Gastbeitrag einer Autistin: Autismus – was ist das eigentlich?

veröffentlicht im Januar 2016


Herzlichen Dank an Samantha für ihre offenen Worte an uns Eltern. Ihre Gedanken, Erfahrungen und Anregungen können sicherlich für viele eine Hilfe sein.

Gastbeitrag: Autismus. Was ist das eigentlich?

Viele Eltern stehen zunächst vor einem großen Fragezeichen, nachdem ihnen offenbart wurde, dass ihr Kind autistisch ist. Autismus ist vielschichtig und jeder Autist ist ebenso einzigartig, wie andere Menschen auch. Aber dennoch gibt es viele Gemeinsamkeiten, die ein neurotypischer Mensch leider oftmals nicht nachvollziehen kann.

Ich, weiblich, 25 Jahre alt, bin Asperger Autistin. Ich bekam meine Diagnose erst mit 24 Jahren. Viel zu spät.  Vielleicht wäre mein Leben einfacher verlaufen, wenn meine Eltern im Jahr 1997 der Psychologin mehr Zeit sich zu erklären gegeben hätten.

Eltern tragen selten die Schuld daran, wenn ihr Kind eine Behinderung hat.

Nein, liebe Eltern, ihr habt nicht versagt. Und ja, es ist in Ordnung manchmal zu zweifeln oder zu weinen, weil ihr erschöpft seid.
Uns Autisten geht es da nicht anders. Es fühlt sich manchmal so an, als würden neurotypische Menschen und wir unterschiedliche Sprachen sprechen. Einige von uns Autisten sprechen gar nicht. Aber dennoch möchten wir uns mitteilen. Es würde uns sehr helfen, wenn ihr aufmerksam seid und uns beobachtet. Denn auch wir müssen euch beobachten, um zumindest halbwegs unbeschadet durch das Leben zu stolpern. Oftmals sieht man uns unsere Behinderung nicht an und deshalb werden die Probleme, die wir haben, manchmal verkannt. In uns tobt ein Sturm.
Täglich.
Geräusche, Gerüche, Anforderungen. All das prasselt auf uns ein wie ein Hagelsturm.

Bitte nehmt eure autistischen Kinder ernst, liebe Eltern.

Wir Autisten verabscheuen Lügen. Wenn uns eine Berührung wehtut, dann spielen wir das nicht vor.
Bitte seid nicht traurig, wenn euer Kind eure Umarmung ablehnt. Das bedeutet nicht, dass es euch nicht gern hat. Berührungen können sehr unangenehm sein. Besonders Streicheln und Umarmungen. Sanfte Berührungen sind dabei schlimmer als feste. Zumindest ergeht es mir so.

Und bitte seid auch nicht traurig, wenn euer Kind ein Elternteil zu bevorzugen scheint. Für uns Autisten ist es schwierig sich an mehr als eine Person zu binden. Es ist schwer, die Vorlieben und Abneigungen, die Gewohnheiten und kleinen Macken von mehr als einem Menschen zu deuten und in unserem Gehirn zu speichern. Ich war, beispielsweise, ein Kind, das besonders an seiner Mutter hing.  Viel lieber spielte ich mit meiner Mutter, als mit anderen Kindern.

Bitte zwingt eure Kinder nicht mit anderen Kindern zu spielen, wenn sie das nicht möchten.

Natürlich ist der Kontakt zu Gleichaltrigen wichtig, aber wir können oftmals mit ihnen nicht umgehen. Sie sind anders als wir. Meistens sind sie in der Entwicklung weiter fortgeschritten und wir haben überhaupt nichts mit ihnen gemeinsam. Wenn sie sich nicht für unser Spezialinteresse interessieren, dann sind sie ohnehin kein guter Spielpartner. Aber selbst wenn sie es täten, wollen wir nicht, dass jemand in unser Schema eingreift.
Wir sind gern allein. Aber nicht einsam! Kinder brauchen Freunde und ihre Eltern. Aber autistische Kinder erleben Nähe anders. Es spielt sich viel in unseren Köpfen ab, was wir äußerlich entweder nicht zeigen.

Ich kann sehr wohl lieben.

Ich bin treu und erwarte das auch von meinen Mitmenschen. Aber Freundschaften kommen und gehen. Das können unser Herz und auch unser Verstand manchmal nicht verkraften.
Eltern aber sind immer da! Bis sie sterben. Zumindest sollten sie immer da sein. Bitte unterstützt eure Kinder solange ihr könnt. Vielleicht werden sie euch eines Tages nicht pflegen können, aber sie werden euch für immer dankbar dafür sein, dass ihr sie so akzeptiert, wie sie sind. Das ist sehr wichtig. Denn Autisten sind nicht falsch. Wir sind nur anders.

