühlen können und Dir dankbar sind, dass Du auch ihre Gefühle in Worte gepackt hast.

Ganz herzliche Grüße, Silke alias Ella

Inzwischen gibt es aus diesem Grund für Eltern und Angehörige betreuungs- und pfegeintensiver Kinder auch das

Schau dich dort mal um, vielleicht ist es interessant für Dich.

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Liebe Tina,

    da spricht du ein gutes Thema an.
    Ich kann dich glaube ich gut verstehen wenn du schreibst du fühlst dich nicht dazugehörig. Es gibt wenig Menschen die einem das Gefühl geben können zu verstehen.
    Hut ab vor deiner Leistung! Toll das du für dein Kind da sein kannst. Das meine ich sehr ernst.
    Ich habe da andere Herausforderungen wie du. Daneben kommen mir meine täglichen Aufgaben sehr klein und wenig vor. Dennoch fühle ich mich von meinem Umfeld auch selten wirklich verstanden und dazugehörig schon gar nicht. Menschen wie du geben mir immer wieder die Kraft weiterzumachen.
    Gerne würde ich jemandem wie dir helfen. Aber wie? Ich habe Angst dir gegenüber falsch Aufzutreten. Angst, das du denken könntest das ich dein Leben nicht ernst nehmen könnte.
    Was könnte dich unterstützen?
    Einkäufe abnehmen? Nur mal ausquatschen? Behördenkram abnehmen?
    Ich wünsche dir weiter viel Kraft und Ideen euer Leben zu meistern.
    LG

  2. Liebe Tina, ich weiss wie du dich fühlst. Als ich so ausgelaugt war habe ich im Landhaus am Fehmarnsund in Grossenbrode gemeinsam mit meinem Sohn eine dreiwöchige Kur bewilligt bekommen. Er wurde dort hervorragend betreut und mich hat man so „betüdelt“, dass ich auch jetzt ein Jahr später immer noch Kraft und positive Energie dadurch spüre. Vielleicht hast du auch diese Möglichkeit?

  3. Hallo, ich habe 4 Kinder, mein ältester Sohn ist Nils, 26 , mit frühkindlichem Autismus und Down Syndrom, er ist nonverbal und schläft keine Nacht vor 1 -2:00 Uhr ein. Tina du beschreibst ein Gefühl, dass mich seit dem Kleinkindalter meines Sohnes begleitet… Über einen Austausch würde ich mich auch sehr freuen!
    Glg Mona

  4. Liebe Tina, auch ich habe einen knapp 9jährigen nicht sprechenden autistischen Sohn. Der ist Deinem sehr ähnlich und auch ich bin bei Treffen in Selbsthilfegruppen o. ä. oft frustriert und traurig, da ich meist die Einzige mit einem dermaßen eingeschränkt en Kind bin und ganz andere Probleme habe. Wenn Du möchtest können wir uns gerne mailen.
    Viele Grüße und weiterhin gaaanz viiiieel Kraft.

  5. Liebe Tina,
    Das hast du wirklich sehr schön geschrieben, und ja, es ist so!
    Danke, dass du es „aussprichst“ ?
    Zwischen den Kinder, wie du eines hast und ich eben auch und den „anderen“ Autisten liegen Welten. Jedenfalls fühlt es sich für uns so an. Denn deren Problem wären unsere Ziele, Ziele…die wir wohl nicht erreichen bzw. nur sehr wenige davon.
    Ich gönne den anderen natürlich ihr Glück, dennoch fühlt man sich, als Eltern von Autisten, wie wir sie haben , oft schlecht oder eben traurig.
    Aber Vergleiche bringen einfach nichts.
    Mein Motto ist: guck , was dein Kind „schlimmes“ macht und guck, was es nicht kann. Also Bsp. Nimmt alles in den Mund, kann aber nicht kauen! Und schon hat das „Nicht Kauen“ etwas Positives.
    Ein Kind leidet an schwere Epilepsie, kann aber nicht laufen! Und das Nicht Laufen wird positiv, denn dann kann das Kind während eines Aanfalls nicht böse fallen.
    Das waren nur Beispiele, aber so mache ich das und meist findet sich auch wirklich ein Argument. Sicher wünschte man sich, dass man gar nicht erst so denken muss! Aber vielleicht hilft es ein bißchen. Vorteile und Positives suchen, statt zu weinen, dass etwas nicht ist.
    Andere Ziele suchen, denn „die anderen“ sind einfach viel zu weit weg. Sich freuen über kleines und vorallem eine Harmonie innerhalb der Familie finden.
    Es gibt immer Stressituationen und manchmal ist man auch wirklich kaputt. Und dann ist es auch gut, wenn man es ausspricht. Warum auch nicht?
    Dein Beitrag hat mir wirklich gut gefallen und ich verstehe und fühle, wie du in deinem Text.
    Wenn du Fragen hast, kannst du mir gerne persönlich schreiben.
    Und….wir haben wirklich „die gleiche Story“

