Wenn kein emotionaler Puffer mehr bleibt oder: „Ich lebe emotional zwei Leben.“

veröffentlicht im Januar 2020


Viele von uns werden das kennen – man muss im Alltag funktionieren und mit einem Kind, das besondere Bedürfnisse hat und dazu noch Hilfe in allen Lebenslagen braucht, muss man das noch mehr.

Niklas ist abhängig von uns – wir können nicht einfach mal sagen, dass er sich heute ausnahmsweise alleine anziehen, alleine waschen, alleine frühstücken muss, weil es uns nicht so gut geht. Ich kann auch nicht sagen, dass er mich mal einen Tag lang bitte in Ruhe lassen soll, weil ich Kopfschmerzen habe oder weil sein Papa beruflich verreist oder selbst krank ist.

Die eigenen Befindlichkeiten müssen eigentlich immer zurückstehen, kleine Auszeiten und Freiheiten in Form von selbstbestimmtem Tun und Planen sind Luxus und genieße ich sehr bewusst.
Das kennen die meisten Eltern, gerade natürlich wenn man noch kleine Kinder hat. Aber dann ist es eine Phase, die auch irgendwann vorübergeht, weil die Kinder selbstständiger werden. Bei uns und vielen anderen Familien ist das nicht der Fall.

Dazu kommt, dass Niklas‘ Bedürfnisse tief in meinem Bewusstsein verankert (rw) sind. Da er mir nicht zuverlässig sagen kann, wann genau und wie sehr etwas schmerzt, was sich komisch anfühlt und wann man demzufolge vielleicht zum Arzt gehen sollte, sind meine Antennen immer auf ihn gerichtet (rw). Es könnte ja sein, dass ich Anzeichen, die von Bedeutung sind, übersehe, falsch deute oder übergehe.
Es könnte sein, dass ich Sorgen und Nöte nicht erkenne, weil er sie mir nicht sagen kann und Gebärden auch manchmal versagen.
Es ist ein ständiges Sich-Einfühlen und Beobachten, das zwar sehr viel Nähe und Vertrautheit bringt, aber auch emotional anstrengt.
Eine andere Mutter einer autistischen Tochter sagte mal zu mir: „Es ist, als lebe man emotional zwei Leben.“

Diese Schilderungen erzählen mir viele Eltern, gerade von nichtsprechenden oder wenig sprechenden oder zeitweise nicht sprechenden Kindern. Diesen Eltern geht es nur dann gut, wenn sie sich intensiv auch bei ihren Kindern eingefühlt und nichts entdeckt oder gefunden haben, wo vielleicht Handlungsbedarf besteht. Erst dann kann man loslassen und sich um eigene Themen kümmern.
Natürlich fühlt jeder auch mit seinen nichtautistischen und sprechenden Kindern mit. Aber meistens kann man sich darauf verlassen, dass man kontaktiert wird, wenn sie Hilfe brauchen, dass sie uns erzählen, wenn andere Menschen sie schlecht behandelt haben, dass sie uns ihre Sorgen mitteilen, wenn sie denken, nicht gesund zu sein. Meistens – natürlich gibt es auch hier Ausnahmen.

So weit, so gut. Solange man selbst gesund ist und nichts Unvorhergesehenes passiert, kann man das händeln. Dass sich der emotionale Akku immer weiter entleert, merkt man erst eine ganze Weile später, erst nachdem der Ladezustand eine kritische Grenze unterschritten hat.
Da bemerkt man dann plötzlich, dass man wegen eines winselnden Hundes, wegen einer traurigen Liebesgeschichte im Fernsehen, wegen einer ausgefallenen Therapiestunde, einer abgesagten Verabredung, Enttäuschung über Freunde oder Familie und anderer Dinge losweint. Ereignisse, die man sonst zwar auch traurig fand, aber gefühlsmäßig auf eine Art und Weise händeln konnte, ohne selbst sofort aus dem Gleichgewicht zu geraten, werden plötzlich zu emotionalen Herausforderungen.

Frau auf dem Steg

Ich weiß nicht, wie ich es noch besser beschreiben kann, aber es ist, als habe man über das tägliche Funktionieren hinaus überhaupt keine Reserven mehr, um Dinge zu verarbeiten, die emotional fordern.
Vielleicht kennt Ihr das auch.

Manche Eltern berichten mir auch im Rahmen des Elterncoachings zum Beispiel, dass es einzelne Ereignisse sind, die sich tief in ihr „Sorgengemenge“ eingraben. Ein Vater berichtete mir neulich, dass ihm bewusst wurde, wie fragil das familiäre Organisationsgefüge ist, als er und seine Frau gleichzeitig krank wurden, und ihr autistischer Sohn mit Pflegegrad fünf nur noch mit großer Kraftanstrengung von ihnen versorgt werden konnte. Auch eine alleinerziehende Mutter berichtete mir von einer solchen Erfahrung.
„Sowas bringt einen mächtig ins Nachdenken“, erzählte mir der Vater, „meine Frau und ich realisierten, dass wir unbedingt ein Netzwerk brauchen, das einspringen kann, wenn wir zeitweise nicht mehr in der Lage für Pflege und Betreuung sind.“
Dieses Gefühl der Abhängigkeit zermürbt und macht vielen Angst, aber wenn man es schafft, ein Netzwerk aufzubauen, sich Sicherheitsnetze zu stricken (rw) und Menschen zu gewinnen, die die große Verantwortung zumindest zeitweise mittragen, ist es auch eine große Bereicherung für alle Beteiligten.

