Interview: Mitten im Geschehen – warum Aufklärung über Autismus im Team nicht aufhört

veröffentlicht im Mai 2025


Es gibt diese Themen, bei denen man das Gefühl hat, sie immer und immer wieder erklären zu müssen – und trotzdem bleiben oft Fragen und Unsicherheiten zurück. Genau darüber hatte ich neulich in meinem Newsletter geschrieben.
Kurz darauf bekam ich eine Nachricht von einer Leserin, die selbst seit vielen Jahren als heilpädagogische Förderlehrerin arbeitet und mir aus ihrem Alltag berichtete. Besonders berührt hat mich, wie ehrlich sie beschreibt, dass es oft schwierig ist, auch unter Kolleginnen und Kollegen für mehr Verständnis rund um das Thema Autismus zu sorgen.
Gerade weil sie täglich mit einer Gruppe nonverbaler Autisten mit hohem Unterstützungsbedarf arbeitet, weiß sie ganz genau, wovon sie spricht. Ihr Engagement, trotzdem dranzubleiben, finde ich bewundernswert und es zeigt, dass Aufklärung eben nicht irgendwann „fertig“ ist, sondern immer weitergeht.

Deshalb freue ich mich sehr, dass sie sich zu einem Interview bereit erklärt hat. Wir haben über ihre Arbeit, ihre Erfahrungen und die besonderen Herausforderungen gesprochen, die sie täglich erlebt.

Stiftebox und Bilderbuch

©Quelle: pixabay, User congerdisign, vielen Dank!

Liebe Sonja (Name geändert), magst du dich kurz vorstellen? Was arbeitest du und wie bist du dazu gekommen?

Ich arbeite seit über 30 Jahren im heilpädagogischen Bereich. Aktuell bin ich in der Betreuung und Förderung von Kindern im Vorschulalter eingesetzt.

Ich habe bei meiner Arbeit mit den verschiedensten Beeinträchtigungen zu tun gehabt. Unsere Klassen und Gruppen waren immer sehr heterogen und es waren in all den Jahren immer auch autistische Kinder dabei. In den letzten Jahren zeigt sich auch bei uns eine deutliche Zunahme an autistischen Kindern.
So hat eine Kollegin schon vor Jahren eine reine Klasse mit Autistinnen und Autisten gebildet und hauptsächlich nach dem TEACCH-Ansatz gearbeitet. Dazu später noch mehr.
Ich fand diese Arbeit schon immer spannend und habe dort ein paar Wochenstunden unterrichtet. Auch der Bereich der Unterstützten Kommunikation (UK) ist ein kleines „Steckenpferd“ von mir und so habe ich die Fachkraft Unterstützte Kommunikation nach GesUK gemacht und abgeschlossen.

In diesem Bereich zu arbeiten, war für mich keine geplante Entscheidung, sondern hat sich tatsächlich ergeben. Allerdings habe ich natürlich auch großes Interesse und das ist glaube ich auch etwas ganz Entscheidendes: Diese Arbeit muss man wollen und dahinterstehen, sonst hat das keinen Sinn!

Wie hat sich das Konzept und die Situation hinsichtlich autistischer Kinder in deiner Einrichtung verändert?

Bei einer großen Anzahl und starker Ausprägung von Autismus-Spektrum-Störungen stoßen wir an unsere Grenzen. Im Herbst 2023 war der Anteil an autistischen Kindern bei uns besonders hoch, was uns als Team vor große Herausforderungen gestellt hat – vor allem auch, weil Schule und andere Bereiche mit unterschiedlichen Teams, aber denselben Kindern arbeiten.

Wir hatten die Idee, eine reine Autistengruppe zu bilden, konnten damit zunächst aber weder in der Einrichtung, noch bei den Eltern überzeugen. Es blieb also bei gemischten Gruppen, mit kleinen Zugeständnissen wie einem eigenen TEACCH- und Ruheraum. Die Monate danach waren extrem anstrengend. Ich war oft am Limit und hatte das Gefühl, den Bedürfnissen der Kinder kaum gerecht zu werden. Ähnliche Schwierigkeiten gab es auch am Nachmittag, was zusätzlich für viele Personalwechsel sorgte.
Mit Unterstützung von außen konnten wir im Laufe des Schuljahres die Gruppen noch einmal neu mischen, auch wenn das viel Überzeugungsarbeit bei Eltern und dem Kollegium kostete. Manche Eltern waren skeptisch oder hatten Angst, ihr Kind würde „abgeschoben“, was natürlich nie das Ansinnen war. Trotzdem konnten wir Schritt für Schritt bessere Strukturen schaffen. Inzwischen trägt die Arbeit Früchte.

