Gastbeitrag von Kathrin:
Ich suche nach Mustern in meinem Gehirn, um meine Außenwelt besser verstehen zu können. Was bedeutet das genau? Viele Aussagen oder Sätze, verknüpft mit Bildern bleiben mir in Erinnerung. Diese Erinnerungen können sehr banal sein, so wie ein Straßenschild, eine Vase mit Blumen oder der Satz „Bitte nennen Sie Beispiele“.
Ereignisse, die voneinander nicht abhängen, die aber ein gemeinsames Schlüsselwort enthalten, lösen bei mir einen Aha-Effekt aus.
Vor Kurzem las ich das neue Buch von Silke Bauerfeind. Sie beschrieb darin die Schwierigkeit, Menschen, die mit dem Thema Autismus keine Erfahrung haben, zu erklären, warum das Verhalten und die Denkweise einer Autistin oder eines Autisten anders sind. Immer wieder drang sie mit dem reinen Fachwissen nicht durch. Aus diesem Grund ging sie dazu über, konkrete Beispiele zu schildern.
Eine weitere Erfahrung bezüglich konkreter Beispiele ergab sich aus meinem Philosophiestudium. Im ersten Semester lernte ich dort, dass die Philosophie ihre Theorien und Ansätze mit Beispielen verdeutlicht.
Zusammenhänge anhand von Beispielen zu erklären, konnte ich zuerst nicht nachvollziehen. Denn mein Ansatz war, wenn ich eine Thematik verstehe und sie eindeutig beschreibe, dann brauche ich auch keine Beispiele zu geben. Es ist selbsterklärend, weil ich es ja auch verstehe. Der Perspektivwechsel fehlt in meiner Überlegung. Autisten können sich nur sehr schwer in die Sichtweise einer anderen Person hineinversetzen.
Die dritte Begebenheit folgt nun, die meine Erfahrung mit dem Schlüsselwort „Beispiele“ näher beschreibt: Mein Freund hat eine erwachsene Tochter, die uns gelegentlich besucht. Es gibt feste Termine, wie der Geburtstag meines Freundes und der 2. Weihnachtstag. Darüber hinaus kann es vorkommen, dass seine Tochter uns ohne konkreten Anlass besucht. Letztens war sie mit ihrem Freund an einem Samstag Nachmittag bei uns. Sie brachte für uns eine Geschenktüte mit, die sie ihrem Vater überreichte, weil er gerade neben ihr stand. Er schaute hinein und holte einen Becher mit der Aufschrift „Dad“ hervor.
Ich war
neugierig und blickte nun ebenfalls in die Papiertüte hinein. Ich sah eine
Kekstüte, eine Schokolade und eine Marzipantarte.
„Wo ist denn mein Becher?“, fragte ich.
„Du kannst dir etwas aus der Tüte aussuchen“ erwiderte sie.
Ich war total überfordert. Mein erster Gedanke war, dass es nicht gerecht war. Wieso nur einen Becher verschenken? Mein Freund hatte auch nicht Geburtstag. Die Geschenktüte sollte für uns sein. Meine Auffassung war klar. Zwei Personen gleich zwei Becher.
Deshalb sagte ich wiederum, dass sie mich nicht kennen würde. Das stimmt natürlich, weil wir uns wirklich noch nicht lange kennen und die wenigen Besuche können kein umfängliches Bild von einer Person abgeben. In diesem Moment konnte die Situation nicht gelöst werden. Mein Freund nahm die Jacken entgegen, irgendetwas wurde gesprochen, nur vage hörte ich zu. Gemeinsam gingen wir ins Wohnzimmer, um unsere Plätze am Esstisch einnehmen zu können.
Ich war erleichtert, dass die Sitzordnung von allen eingehalten wurde. Es wurde Kaffee und Kuchen angereicht. Mittlerweile weiß ich, dass es hierbei nicht nur um das Verspeisen geht, sondern die Unterhaltung steht im Vordergrund. Viele nonverbale Botschaften werden am Esstisch mittels der Schilderung von Alltagserlebnissen übertragen. Das Zusammensein in der Gruppe wird dadurch gestärkt.
Hingegen habe ich mich stets daran orientiert, wann es endlich Essen gibt. Dadurch konnte ich abschätzen, wie lange das Zusammensein noch andauern wird. Auch unsere Gäste nutzten dieses Zusammensein, um ihre Verbundenheit und Emotionen mittels Geschichten aus dem Alltag zu bestärken. Insbesondere die Tochter meines Freundes wollte ihre Sorgen und Nöte dem Vater mitteilen. „Schau, lieber Vater, ich habe zwar Sorgen und Nöte, aber ich schaffe es“ – so habe ich es im Nachhinein erst verstanden.
