Anita schrieb mich an, weil sie für ihre Tochter keinen geeigneten Platz in einer Werkstatt oder Tagesstätte findet. Die Rahmenbedingungen, die ihre fast erblindete und autistische Tochter braucht, sind bisher leider nicht geschaffen worden. So bleibt die 25jährige junge Frau zuhause und von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen.
Liebe Anita, Deine Tochter ist Autistin. Wie alt ist sie, welche Diagnosen hat sie und wie zeigt sich der Autismus in ihrem Leben?
Meine Tochter ist 25 Jahre alt, sie hat eine Intelligenzminderung und eine Autismus-Spektrum-Störungen (es sind alle Wahrnehmungsbereiche betroffen).
Aufgrund der erblich bedingten und nicht heilbaren Netzhauterkrankung „retinitis pigmentosa“ sterben bei meiner Tochter die Sehzellen in der Netzhaut vom äußeren Rand nach innen hin ab bis nur noch ein sogenannter Tunnelblick (Röhrengesichtsfeld) übrig bleibt. Das ist mit hohen psychischen Belastungen verbunden.
Sie hat inzwischen nur noch ein Sehvermögen von zwei Prozent und weniger und ist mittlerweile als gesetzlich blind eingestuft.
Mit fünf Jahren wurden Wahrnehmungsstörungen diagnostiziert, die mir schon zuvor aufgefallen waren. Als meine Tochter zwei bis drei Jahre alt war, stellte ich fest, dass sie immer ängstlich und zurückhaltend war, sie hatte kaum Bewegungsdrang, war sehr müde und träge und schlief nachts schlecht.
Wasserspritzer oder nur die Ahnung, dass sie nass gespritzt werden könnte, waren purer Horror für sie, wobei Baden und Duschen kein Problem waren. Wenn etwas an ihr oder ihrer Bekleidung feucht war, musste es sofort getrocknet werden.
Meine Tochter wollte nicht im Sandkasten spielen und konnte mit fünf Jahren nur undeutlich sprechen. Heute spricht sie mit einem großen Wortschatz völlig normal.
Die Diagnose Autismus-Spektrum Störung kam erst nach Eintritt in die WfbM (Werkstatt für behinderte Menschen) mit 20/21 Jahren. Die Auffälligkeiten in dieser Hinsicht wurden immer größer, alles war zu laut und zu viele Menschen, z.B. im Gruppenraum mit 25 Personen, in den Pausen und während der Essenszeiten im Speisesaal waren für sie belastend.
Wenn es zu laut ist, zieht sich meine Tochter zurück. Sie mag Berührungen nur, wenn sie von ihr ausgehen. Sie scannt die Menschen, denen sie begegnet, ganz genau ab und stuft sie in zwei Kategorien ein: anstrengend und angenehm.
Die Sortierung erfolgt über Ausdrucksweise, Empathie, Begegnung auf Augenhöhe, kein Witz und keine Ironie. Ein sehr wichtiges Merkmal ist die Stimme der Person. Sie darf nicht zu hoch, sondern sollte eher tief sein und man sollte sehr ruhig sprechen.
Hektische Menschen lehnt sie von vornherein ab. Erstmal abwarten und zuhören ist wichtig.
Meine Tochter mag es ordentlich und strukturiert. Abweichungen vom Tagesplan sind schwierig. Nach Eintritt in die Werkstatt kamen extreme Zwänge zum Vorschein, mit denen sie sich den nötigen Halt verschaffen wollte.
Die Haare müssen mittlerweile ganz stramm geflochten werden, damit sie sich spürt. Vorher hatte sie einen lockeren Pferdeschwanz zugelassen und sich selbst frisiert.
Danach folgen kleine Haarspangen (18 Stück) in einer jeden Tag gleich verlaufenden Anordnung. Sie legt sie sich abends zurecht und wehe es bringt jemand durcheinander.
Danach wickelt sie sich einen Schal um den Hals (auch bei 35 Grad) ebenso in einer gewissen Abfolge mit Drehungen und Knoten. Das Ritual dauert ca. eine Stunde und verläuft jeden Tag gleich. Eine andere Reihenfolge geht nicht.
Ganz heftig sind die ständigen Gedankenspiralen, eigentlich über den ganzen Tag verteilt. Alles wird durchdacht und zehn mal durchgesprochen. Wenn es ihr gut geht, spricht sie ununterbrochen und ohne Punkt und Komma, wenn es ihr schlecht geht, überhaupt nicht. Dann lässt man sie am Besten ganz in Ruhe, denn nachfragen wäre ganz falsch. Sie kann es in der Situation nicht erklären und kommt oftmals nach ein bis zwei Tagen von selbst wieder auf das Thema zurück.