Die Personalsituation bleibt aber schwierig. Es braucht Menschen, die sich wirklich auf diese besondere Aufgabe einlassen wollen, denn mit den üblichen pädagogischen Strategien kommt man hier nicht weiter. Viele Kolleginnen und Kollegen sind dadurch verunsichert. In unserer Gruppe gibt es aktuell sieben Kinder, alle mit Schulbegleitung, wobei sich einige Kinder auch eine Schulbegleitung teilen. Das ist oft eine große Hilfe, bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich, denn auch die Schulbegleitungen müssen lernen, wann sie sich einbringen und wann sie sich zurücknehmen.

Du hast erwähnt, dass es auch unter Fachkräften oft schwierig ist, Verständnis für Autismus zu schaffen. Kannst du ein Beispiel nennen, wo du besonders gemerkt hast, dass Autismus für manche schwer begreifbar ist?

Gerade mit neuen Kolleginnen und Kollegen merke ich immer wieder, wie sehr es an Basiswissen zum Thema Autismus fehlt, auch wenn das Team eigentlich engagiert ist. Oft stehe ich ziemlich alleine da, was das Erklären und Überzeugen angeht, und habe das Gefühl, meine Hinweise versickern im Alltag.

Ein Beispiel: Ein Junge war ständig unruhig und unglücklich bis wir mit den Eltern herausgefunden haben, dass er seine Kuscheldecke und seinen Schnuller braucht. Seitdem ist die Situation viel entspannter. Leider gibt es immer wieder Unsicherheiten, weil das emotionale Alter der Kinder oft unterschätzt wird. Da fehlt manchmal einfach das Verständnis, warum solche Hilfsmittel wichtig sind.

Im Alltag setze ich so viel wie möglich auf Strukturierung und Visualisierung, zum Beispiel mit klaren Tagesplänen oder kleinen Gegenständen als Signal für den Ablauf. Leider werden solche Methoden nicht überall übernommen, was gerade in den Übergängen zwischen Vor- und Nachmittag oft zu Missverständnissen und Frust bei den Kindern führt. Manche Kolleginnen und Kollegen unterschätzen, wie wichtig solche Strukturen sind, und sehen den Mehraufwand im Moment, nicht aber die Entlastung für die Kinder.

Ein weiteres großes Thema ist der fehlende Informationsaustausch zwischen den Teams. Was am Nachmittag an Materialien genutzt wird, ist morgens manchmal verschwunden. Für unsere meist nonverbalen Kinder ist das besonders schwierig. Es führt immer wieder zu Frust und Ausbrüchen, wenn Dinge nicht da sind, wo sie erwartet werden. Hier wünsche ich mir mehr Verständnis dafür, wie wichtig Verlässlichkeit und feste Strukturen im Alltag für die Kinder sind.

Was sind typische Missverständnisse oder Fehleinschätzungen, die dir im Kollegium begegnen?

Sehr schlimm finde ich, wenn Bezugspersonen der Meinung sind, das Kind will einfach nur seinen Willen durchsetzen, es würde provozieren oder sei „verzogen“. Das höre ich leider immer wieder und versuche natürlich dagegen zu halten. Man kommt sich dabei aber wirklich oft als „Klugscheißer“ vor.

Und dass oft davon ausgegangen wird, daß die Kinder einen nicht verstehen. Sie verstehen uns ja schon, oft kommt aber Gesagtes aus irgendeinem Grund nicht an oder kann gerade nicht umgesetzt werden.
Für mich ist es schwierig, dass nicht verstanden wird, wie einfache, klare Sprache beim Verständnis helfen kann……

Wie gehst du mit solchen Situationen um? Gibt es Strategien, die für dich gut funktionieren, um Verständnis zu fördern?