Als wir nun zusammen am Tisch saßen, wurde ich immer aggressiver. Die Tochter sprach von ihren Alltagsproblemen, und ich wollte sie konstruktiv lösen. Darum ging es ihr aber gar nicht. Leider verstehe ich das immer noch nicht in Gänze. Ein Beispiel dazu:
Sie lebt mit ihrem Freund zusammen. In der Woche ist er beruflich auswärts, sodass er am Wochenende mit seiner Wäsche heimkehrt. Sie erledigt dann den Wäschehaufen in der Woche und beklagt sich, dass er sich um die Wäsche nicht kümmert. Außerdem vermisst sie die Anerkennung, dass sie diese Arbeit übernimmt. Sie sagt sinngemäß, es sei selbstverständlich, dass Frau das zu machen hat.
Natürlich ging ich auf diese Diskussion ein, um eine Lösung zu finden. Auch mit dem Hintergedanken, dass diese unsägliche Tischsituation endlich vorbei ist. Mein Vorschlag dazu war: Wenn sie die Wäsche macht, dann kocht er am Wochenende. Zug um Zug, so ist meine Devise.
Aber leider ging es bei dieser Diskussion gar nicht darum, eine Lösung zu finden, sondern primär um die Wertschätzung ihrer Wäschetätigkeit aber ich konnte das nicht erkennen. Es ging, wie gesagt nicht um Lösungen sondern um ein sich Mitteilen. Ja, vielleicht auch um Verständnis. Gleichzeitig werden Emotionen übermittelt, die ich nicht empfange.
Ich verstehe dieses Muster nicht, warum die Tochter meines Freundes immer über Probleme redet. Möchte sie vom Vater gerettet werden?
In dieser Situation am Tisch wurde ich aus diesem Verhalten nicht schlau und deswegen zunehmend aggressiver. Ich griff sie direkt an, indem ich zu ihr sagte, ob sie überhaupt etwas an dem Wäschedilemma ändern möchte oder ob sie nur ihren Frust bei uns ablassen will. Es hat mir total gereicht. Zuerst diese Geschenktüte und dann dieser Redeschwall aus Sorgen und Nöten.
Nach einiger Zeit räumten wir das Kaffeegeschirr ab. Danach bin ich in einen anderen Raum gegangen, weil ich das Zusammensein nicht mehr ertragen konnte. Ich brauchte einfach meine Ruhe.
Nach drei Tagen schrieb ich der Tochter meines Freundes eine E-Mail. Ich wollte endlich gehört werden, weil ich ein Teil dieser Familie geworden bin und auch meine Bedürfnisse habe. Wenn ich ihr nicht erkläre, warum ich so reagiert habe, dann wird sie mich nie verstehen. Sie kennt keine Autisten, und aus diesem Grund kann sie meine Verhaltensweisen nicht entschlüsseln. Hier sind Auszüge, aus meiner E-Mail:
„Ich habe nicht verstanden, dass Du mir ein Geschenk gemacht hattest. Welches Teil aus der Tüte war mein Geschenk? Wenn Du mir nicht sagst, was meins sein soll, dann habe ich auch nichts erhalten.“
„Am Tisch hast Du Dich über Deine berufliche Situation und alles Mögliche ausgiebig beklagt. Das bleibt bei mir aber wortwörtlich und in allen seinen Ausmaßen im Gedächtnis gespeichert und geht nicht einfach als ein Redeschwall an mir vorbei, von dem ich mich innerlich distanzieren könnte. …
Erzähle bitte vielleicht über schöne Dinge und wenn es schon unschöne sein müssen, dann nicht so viele auf einmal und nicht in so kurzer Zeit.“
Mit Hilfe meines Freundes konnte ich meine Denk- und Verhaltensweise schriftlich der Tochter näher bringen. Zudem unterhielt sich mein Freund noch eingehend mit seiner Tochter, weil es ihr doch zu fremd erschien. Neurotypisches Denken umfasst unter anderem einen Verhaltenskodex, der übereinstimmend und stillschweigend akzeptiert wird. Die Gesellschaftsform würde ansonsten zusammenbrechen, wenn sich Menschen erst einmal verständigen müssen, wie sie miteinander umgehen sollen.
Mein Freund und ich brauchen viel Zeit, um uns gegenseitig zu verstehen. Es wird viel geredet, um ein Miteinander zu ermöglichen. Das macht uns wiederum stark, weil wir jeweils die andere Denkart in unserem Handeln einbeziehen wollen. Natürlich gibt es bei uns Missverständnisse und mühsam ist es allemal.