Bitte versucht eure Kinder nicht in eine Rolle zu drängen, in das es nicht passt.

Und bitte sagt ihm auch nicht, dass es sich einfach nur mehr anstrengen muss. Autismus ist eine Behinderung. Auch wenn manche Autisten das selbst nicht gern hören. Wir können Vieles erlernen, aber nicht alles.
Schimpft nicht mit euren Kindern, wenn sie etwas nicht verstehen oder falsch machen. Und wenn es doch mal nötig ist zu schimpfen, weil es gefährlich ist, dann versucht euch zu erklären.

Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass ich Aufforderungen selten gefolgt bin, wenn ich sie nicht verstand. Es muss eine Logik und einen Sinn ergeben. Bitte begründet, warum euer Kind etwas nicht tun darf.
Versucht es zumindest. Aber natürlich  müssen eure Kinder, genau wie neurotypische Kinder, auch ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen. Also behütet sie auch nicht zu stark.

Ein Haustier kann ein guter Begleiter für euer Kind sein.

Besonders Hunde. Sie sind geduldig, erwarten nicht viel und ihre körperliche Nähe ist auch viel einfacher zu ertragen, da sie keine Umarmungen und Streicheleinheiten verteilen. Ein Hund kann euer Kind lehren, Verantwortung zu übernehmen und Rücksicht zu nehmen. Hunde zeigen deutlich, was ihnen nicht behagt.
Menschen sind da anders. Sie umschreiben alles. Hinter einem Lächeln kann sich immer auch mehr verbergen. Ein Schwanzwedeln dagegen ist immer ehrlich.

Es ist wirklich schwierig Tipps zu geben und ich kann eigentlich auch nur meine eigene Meinung vertreten.

Aber ich bin mir sicher, dass andere Autisten ähnlich denken.
Bitte seid nicht zu stolz, Hilfe anzunehmen, liebe Eltern. Es ist nicht falsch sich helfen zu lassen. Eine Schulbegleitung für euer Kind oder ein Begleithund können sehr förderlich sein. Mir wurde bisher jegliche Hilfe verwehrt und ich hätte mir solch eine Unterstützung gewünscht.

Die Schule und andere Kinder können grausam sein. Wenn Privatunterricht möglich ist und euer Kind damit besser zurecht kommt, solltet ihr es eventuell in Erwägung ziehen. Zwingt eure Kinder nicht in Normen, die ihnen schaden. Natürlich gibt es aber auch Kinder, die gerade die Herausforderung suchen und so gewöhnlich wie möglich leben möchten. Dann solltet ihr das auch akzeptieren.

Wenn euer Kind sich relativ gut mitteilen kann, dann habt ihr sehr großes Glück. Nutzt jegliche Kommunikation zwischen euch und eurem Kind, die sich euch bietet. Es wird euch helfen!

Nehmt Rücksicht auf eure Kinder, aber gönnt euch auch Zeit für euch. Denn ihr braucht eure Kraft.

Ich wünsche allen Eltern von autistischen Kindern viel Mut, Kraft, Gelassenheit und Liebe. Seid stark, eure Kinder müssen es auch sein!  

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Oh, danke! Das tut mir als Mutter eines 23-jährigen A-typischen Autisten grade sehr gut. Er hatte jetzt eben einen Impulsdurchbruch, bei dem ich echt Angst hatte vor ihm. Wenn ich sowas doch vorher sehen könnte, wäre das oft eine Erleichterung.

    1. Es freut mich sehr, dass ich helfen kann!

      Lassen Sie ihrem Sohn einfach einen Moment seine Ruhe. Solche Ausbrüche vergehen auch wieder, können aber sehr heftig sein. Da sollte man besser nicht im Weg stehen. Eine beschwichtigende Umarmung bewirkt da eher das Gegenteil.
      Als ich jünger war, habe ich immer Dinge gegen die Wand geworfen. Das hat mir geholfen. Da mir mein Spielzeug aber zu wertvoll war, waren dies zumeist Dinge, die nicht so schnell kaputt gingen ;)

      Sie müssen wirklich keine Angst haben! Das geht nicht gegen Sie! Lassen Sie ihn einfach in Ruhe, bis er sich beruhigt hat. In solchen Momenten ist einfach alles zu viel. Das hat aber nichts direkt mit Ihnen zu tun und ihr Sohn würde Sie sicher nicht absichtlich verletzen wollen.
      Leider sehen auch wir Autisten das nicht vorher kommen. Tut mir leid.