Ich versuche eigentlich meist, auf eine Fortbildung, Fachliteratur oder Beratungs- oder Kompetenzzentren zu verweisen. Ich sage dann immer dazu, dass ich meine Informationen auch von dort habe, somit habe ich ein bisschen das Gefühl, es kommt mehr an und kann besser akzeptiert werden.
Trotzdem glaube ich dass die Kolleginnen und Kollegen meinen, belehrt zu werden. Ich habe letztens deinen Beitrag gelesen „Was, wenn du zuviel weißt“. Da habe ich mich sehr wiedergefunden.
Einiges hatte ich schon versucht so anzuwenden, manches muss ich mir wieder bewusst machen. Gut funktioniert oft der gemeinsame Blick darauf, nach dem Motto „habt ihr auch gesehen dass…….“ Oder ich frage „wie machst du das wenn……“ und stelle dann im Gespräch Überlegungen an, wie man damit umgehen könnte.

Gerade die Schulbegleitungen lassen sich gerne mit Informationen versorgen und melden auch zurück, dass diese sehr hilfreich sind.
Ich überlege oft, ob Fachpersonal das Gefühl hat, als ob man das „Gesicht verliert“ wenn man Infos, Input, Strategien von jemand anderem annehmen soll/kann/muss……?

Welche Methoden oder Materialien setzt du ein, um Autismus für andere anschaulicher zu machen? Gibt es Bücher, Videos oder praktische Beispiele, die du besonders hilfreich findest?

Ich lege immer wieder Bücher in die Gruppe und lasse sie dort, damit auch die Kollegen reinschauen können.
Z. Zt. gerne „Euch nervt´s – für mich ist es sinnvoll“ und „Anders – nicht falsch“.
Ich erzähle dann davon, wie mir das geholfen hat zu verstehen.

Ich gebe Hinweise und erzähle von Fortbildungen und Online-Vorträgen, die ich gehört bzw. besucht habe.
Vor Kurzem konnten eine Kollegin und ich in unserer Einrichtung ein Basisseminar Autismus als Inhouse-Fortbildung organisieren. Obwohl wir kaum Unterstützung von den Leitungen erhielten, konnte dann trotzdem noch die Finanzierung gesichert und anteiliger Zeitausgleich für das Personal vereinbart werden. Somit konnten immerhin fast 30 Personen teilnehmen und das war schon ein sehr guter und wichtiger Schritt in eine richtige Richtung.

Was würdest du dir wünschen – sei es von der Leitung, von Kolleginnen, von Eltern oder der Gesellschaft – um deine Arbeit mit autistischen Kindern noch besser machen zu können?

Ganz praktisch würde ich mir mehr räumliche Möglichkeiten in der Einrichtung wünschen, um den verschiedenen Bedürfnissen gerechter werden zu können.
Verständnis und Unterstützung von unserer Schulleitung, auch mal neue Wege zu gehen, bei Kosten- und Entscheidungsträgern für die Belange zu kämpfen und sich einzusetzen – und nicht immer zu hören: „das ist nun mal leider so, ich kann es auch nicht ändern.“

Passende Fortbildungen für das gesamte Kollegium suchen und anbieten.

Offenheit für neue Wege, sich darauf einlassen ohne Angst zu haben, dass man als inkompetent gilt, wenn man etwas von jemand anderem annimmt.

Was mir noch wichtig ist zu sagen:
Wir haben wirklich großes Verständnis für die Eltern, die oft noch am Anfang stehen – sei es mitten in der Diagnostik oder weil sie vom Kinderarzt erst mal vertröstet werden. Wir begleiten nicht nur die Kinder, sondern auch die Familien auf diesem Weg, oft sehr behutsam, weil nicht immer alles sofort angenommen werden kann. Das ist einfach menschlich.
Auch wenn schon eine Diagnose da ist, begegnet uns manchmal die Erwartung: „Ihr seid doch die Profis, macht unser Kind wieder heil.“ (Das meine ich mit einem Augenzwinkern). Wir haben viele Kinder mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen. So sehr wir es uns wünschen, wir können nicht immer jedem einzelnen gerecht werden.
Ich persönlich wünsche mir, dass Eltern unseren Beobachtungen und Einschätzungen mehr vertrauen – gerade beim Thema, wie lange ein Kind bei uns bleibt. Wir sehen oft, dass ein voller Tag zu viel sein kann: zu laut, zu wenig Rückzug, einfach zu viel Input. Es geht mir nicht darum, jemanden „loszuwerden“, sondern ehrlich zu sagen, was wir sehen: Für manche wäre weniger einfach mehr.
Am Ende wollen wir doch alle das Beste für die Kinder – und das geht am besten gemeinsam.

