Eltern sind froh, wenn sie für ihr entwicklungsverzögertes oder behindertes Kind einen geeigneten Kindergartenplatz gefunden haben. Das Kind hat einen Ort, an dem es sich wohlfühlen kann und gefördert wird. Außerdem trifft man auf andere Eltern, mit denen man sich austauschen kann, weil sie ähnliche Probleme und Sorgen haben.
So denken die meisten, aber nicht alle.
Endlich ein geeigneter Kindergarten
„Ich war so happy, als meine Lina in der integrativen Gruppe unseres städtischen Kindergartens einen Platz bekam“, erzählt Tanja. „Nun wusste ich, dass sie gut aufgehoben war und auch so gefördert wurde, wie sie es brauchte.“
Auch Harald berichtet davon, dass er erleichtert war, einen guten Platz für seinen Sohn gefunden zu haben.
So beginnt meist eine aufregende und prägende Kindergartenzeit mit dem eigenen Kind, anderen Kindern und den MitarbeiterInnen der Einrichtung.
Harald erzählt weiter: „Ich freute mich auch auf den Austausch mit den anderen Eltern. Es ist doch gut in einem Boot mit anderen zu sitzen und sich gegenseitig unterstützen zu können.“
So denken viele Eltern – aber eben nicht alle.
Und dann werden diejenigen, die auf solidarische Gemeinschaft mit anderen Förderkinder-Eltern hoffen, auch manches Mal enttäuscht. Natürlich gibt es diejenigen Eltern, die sich über Austausch und gegenseitige Unterstützung freuen, aber es gibt auch diejenigen, die sich bewusst abgrenzen.
Auch ich kann mich noch gut an eine Mutter erinnern, die zu Niklas‘ Kindergartenzeit zu mir sagte: „Mein Kind holt das alles noch auf, es ist nicht so behindert wie Deins.“ Und ein Vater bemerkte ein anderes Mal: „Wir brauchen den Förderplatz eigentlich nicht wirklich, es wird noch alles normal werden“. Wenn das Eltern sagen, deren Kinder eine offensichtliche Behinderung haben, fragt man sich dann schon, was solche Bemerkungen sollen.
„Lina konnte mit vier Jahren noch nicht laufen“, berichtet Tanja. „Beim ersten Elternabend fragte damals eine Mutter, deren Kind mit einer ausgeprägten Epilepsie den Kindergarten besuchte und wegen der Verletzungsgefahr einen Helm trug, ob denn trotz der Förderkinder, die nicht laufen können, regelmäßig Ausflüge gemacht würden. Sie hoffe, dass die anderen Kinder deshalb nicht ausgebremst werden. Das kam, wie gesagt, von der Mama eines anderen Förderkindes – ich war total perplex.“
Auch Harald weiß von einer ähnlichen Begegnung zu berichten: „Ein Vater meinte einmal zu mir, dass Kinder wie mein Maximilian doch in einem Sonderkindergarten besser aufgehoben wären. Dieser Vater hatte selbst einen Sohn mit extrem verzögerter Sprachentwicklung und vermutlich geistiger Behinderung.“
Das sind nur einige Beispiele dafür, dass es leider nicht so ist, dass Familien mit behinderten Kindern grundsätzlich in einem Boot sitzen (rw), jedenfalls verhalten sie sich nicht immer so.
Ich musste damals schwer schlucken, als ich diese Erfahrung machte. Niklas war von Anfang an ein offensichtlich behindertes Kind. Er erfuhr viel wertvolle Akzeptanz von allen Kindern in seinem integrativen Kindergarten. Von deren Eltern konnte man das leider nicht ausnahmslos behaupten. Und ich möchte das Thema hier aufgreifen, um denjenigen, denen es möglicherweise genauso geht, zu zeigen, dass sie mit diesen Erfahrungen nicht alleine sind.
Verarbeitung bei den Eltern
Ich vermute, dass das unter anderem daran liegt, dass jedes Elternteil unterschiedlich lange braucht, um zu realisieren und zu verarbeiten, dass das eigene Kind eine Behinderung hat. Ich spreche hier nicht von entwicklungsverzögerten Kindern, die in manchen Belangen einfach nur etwas mehr Zeit brauchen, sondern von Kindern, die wie Niklas offensichtliche Einschränkungen haben. Man möchte nicht „dazu“ gehören, denn man hatte ja eigentlich ganz andere Pläne und Wünsche und kann noch nicht loslassen. Daher grenzen sich diese Eltern ab.
Mir selbst ging es so, dass ich in Niklas‘ ersten 18 Lebensmonaten nichts von dem Thema „Behinderung“ wissen wollte. Dann setzte aber nach und nach das Begreifen ein. Das war alles andere als einfach, es war schmerzhaft, aber unvermeidlich und am Ende in gewisser Weise befreiend, weil ich meine Kraft nicht mehr dafür verbrauchte, um an etwas festzuhalten, was eben einfach nicht war.
Als Niklas drei Jahre alt war, war dieser Prozess abgeschlossen, es war klar, dass er und damit wir alle ein anderes Leben führen würden als das, was gemeinhin als „normal“ angesehen wird. Im Kindergarten dann auf Eltern zu treffen, die diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen hatten und das eigene Kind gegen mein Kind ganz bewusst abgrenzten, war dann verletzend und wirkte auch irgendwie irrational.