Sympathie und echtes Interesse sind enorm wichtig, um Autisten verstehen zu können. Ich bin immer wieder dankbar, wenn ich auf Personen treffe, die sich wahrhaftig auf eine andere Denkart einlassen möchten.
Liebe Kathrin, von Herzen „Danke“ für Deine Schilderungen und für die vielen Beispiele, die so gut verdeutlichen, dass es eben auch andere Denk- und Handlungsmuster gibt als die neurotypischer Menschen. Toll, dass Du den Weg, Beispiele zu nennen, hier eingeschlagen hast, auch wenn es Dir, wie Du beschreibst, anfangs eigentlich unverständlich war, so vorzugehen.
Herzliche Grüße und alles erdenklich Gute!
Danke für deinen Text. Für mich war es sehr schwer zu verstehen, momentan stehe ich irgendwie auf dem Schlauch. Aber irgendwie beschreibt das auch wie ich bin, verstehe Smalltalk absolut nicht, will auch immer Tipps geben wenn jemand jammert. Mag auch sprechen nicht und zusammensitzen auch nicht.
Die Situation am Kaffeetisch, die du beschreibst, kenne ich super gut. Vergangenes Wochenende hatte wir Besuch von Freunden, die sich gerade in einer sehr schwierigen Situation befinden, und über Stunden wurde dieses Problem umkreist, zwischendurch auch einmal von etwas anderem geredet, dann wieder zum Problem zurückgekehrt… Um Lösungsansätze ging es gar nicht, nur ums Reden als solches, und ich sitze in solchen Situationen stets mit steigendem Frustlevel dabei. Denn: Sage ich etwas (in meinen Augen) Konstruktives, merke ich schnell, dass das gar nicht gewünscht ist.
Zwar habe ich im Lauf meines Lebens und auch in einer Therapie gelernt, mich an Smalltalk wenigstens etwas zu beteiligen (manchmal sogar mit einem kleinen bisschen Spaß, wenn mir die Leute nahestehen), aber über Probleme reden, ohne sie wirklich lösen zu wollen, das kriege ich bis heute nicht hin.
Und irgendwo will ich es auch nicht.
Vielen Dank Karin, vielen Dank Joachim für eure Kommentare! Smalltak und „Probleme nur bereden“ sind auch für mich sehr anstrengend. Genau!
Ich möchte zum Artikel als auch den Kommentaren etwas anmerken. Normalerweise finde ich mich in den Dingen wieder, die hier geschrieben, aber dieses mal so überhaupt nicht. Ich kenne es zwar nicht, daß Probleme exessiv durchgesprochen werden, ohne daß irgendjemand an konstruktiven Lösungen interessiert wäre, aber grundsätzlich ist es so, daß es vielen Menschen hilft, Probleme auch einfach ausgesprochen zu haben. Es muß nicht zwingend eine Lösung her, es erleichtert schon, teilen zu können, weil es dann nicht mehr so viel Platz im Kopf einnimmt. Zumal es auch nicht für jeden Menschen „die eine“ Lösung gibt, dazu sind Menschen zu verschieden. Und schon sind wir an dem Punkt, der mich ganz besonders ärgert. Es wird doch so gerne gesagt „kennst du einen Autisten, kennst du genau einen Autisten“. Es soll also nicht verallgemeinert werden, alle Autisten wären gleich. Dieser Beitrag und auch die Kommentare machen aber genau das mit den NTs. Warum? Die sind doch auch alle verschieden, das muß man als Autist doch auch umgekehrt zugestehen. Es gibt keine „ungeschriebenen Gesetze der Kommunikation“, wie hier vermutet wird. Ganz im Gegenteil, deswegen kommt es ja immer wieder zu Mißverständnissen und deswegen versteht sich nicht jeder mit jedem, das ist nun wirklich nicht etwas, was ausschließlich auf die Begegnung Autist/NT beschränkt wäre! Deswegen: der letzte (fett gedruckte) Satz des Beitrages, da müßte (meiner Meinung nach) eigentlich das Wort „Autisten“ durch „Menschen“ ersetzt werden.
Hallo Jan294, danke für deine Sichtweise. Für mich war der Gedanke „Beispiele zu nennen“ viel wichtiger, um Nichtautisten meine Denkart/Verhaltensart näher zu beschreiben. Von sich auf andere zu schließen, ist nicht hilfreich. Es sind meine Gedanken, die ich hier in diesem Gastbeitrag geschildert habe. Klar, ich kann nicht alle erreichen, weil wir eben alle unterschiedlich sind.