Welche Stärken und Schwächen hat deine Tochter?
Sie kann sich viele Dinge unheimlich gut merken. Sie vergisst nichts! Das ist gerade bei Einkäufen besonders hilfreich. Sie hat gefühlt 100 Geburtstage mit Datum und oft auch noch Wochentage gespeichert. Zahlen, Daten Fakten, Begebenheiten kann sie nach Jahrzehnten noch auswendig. Manchmal wird ihr nicht geglaubt und dann wird sie sauer.
Im Haus wird vieles geordnet, die Wäsche faltet sie selbstständig, da gibt es keine Ecke, die nicht ganz genau aufeinander liegt.
Sie ist sehr empathisch und mitfühlend. Sie leidet mit den Menschen ihrer Umgebung mit, als wäre es ihr eigenes Leid.
Ihre Frustrationsgrenze ist sehr, sehr gering. Da rastet sie schnell aus, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht und ist schnell überfordert. In der WfbM ging es soweit, dass sie sich die Unterarme total aufgekratzt hat, weil es dann überall gejuckt hat.
Für das Zulassen von Neuem braucht man bei meiner Tochter viel Geduld.
Du hast die Werkstatt schon erwähnt. Wie ging es deiner Tochter dort?
Es ging ihr von Angang an schlecht, einfach weil man auf ihre Bedürfnisse, auch im Hinblick auf die zunehmende Erblindung nicht eingehen konnte und wollte.
Zuhause war sie dann total erschöpft, konnte einfach nicht mehr. Totale Nervösität, ständiges Gejammere. Ich musste sie dann separat essen lassen, weil sie die Ruhe brauchte.
Morgens wurden die Rituale immer wichtiger, und wehe eine Haarsträhne lag schief und die Klämmerchen konnten nicht genau festgemacht werden, dann ging das Getobe los. Es war einfach der pure Stress. Auch eine mittlerweile erwirkte Arbeitszeitverkürzung brachte nicht den Erfolg, den wir uns erhofft hatten, da die Einrichtung die Bedingungen nicht so anpassen konnte, dass meine Tochter sich besser fühlte und Vertrauen hätte aufbauen können.
Was hätte Deiner Meinung nach angepasst werden müssen, damit sie sich in der Werkstatt hätte wohlfühlen können?
Für die große Gruppe hätte sie am Anfang eine Eins-zu-Eins-Betreuung gebraucht; diese war leider nur kurze Zeit realisiert worden. Später hätte sie eine flexibel einsetzbare Zusatzkraft in der Gruppe gebraucht, die immer dann da ist, wenn´s brennt (rw).
Außerdem braucht sie eine Begleitung während der Essens- und Pausenzeiten, gerade auch im Hinblick auf die Ängste aufgrund der Erblindung.
Eine Zusatzkraft für neun Stunden pro Woche war genehmigt, aber davon wurden schon drei Stunden abgezogen, das sollten die zwei Grupenbetreuer leisten, die restliche Zeit war fest vorgegeben, da hat man meine Tochter jeweils für eine Stunde aus der Gruppe genommen, einmal vormittags und einmal nachmittags. Die restlichen vier Stunden konnten aufgrund von Personalmangel nicht geleistet werden.
Sie braucht Begleitung in der Mittagspause, damit sie zu den anderen Freundinnen hätte gehen können. Aber da hat man sie zu ihrem Sitzplatz in der Pausenhalle gebracht und dann alleine sitzen lassen. Sie wäre gerne zu den anderen gegangen, konnte es aber aufgrund ihrer Sehbehinderung nicht. Eine andere Organisation war leider nicht möglich, da bin ich nur auf Gegenwehr gestoßen.
Für meine Tochter wäre eine kleine Gruppe mit maximal sechs Personen hilfreich gewesen. Sie braucht empathische Gruppenbetreuer und Mitarbeiter, die Kenntnisse über das Autismus-Spektrum haben. Das war nicht gegeben und auch eine Schulung erfolgte leider nicht. Sie braucht außerdem Verständnis für ihr Verhalten und die Ängste, gerade im Hinblick auf die Sehminderung. Ein paar Leitlinien oder Kontraste, die Sehbehinderte benötigen, um selbstständiger zurecht zu kommen, wurden nicht realisiert und vom medizinischen Dienst der WfbM abgelehnt. Ich habe es mehrmals versucht, ihr Reha-Trainer hat Vorschläge gemacht, eine Mitarbeiterin der Pro Retina war vor Ort, es war leider alles umsonst.