Exkurs zum Thema Behinderung
Nun habe ich hier schon oft das Wort „Behinderung“ geschrieben und ich weiß, dass sich manche daran stoßen oder sich scheuen, es zu verwenden. Anfangs sprach ich auch immer von meinem „besonderen“ Kind, um „behindert“ zu vermeiden. Aber im Laufe der Zeit erschien es mir richtiger, von Behinderung zu sprechen, denn genau eine solche hat mein Sohn und zwar nicht nur, weil ihn die Gesellschaft oft behindert, sondern auch weil er von sich aus Handicaps hat, mit denen er leben muss, ganz gleich, wie gut oder schlecht er inkludiert ist.
Ich empfinde es nicht als negativ, das ganz klar zu benennen, denn so signalisiere ich auch nach außen, dass ich mir der Situation bewusst bin. Gesprächspartner fühlen sich dadurch auch sicherer, weil sie registrieren, dass ich den Umstand akzeptiert habe und offen bin, darüber zu sprechen. Ich habe schon einige Male die Erfahrung gemacht, dass Gespräche leichter möglich sind, wenn man offen über die Behinderung des eigenen Kindes spricht.
Außerdem kann man viel besser verdeutlichen und mit Nachdruck dafür kämpfen, dass er entsprechende Hilfen bekommt.
Sicherlich sind hier die Grenzen fließend, gerade im Autismus-Spektrum gibt es Autistinnen und Autisten, die sich nicht als behindert sehen und das kann ich voll und ganz nachvollziehen und respektieren. Aber es gibt eben andere mit deutlicheren Einschränkungen und enormem Hilfebedarf und hier kann und kann man meiner Meinung nach klar benennen, dass es so ist.
Zurück zum Kindergarten …
und den verschiedenen Verarbeitungsstufen dieses Themas bei Eltern.
Vielleicht kann es helfen, sich vor Augen zu führen, dass solche Äußerungen wie „Dein Kind ist viel behinderter als meins“ eigentlich nichts mit einer persönlichen Ablehnung des eigenen Kindes zu tun haben. Sie zeigen, dass die Eltern des anderen Kindes die Tatsache, dass ihr Kind eine Behinderung hat, noch nicht verarbeitet haben. Daher grenzen sie sich erstmal ab, das ist reiner Selbstschutz, da alles andere sie (noch) überfordern würde. Mit dem Alter der jeweiligen Kinder hat das meistens nichts zu tun, sondern eigentlich fast immer mit der Persönlichkeit der Eltern.
Das ist die Theorie – in der Praxis ist es natürlich dennoch schwierig, solche Äußerungen an sich abprallen zu lassen.
Schön ist es, dass im „Club der Förderkindereltern“ auch immer Eltern sind, die sich durchaus untereinander austauschen und am Leben der anderen teilhaben wollen. Das ist dann außerordentlich bereichernd – oftmals über Jahre hinweg und weit über die Kindergartenzeit hinaus. :-)
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Zum Weiterlesen:
Wie wir das Leben den Bedürfnissen unseres Kindes anpassten und nicht umgekehrt
Liebe Silke,
es tut mir Leid, dass du mit Niklas diese Erfahrungen machen musstest. Ich habe auch einen inzwischen erwachsenen Sohn mit Autismus (Asperger) und habe alle Phasen durchlebt, die du beschrieben hast, sehe es aber etwas anders.
Ich habe mittlerweile großes Verständnis dafür, wenn sich Eltern, Menschen mit Behinderungen, Behinderte, Menschen mit Beeinträchtigungen, wie auch immer man sich nennen mag voneinander abgrenzen möchten, da ich denke, dass es nicht anders geht, wenn man sich weiterentwickeln möchte.
Auch die meistens Menschen ohne Behinderungen grenzen sich bewusst oder unbewusst voneinander ab und es ist daher auch ein Prozess der Gleichstellung, dass sich auch Menschen mit Behinderungen und ihre Eltern voneinander abgrenzen möchten.
Ich glaube es ist viel mehr von der Umwelt abhängig als von der eigenen Akzeptanz der Behinderung, als viele denken. Ich habe oft die Erfahrung gemacht das Kinder mit Behinderungen auch solche mit sehr starken Einschränkungen von Fachkräften ausgebremst wurden.
Leider sind Fördereinrichtungen, die auch ihren Namen verdienen rar gesät.
Auch in unseren damaligen Asperger-Eltern-Gruppen merkte man recht schnell, die gegenseitige Konkurrenz über die Fähigkeiten der eigenen Kinder. Wir haben uns damals viel wohler gefühlt, wenn wir einfach „nur“ in Kinder/Elterngruppen waren, die einfach offen für alle waren.
Als mein Sohn dann eine schwere Krankheit bekam, die auch nach außen sichtbar war wurde er plötzlich nur aufgrund der äußeren Erscheinung als „stark behindert“ eingestuft, obwohl er „nur“ krank war. In dieser Zeit verloren wir dann viele Kontakte zu Menschen die zwar Einschränkungen, aber nicht so starke Einschränkungen hatten.
Wir haben dann aber wieder andere Kontakte zu Menschen ohne Behinderungen gefunden von denen wir es zunächst gar nicht erwartet hätten. Vielleicht auch, weil es dann keine Konkurrenz gibt.
Aus meiner Sicht wird sich dieses Problem nicht lösen, so lange ein so großer Prozentsatz von Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen leben und in der Gesellschaft zu wenig sichtbar sind.