  6. Also ich bin eine von denen die nur „leicht“ betroffen sind. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt. Mein Sohn ist 4,5 Jahre alt und frühkindlicher Autist. Er hat ein paar Auffälligkeiten mit Stereotypen etc. ist aber grundsätzlich recht „normal“ im Sinn von neurotypisch. Ich wollte eigentlich nur mal los werden, dass ich vor euch, die Mamas mit extrem betreuungsaufwendigen Kindern mehr als den Hut ziehe! Ich habe größten Respekt vor euch und ihr gehört sowas von dazu. Autismus ist nun mal ein Spektrum und zwar ein weites. Da haben alle ihren Platz. Und uns Verbinden viele Dinge. zum Beispiel der Kampf mit Behörden um die Rechte unserer Kids oder ihren Platz in der „Gesellschaft“. Ihr Recht so akzeptiert zu werden wie sie sind. Das alles verbindet uns egal wie schwer die einzelnen betroffen sind.

  7. Liebe Tina
    Ich habe Beides , ein Kind das schon Erwachsen ist aber halt noch ein Kind wegen des Bedarfs . Auch ich stehe jede Nacht auf um ihn beim Toilettengang zu begleiten. Eigentlich könnte er es allein aber dann ist er sehr schnell mit anderem überfordert und so begleite ich ihn auch weil er es einfordert. Er hat Pflegegrad 3. Er geht eigentlich auch einkaufen, weiß auch was er braucht aber da er nicht spricht oder nur wenige Worte muss immer jemand dabei sein um quasi zu übersetzen. Obwohl es manchmal auch ohne Hilfe funktioniert.
    Der andere hat seinen Realschulabsxhluss gemacht. Ist jetzt in der Oberstufe, hat eine Schulbegleitung , Nachteilsausgleich und viele Dinge die ständig erkämpft werden müssen weil sich immer das eine oder andere Amt, Schule etc . quer stellt. Und auch mit ihm habe ich schon Nächte ohne Schlaf verbracht um Dinge die ihn belasten aufzuarbeiten oder ihm Sicherheit zu geben während zwischendurch der andere kam entweder weil er uns gehört hatte oder auf Toilette musste oder aus einem anderen Grund.
    Ich kann mir deine Empfindungen sehr gut vorstellen aber du hast recht es ist anders allerdings weiß Gott nicht leichter. Ich denke es ist bei jedem einzelnen anders . Ich sag mal so das Gerüst ist gleich nur manchmal ist halt eine Stange, Schraube oder Bohle woanders eingebaut .
    Warum nicht so viel über die Autisten mit mehr Bedarf zu lesen ist weiß ich nicht. Schön wäre es auch von Ihnen zu lesen schon damit sie eine Stimme bekommen.

  8. Oh je…. dieser Beitrag hat mich sehr getroffen, auch wenn mein „frühkindlicher“ Autist „nur“ PG 3 hat und in sein „Bedarf“ nicht so ausgeprägt ist.
    Aber ich bin halt allein und habe noch einen erwachsenen „atypischen Autisten“ daheim.

    Liebe Tina, es ist gut, dass Du das alles mal rauslässt und rauslassen kannst. Es macht Dich auf Dauer sonst kaputt. Ich habe Tage, da könnte ich jemanden erschlagen, so eine Wut und ein Frust über all das Ganze hat sich dann bei mir angestaut.
    Ich lasse diese Gefühle mittlerweile zu, weil sie ja da und sehr real sind. Sie gehen auch wieder weg.

    Auch wir haben nie Besuch, zu uns kommt einfach niemand und ich kann auch nicht so ohne Weiteres zu anderen. Ich habe das mehrfach versucht und musste immer(!!!) vorzeitig abbrechen, weil Stress aufkam. Unsere EFH für die Schule wurde eingestellt, weil der EFH mit meinem Jüngsten nicht mehr zurecht kam. Das heißt für mich, wieder einmal keinen Job zu haben, den Jüngsten selbst zu unterrichten und zu schauen, wie ich Miete und das andere zusammenbekomme.

    Ja, das ist zum Kotzen und das sollte man auch mal so aussprechen dürfen können.

    Danke, für Deinen Mut! Damit auch diese Gruppe Menschen gehört, gelesen und wahrgenommen wird, braucht es wohl noch viel mehr solcher Beiträge.

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