Inzwischen ist deine Tochter nicht mehr in der Werkstatt. Wie kommt Ihr zuhause zurecht? Hast Du Hilfe bei der Betreuung?
Ich arbeite Teilzeit. Montag und Dienstag bin ich zuhause und kann sie betreuen. Mittwoch und Donnerstag kommt eine junge Frau von der ambulanten Wohnbetreuung nachmittags für jeweils zweieinhalb Stunden und unternimmt etwas mit ihr. Die restliche Zeit ist sie viel alleine.
Freitag ist sie bis 14.00 Uhr oftmals alleine, mein Mann arbeitet im Schichtdienst oder meine Mutter kümmert sich um meine Tochter. Ich bin dann ab 14.00 Uhr zu Hause.
Sie langweilt sich, hat deshalb viele depressive Phasen, es fehlt der Sozialkontakt. Daher hat sie noch mehr Gedankenspiralen, weil die Ablenkung fehlt.
Ich gebe ihr kleine Aufgaben, z.B. Spülmaschine ausräumen, Wäsche falten, unsere Katze versorgen, zusätzlich Hörspiele…da hat sie ein Abspielgerät für blinde Menschen. Ansonsten gibt es nicht viel.
Ein hoher Stellenwert hat das therapeutische Reiten, das ist Balsam für Leib und Seele. Sie liebt die Pferde und die Atmophäre im Reiterhof. Dort fühlt sie sich sicher und bewegt sich selbstständig. Es ist einfach nur schön und auch für mich die Erholung pur. Sie ist total glücklich auf dem Rücken der Pferde. Wir fahren so oft es geht dorthin.
Was wünschst Du Dir für ihre Zukunft?
Für die Zukunft wünsche ich mir für sie eine Beschäftigung und Teilhabe in unserer Gesellschaft. Ein neuer Geschäftsführer und ein neuer Sozialdienst sollten dies vielleicht möglich machen. Hier ist ein Umdenken im Gange.
Der neue Leiter Sozialdienst möchte auch für Menschen wie meine Tochter geeignete Bedingungen schaffen. Dafür braucht es noch entsprechende Räumlichkeiten, für die ich mich mit einsetzen werde.
Ich bleibe dran, lasse den Verantwortlichen einfach keine Ruhe und nerve im wahrsten Sinne des Wortes fast jeden Tag die Menschen, die diese Entscheidungen zu treffen haben. Ich habe die Vorsitzende vom Beirat für Menschen mit Behinderungen um Hilfe gebeten und ein Mitglied des Landtages hat sich bereits vermittelnd eingesetzt. Aber diese Mühlen mahlen einfach zu langsam.
Eine angegliederte Tagesförderstätte als Alternative zur Werkstatt gibt es hier nicht. Und für eine Tagesförderstätte etwas weiter entfernt sei meine Tochter geistig zu fit.
Wie geht es Dir als Mutter?
Ich als Mutter bin immer dann glücklich, wenn es meiner Tochter gut geht. Wenn sie lacht und es Menschen gibt, die sie und ihre Besonderheiten verstehen.
Aber da gibt es in unserer ländlichen Gegend leider zu wenige. Hier im Kreis ist die Welt in Bezug auf Autismus noch immer mit Brettern vernagelt.
Ich wünsche mir, dass Aufklärung über Autismus zugelassen wird.
Ich wünsche mir Menschen, die nicht abgestumpft sind und nicht nur Dienst nach Vorschrift machen, dass sie eigene Ideen und Gedanken entwickeln und zusammen (auch mit den Eltern) etwas bewirken wollen, das wünsche ich mir.
Ich wünsche mir mehr Personal für die WfbM und dass starre Vorgaben der 1:12 Betreuung auch abgewandelt werden können. Werkstattfähigkeit sollte unterstützt werden, anstatt dagegen zu arbeiten.
Ich könnte da noch endlos weiterschreiben, ich denke es geht allen Müttern, Familien oder Betroffenen so. Niemals aufgeben, immer weiter kämpfen.
Am Ende wird alles gut, wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.
Danke, liebe Anita, für diesen besonderen und bewegenden Einblick in Euer Leben. Ich wünsche Deiner Tochter und Dir, dass sich Wege auftun, die ihr Teilhabe und ein ausgeglichenes, glückliches Leben ermöglichen.
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