Was würdest du anderen Fachkräften raten, die ebenfalls auf Unverständnis im Kollegium treffen?

Es ist gut, sich zunächst fachlich weiterzubilden und Information zu sammeln. Das hilft sehr bei der eigenen Haltung und der Sicherheit in der Arbeit mit autistischen Kindern, die ja von so vielen Unsicherheiten geprägt ist. Die eigene Weiterbildung gibt einem (nach meiner Erfahrung) schon ein Stück weit Sicherheit und Gelassenheit, die man dringend braucht.

Und wichtig ist es, sich gleichgesinnte Kolleginnen und Kollegen zu suchen und zu netzwerken. Der Austausch im Kollegium in gleichen oder ähnlichen Situationen hilft total, auch wenn es nicht sofort etwas verändert. Erst einmal hilft das Wissen, dass es anderen auch so geht, wie einem selber. Und im nächsten Schritt kann man vielleicht gemeinsam versuchen, etwas zu bewegen.

Gibt es ein Erlebnis mit deinen Schülern, das dir besonders zeigt, warum deine Arbeit so wichtig ist? Vielleicht eine kleine Erfolgsgeschichte, die dich motiviert, trotz der Herausforderungen weiterzumachen?

Gerade in den letzten Wochen hat sich die Situation in der Gruppe durch viele kleine Stellschrauben, die ich teilweise oben beschrieben habe, schon sehr entspannt. Das hat aber lange gedauert, man braucht einen sehr langen Atem, das muß einem klar sein.
Inzwischen kommen 5 meiner 7 Kinder zu einem kurzen Morgenkreis zusammen und scheinen Gefallen daran zu finden.
Vor den Ferien haben wir das erste Mal eine Art Kreisspiel bzw. Aktion machen können, mehrere haben mitgemacht, andere interessiert beobachtet. Die Kinder haben Ostereier in einem Körbchen gesammelt zu einem Lied, drei Kinder haben sich dabei sogar als Hase „verkleidet“. Ich hätte fast geweint, weil die Kinder so freudig dabei waren …..

Auch die Tatsache, dass meine Kolleginnen und Kollegen am Vormittag inzwischen so „mitschwingen“ und sich auf vieles einlassen, motiviert mich sehr, selbst wenn immer wieder Schwierigkeiten auftauchen.
Es motiviert mich, dass den Kindern mehr Entspannung anzumerken ist, deutlich weniger Ausbrüche und Verzweiflung, da wir immer besser lernen sie „zu lesen“.
Ich freue mich, dass sie lernen die Strukturierungshilfen immer mehr annehmen zu können…..
Und dann sind da die Momente, in denen unvermutet wieder ein kleiner Entwicklungsschritt passiert, und sei er noch so klein.

Ganz herzlichen DankDas klingt wunderbar und ich freue mich, dass du uns an deinen Erfahrungen hier teilhaben lässt. Hoffentlich wirst du noch lange Zeit, dein Wissen weitergeben können und an der Seite vieler kleiner Autistinnen und Autisten sein.

Zum Weiterlesen:
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Interview mit Sandra – Sonderpädagogin im Bereich Autismus

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  1. Hallo Silke, hallo "Sonja"
    Ein herzliches Dankeschön für's Interview.

    Ich bin seit 1985 als Erzieherin tätig und begleite im 4. Jahr ein nonverbales Mädchen mit ASS.

    Immer wieder stoße ich an die gleichen Grenzen wie im Interview beschrieben.

    Der für mich treffendste Satz von " Sonja" ist, " Diese Arbeit muss man wollen und dahinterstehen…."

    Nun gehe ich im Sommer in Rente und das Mädchen zur Schule.

    Ich möchte den Eltern diesen wertvollen Blog ans Herz legen.

    Mal wieder ein herzliches Dankeschön Uli

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