Eine Pauschallösung für dieses Phänomen gibt es sicherlich nicht, aber lasst Euch nicht entmutigen, falls es Euch auch so gehen sollte. Nehmt Eure Situation aktiv selbst in die Hand und kümmert Euch in guten Zeiten darum, für weniger gute Zeiten vorzusorgen. Das ist eine große emotionale und nicht zuletzt natürlich ganz praktische Erleichterung.

Und sollte Euch jemand sagen, dass Ihr mit Eurem Kind nicht so mitfühlen dürft, weil es Euch kaputt mache, dann habt Ihr eine Person vor Euch, die es eben nicht besser weiß.
Man kann das nicht ausschalten und viele von uns haben viel Zeit und Liebe und Recherche über das Autismus-Spektrum investiert, um unsere Kinder so gut wie möglich zu verstehen – wie sollte man das einfach ausstellen, kappen, durchtrennen und das Verstehen anderen überlassen?
Es geht nicht.

Was aber geht, ist für ein besseres Gleichgewicht zu sorgen. Und seien es noch so kleine Zeitinseln – verliere Dich selbst nicht aus den Augen. Sorge für ein Netzwerk, damit Du zumindest zeitweise Entlastung hast, und sorge für Dich selbst, denn Dein Kind hat nichts davon, wenn Du irgendwann zusammenbrichst.
Aber bewahre Dir die emotionale Bindung, denn das ist ein riesengroßes Geschenk und nicht für alle selbstverständlich.

Super hilfreich ist auch eine wertschätzende Gemeinschaft von Eltern und Angehörigen, die ähnliche Herausforderungen zu bewältigen haben. Dafür habe ich das Forum +plus+ geschaffen. Vielleicht wäre das auch eine gute Möglichkeit für dich.
Schau dich gerne mal HIER um, du findest alle Informationen, häufig gestellte Fragen und ein Video.

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Oh ja. Das kenne ich nur zu gut. Mein Aspie spricht zwar, aber der will nie was sagen, wie es ihm geht. Von daher sind meine Augen auf ihn mehrfach gerichtet was er dann auch merkt und stört. Ist er verständlich. Vielleicht guck ich auch was ,rein, was gar nicht da ist. Seit einem Krampfanfall im letzten März auf Grund einem Virus bin ich da noch mehr am schauen. Da muss ich mir selber sagen: Lass das Kind jetzt mal. Der hat nix. Alles gut.
    Dazu kommt das Stress-Brechen was er hat. Also das ist schon alles sehr herausfordernd. Und drumherum die ganzen Alltagssituationen die man mit einem Autisten nicht einfach so machen kann. Ich sehe zu, dass ich 1 x im Jahr für ein Wochenende Land gewinne. Das tut mir gut und dann gehts wieder. Das funktioniert aber auch nur weil meine Eltern da sind. Wäre das nicht der Fall, wäre mein Kurzurlaub auch vorbei. Also unter der Woche versuche ich dann was für mich zu tun. Pfeife mal auf Haushalt und mach mal gar nichts. Besonders den Montag nehme ich mir dafür. Sonst geht man unter. Liebe Grüße

  2. Du sprichst mir aus der Seele … !!
    Vielen Dank für diesen Blog. Es geht mir mit meiner Tochter ( 19 J. ) ganz genauso.
    ( Sie hat ASS + Down-Syndrom = es gibt nichts, was es nicht gibt ;-))
    Ganz wichtig für einen selbst, also die zu betreuuende Person : Inseln der Ruhe zu schaffen und zu nutzen und die eigene Seelenpflege, damit man nicht untergeht.
    Meine Tochter ist zudem 2 Wochen im Jahr in der Kurzzeitpflege bei der Lebenshilfe ( speziell für junge Menschen ) und wenn ich sie dort abgegeben habe, fahre ich komplett runter.
    Es ist ein ständiges Geben und Nehmen auf allen Ebenen.

  3. Unser Asperger, 9 Jahre, spricht auch den ganzen Tag. Er hat einen riesen Wortschatz. Aber sticht es mal im Ohr, hat er Kopfschmerzen, geht es ihm in der Schule nicht gut ….. kann er es nicht sagen.
    Das Sprechvermögen an sich, hat nicht immer etwas damit zu tun, dass man sagen und ausdrücken kann, wie es einem geht, gerade bei Autisten.

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