  2. Hallo, was haben Sie dass schön umschrieben und verwörtet. Ich bin mutter von 3 Kinder mit autismus. Hätte ich so ein schreiben 10 jahre früher lesen können hatte dass so geholfen. Ich hatte begriffen dass mein Kind mich liebte, dass ich es nicht anfassen solte wenn ihr kopf zu voll war und so weiter. Es ist sehr gut dass Sie diesen blog schreiben.. Grüsse aus Enschede, Niederlande

  3. Danke für diese berührende Beschreibung! Ich hoffe ganz viele Eltern autistischer Kinder lesen diese Zeilen.
    Leider ist ein korekter „Button“ (=richtige Diagnose) nötig, um überhaupt eine passende Unterstützung bekommen zu können. Und selbst das ist schwierig, da den Fachärzten oft das Fachwissen fehlt (sie kommen schlichtweg nicht auf die Idee, daß ein „absolut unerzogen“ wirkendes Kind ein Autist sein könnte) und Therapeuten mit Feeling für Autismus dünn gesät und kompetente Schulbegleitungen Mangelware sind. Oft leben Familien mit autistischen Kindern am Limit, weil es zwar theoretisch Hilfen gibt, die praktisch aber nicht verfügbar sind.
    Hier möchte ich an alle Eltern mit autistischen Kindern appellieren: hört auf euer Bauchgefühl, auf euer Herz und kämpft um eine adäquate (=zu euch und eurer Situation passende) Unterstützung und läßt euch nicht überreden euer Kind in eine Einrichtung zu geben oder mit Medikamenten passend zu machen. Schließt euch Selbsthilfegruppen an zur Stärkung.

  4. So ist es Bärbel Heiland.
    Wir finden zB keinen Kurzzeitpflegeplatz, richtige Heimplätze gibt es eher, allerdings sind gute sehr rar. Viele sind fast Seniorenheime…
    Danke Samantha ?

  5. Ich bin gerade sehr berührt, und hab dass beruhigende Gefühl, nicht allein zu sein. Ich bin Mama einer 15 jährigen Tochter und erlebte leider auch oft dieses Ohnmachtsgefühl. Aber die Diagnose kam bei ihr auch erst vor ca. 5 Jahren. Seitdem hat sich vieles gebessert, sie hat ihren eigenen Rhythmus, was Veränderungen und Fortschritte betrifft, dennoch hat sie fast alles nachgeholt und geschafft,wenn auch manchmal den 2. vor dem 1. Schritt.
    Danke für den tollen Beitrag.

  6. Danke für Deine Ausführungen, es hat mich sehr berührt und ich werde versuchen vieles zu beherzigen was Du geschrieben hast. DANKE für Deine Offenheit und Einblicke in Dein Inneres! Ihr könnt uns so gut durch diese „Seeleneinblicke“ helfen Euch besser zu sehen und ich denke ich kann dadurch wieder ein wenig mehr unseren Kleinen verstehen…

  7. Hallo ich finde deinen Beitrag sehr gut.
    Es umschreibt sehr gut wie es in mir aussieht.
    Ich habe meine Diagnose Aspgerger Syndrom mit 13 erhalten.
    Seitdem habe ich bis ich 18 wurde sämtliche Unterstützung bekommen.
    Ihr Beitrag zeigt Eltern das sie nicht aufgeben sollen.

  8. Hallo Samantha

    ich bin Mutter einer 16jährigen Tochter. Wir haben seit 3 Jahren die Diagnose.
    Wir haben regelmäßig Therapie und auch Schulbegleiter.
    Beides war ein Segen für uns. Sie ist unser 5. Kind und wir hatten schon vorher
    Jungs mit ADS und somit konnten wir von Anfang an mit den Schwierigkeiten
    unserer Tochter sehr gut umgehen. Trotz allem hatten wir irgendwann keinen
    Zugang mehr zu ihr. Sie kam nach der Grundschule aufs Gymnasium und die
    beiden Jahre dort ohne Diagnose und Schulbegleitung hatten das verursacht.
    Seit wir Schulbegleitung und Therapie haben geht es ständig Berg auf. Es
    kommen immer wieder neue Situationen die nicht sofort geklärt werden
    können, aber im Großen und Ganzen läuft es ziemlich gut.
    Ohne Schulbegleiter und Therapie, weiß ich nicht wo wir gelandet wären.
    Dein Beitrag hat mir auch sehr geholfen, vieles hab ich gefühlt das es so ist,
    aber es ist dann schön, wenn eine Bestätigung kommt. Unsere Tochter kann
    noch nicht erklären, wie sie sich fühlt.

    Vielen Dank für die tollen Einblicke.

  9. Vielen Dank. Der Beitrag ist toll und beinhaltet so unglaublich viel, was ich nicht in Worte fassen kann, aber genauso empfinde.

  10. Danke für diesen Beitrag ❤️❤️❤️ ich bin Mama von zwei total unterschiedlichen Aspergern. Ich finde der Beitrag sollte bei jeder Diagnose mit bei liegen. So tolle Worte ❤️?
    Es ist so schwer einen Weg zu finden in dem man sich halbwegs sicher fühlt.

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