Interview mit der Autorin Inez Maus: „Die Gesellschaft sollte sich mehr auf die Förderung der Stärken von AutistInnen konzentrieren.“

veröffentlicht im Juli 2018


Foto von Inez Maus
©Leon Maus, Inez

Mit Inez bin ich schon seit längerer Zeit in Kontakt. Ihre wertschätzende Art ließ einen sehr schönen Austausch entstehen. Nun möchte ich sie Euch näher vorstellen, weil der Besuch auf ihren Seiten und ihre Veröffentlichungen sicherlich auch für Euch eine Bereicherung sind.

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Liebe Inez, Du bist Autorin, Bloggerin und Referentin zum Thema Autismus. (Irgendwie kommt mir das bekannt vor :-)) Mit welcher dieser Bezeichnungen kannst Du Dich am meisten identifizieren?

Mit den Bezeichnungen Autorin und Referentin kann ich mich im Moment am meisten identifizieren, weil ich diese Tätigkeiten seit Jahren durchführe. Mein erstes Buch „Mami, ich habe eine Anguckallergie“ ist vor fünf Jahren erschienen. Bereits vor der Veröffentlichung des Buches bat mich eine sonderpädagogische Schwerpunktschule, einen Studientag zum Thema Autismus zu gestalten. Daraus haben sich bis heute viele Veranstaltungen und zwei weitere Bücher entwickelt.
Meinen Blog habe ich vor knapp einem Jahr gestartet und hier bin ich noch dabei, Erfahrungen zu sammeln und die damit verbundenen Gefühle zu ordnen.

Wie kam es dazu, dass Du Dich mit dem Thema Autismus beschäftigst?

Ich bin Mutter eines autistischen Jungen. Benjamin galt in seiner frühen Kindheit als schwer hörbeeinträchtigt, geistig behindert und nicht beschulbar. Sechs Jahre irrten wir von einer Verdachtsdiagnose zur nächsten. In dieser Zeit begaben wir uns als Eltern selbst auf Erklärungssuche, wobei Autismus aufgrund vieler kleiner Erlebnisse (siehe Foto: Benjamin betritt nicht den Sandkasten) immer wieder ein Thema war.
Erst im Alter von neun Jahren wurde die Diagnose frühkindlicher Autismus gestellt. Meine Anguckallergie-Bücher beschreiben Kindheit und Jugend meines autistischen Sohnes und unseren Umgang mit Autismus als Familie. Als Naturwissenschaftlerin war ich immer bestrebt, mich mit dem Thema nicht nur emotional und intuitiv, sondern auch rational auseinanderzusetzen.

Wie sieht ein typischer Dienstag mit Deinem Sohn und Deiner Familie aus? Und wie ein typischer Samstag?

Typische Wochentage gibt es bei uns nicht. Mein Mann ist dienstlich viel und weltweit unterwegs, gelegentlich auch an den Wochenenden. Benjamin studiert inzwischen Philosophie. Sein Semesterplan ist, positiv formuliert, sehr abwechslungsreich. Er hat mitunter auch an den Wochenenden Lehrveranstaltungen. Meine eigenen Veranstaltungen folgen ebenso keinem Rhythmus, sondern den Wünschen der Organisatoren, und müssen in den Familienplan eingepasst werden, damit Benjamin immer einen Ansprechpartner zu Hause vorfindet.

Was sind die größten Herausforderungen in Eurem Leben? Gibt es Dinge, an die Du Dich einfach nicht gewöhnen kannst und möchtest?

Die größten Herausforderungen bringt nach wie vor der Alltag mit sich, auch wenn sich die Art der Anforderungen im Laufe der Zeit geändert hat. Früher benötigte mein Sohn lange Zeit eine physische Rund-um-die-Uhr-Betreuung (z. B. Begleitung auf allen Wegen bis zur Oberstufenzeit), jetzt hat sich dies überwiegend zu einer erklärenden und unterstützenden Betreuung gewandelt. Es sind oft die vermeintlich kleinen Dinge des Alltags, die für Autisten schwer zu meistern sind.
Wir haben eine Art private Gesprächstherapie etabliert, damit Unsicherheiten und Missverständnisse nicht zu Problemen wachsen, und dabei fragt Benjamin nicht nach der Uhrzeit. Eine ständige Erreichbarkeit gibt meinem Sohn die notwendige Sicherheit, um seinen Weg gehen zu können. Das Regeln, Strukturieren, Planen oder die Übernahme von alltäglichen Verrichtungen schaffen die benötigten Kraftreserven.

Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dass ich trotz meiner Erfahrung und Kenntnisse bestimmte Dinge, den Autismus meines Sohnes betreffend, immer noch nicht vorhersehen und damit im Vorfeld abwenden kann.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass Autismus bagatellisiert, verzerrt dargestellt oder verherrlicht wird.

Du hast ein Buch über Geschwisterkinder geschrieben. Erzähle bitte ein bisschen darüber – ist das eines Deiner Herzensthemen?

Danke, dass Du diese Frage stellst! Das Geschwister-Thema ist definitiv eines meiner Herzensthemen. Zum einen habe ich zwei weitere Kinder, wobei Benjamin das „Sandwich-Kind“ ist. Zum anderen ist dieses Thema bisher von der Fachwelt eher stiefmütterlich behandelt worden.
Ich suchte vor Jahren vergeblich nach Literatur oder Veranstaltungen zu diesem Thema und half mir dann selbst, indem ich für Benjamins Geschwister ein Programm entwickelte, damit sie mit der schwierigen familiären Situation zurechtkommen, da Benjamin beispielsweise bis zum Schulalter (fast) nicht sprach. Dieses Programm beinhaltete die Aufklärung über Autismus, Spiele zu Wahrnehmungsbesonderheiten, Geschichten zum Verständnis von autismus-typischen Besonderheiten und vieles mehr.

Vor drei Jahren überließ mir ein Veranstalter bei einem Fachtag die Wahl des Vortragsthemas und ich entschied mich für den Umgang mit Geschwisterkindern. Das Thema war offenbar reif und wurde begeistert aufgenommen, sodass weitere Anfragen und viele Rückmeldungen von Eltern folgten. Neben dem fachlichen Hintergrund und meinen persönlichen Erfahrungen ist auch der große Erfahrungsschatz dieser Eltern in das Buch eingeflossen.
Mein Buch über Geschwister, welches den Titel „Geschwister von Kindern mit Autismus“ trägt, vermittelt Familienangehörigen, wie es gelingen kann, dass Geschwisterkinder nicht an den Rand der Familie gedrängt werden, und wie gute Geschwisterbeziehungen trotz aller Probleme aufgebaut werden können.
Fachleuten gibt es Hinweise, welche Ratschläge sie Eltern bei Fragen zu den Geschwistern erteilen können, und es schlägt viele Aktivitäten vor, die sich für Geschwistergruppen eignen.

In Deinem Blog schreibst Du, dass er „Gedankenarbeitsplatz, Gedankenlagerplatz, Gedankenhandelsplatz und Gedankenspielplatz zugleich“ ist. Das hört sich spannend an. Arbeitest, lagerst, handelst oder spielst Du mehr in und mit Deinem Blog? :-)

Ich handele mehr in und mit meinem Blog, und zwar aus folgendem Grund:
Das Ziel meines Blogs ist weniger die Aufklärung über Autismus, denn hierfür gibt es bereits gute Seiten wie beispielsweise diese hier. An dieser Stelle möchte ich Dir, liebe Silke, für Deine unermüdliche Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit danken …

Das ist ganz lieb, Dank zurück :-)

… Mit meinem Blog als Gedankenarbeitsplatz möchte ich ein Nachdenken oder Umdenken anregen, und zwar durch Beiträge, die wachrütteln oder Diskussionen anstoßen. Ich möchte gelegentlich auch ein wenig Verwirrung stiften, um Neugierde auf das Thema erst zu wecken und dann zu befriedigen.
Hier deponiere ich ebenso Gedanken, die bisher in meinen Büchern oder Veranstaltungen keinen Platz fanden und die nicht als herrenlose, unbeaufsichtigte Daten auf meinem Rechner, flüchtend von einem Ort zum anderen wie die verbrauchten Leben in dem Spiel „Continue?9876543210“, herumgeistern sollen.
Sehr wichtig finde ich weiterhin, wundervolle Erlebnisse zu teilen, die ich nur haben durfte, weil mein autistischer Sohn genau so und nicht anders ist. Dies betrachte ich eher als die spielerische Seite des Blogs – sie spendet Kraft und ist frei von düsteren Gedanken.
Der Gedankenhandel entsteht auf allen drei zuvor genannten Ebenen, beispielsweise dadurch, dass Leser sich zu den Themen bei mir melden, dass sie mich bei Veranstaltungen daraufhin ansprechen oder dass Begegnungen, sowohl angenehme als auch unangenehme, neue Texte anregen.

Wo findet man Dich, wie kann man Dich kontaktieren und für welche Art von Veranstaltungen buchen?

Auf meiner Webpräsenz  finden sich Informationen zu meinen Büchern, Aktivitäten und Veranstaltungen.
Bei meinen Veranstaltungen richte ich mich nach den Wünschen der Organisatoren. Die Art der Veranstaltung betreffend sind Vorträge, Workshops … oder Lesungen möglich. Inzwischen biete ich vielfältige Themen an (z. B. Geschwister, Wahrnehmung, Kommunikation). Einen Einblick in die Themen und Arten meiner Veranstaltungen gibt die Rubrik „Veranstaltungen“ mit dem Veranstaltungsarchiv auf meiner Website.
Ich bin unter der E-Mail-Adresse info@inez-maus.de zu erreichen.

Du triffst bei Deinen Veranstaltungen viele Menschen und sammelst reichlich Erfahrung. Was sollte sich Deiner Meinung nach für Autistinnen, Autisten und ihre Familien in unserer Gesellschaft verändern?

Unsere Gesellschaft sollte sich öffnen, genauer hinschauen und anders hinterfragen. Wenn sich beispielsweise ein autistisches Kind auffällig verhält, sollte nicht gefragt werden, was die Eltern in der Erziehung falsch gemacht haben, sondern warum sich dieses Kind so verhält und wie man helfen kann, die schwierige Situation aufzulösen.
Generell sollte sich die Gesellschaft mehr auf die Förderung der Stärken von AutistInnen konzentrieren. Im Bereich des Arbeitslebens gibt es hier bereits einige gute Beispiele. Im schulischen Bereich wird meiner Erfahrung nach weiterhin oft versucht, den Schulstoff auf konventionelle Art zu vermitteln.

Was wünschst Du Dir für die Zukunft Deines Sohnes?

Für meinen autistischen Sohn wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass er weniger an sich selbst zweifelt und dass er von möglichst vielen Außenstehenden so angenommen wird, wie er ist, wie er sein möchte. Ansonsten wünsche ich mir für ihn das, was ich allen meinen Kindern wünsche: dass sie ihre gesteckten Ziele erreichen und ein glückliches, selbstbestimmtes Leben führen.

Und wo siehst Du Dich selbst in zehn Jahren? Verrate uns einen Traum, den Du bis dahin verwirklichen möchtest.

Vielleicht in einer anderen Stadt. In zehn Jahren sollte auf meinem Laptop der Ordner mit künftigen Projekten geleert – oder besser noch mit neuen Dokumenten gefüllt – sein. Da das Leben nicht nur aus der Beschäftigung mit Autismus besteht/bestehen sollte, möchte ich eine ganz fremdartige Sprache, vielleicht Japanisch oder Chinesisch, versuchen zu lernen. Bisher fehlt dafür die Zeit.

Liebe Inez, vielen herzlichen Dank für den Einblick in Dein Denken und Deine wertvolle Arbeit. Ich wünsche Dir und Deiner Familie von Herzen alles Gute!

Zum Weiterlesen:

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