Jenseits der Stereotype: Autismus, Leidensdruck und die komplexe Realität

veröffentlicht im Oktober 2024


In Gesprächen und Veröffentlichungen über das Autismus-Spektrum taucht oft die Meinung auf, dass Autistinnen und Autisten nur deshalb leiden, weil die Gesellschaft sie nicht ausreichend akzeptiert und integriert. Autistinnen und Autisten würden per se nicht leiden, die Formulierung „unter Autismus leiden“ wird von vielen pauschal abgelehnt.
Natürlich sind die Gesellschaft und die nicht gelingende Inklusion wichtige Aspekte – niemand sollte Diskriminierung erfahren, und Inklusion ist für alle von Bedeutung. Aber was oft vergessen wird, ist, dass viele Autistinnen und Autisten auch unabhängig von äußeren Bedingungen unter ihrer Behinderung leiden. Besonders diejenigen mit hohem Unterstützungsbedarf kämpfen mit Herausforderungen, die ihnen das Leben schwer machen – egal wie sehr die Umwelt auf sie eingeht. Sie und ihre Angehörigen sollten nicht dafür kritisiert werden, dass sie das klar formulieren.
Ich halte es für sehr wichtig, darüber zu sprechen, anstatt den berechtigten Vorwurf an eine diskriminierende Gesellschaft als ausschließlichen Grund für Leidensdruck stehen zu lassen.

©Quelle: pixabay, User geralt, vielen Dank!

Gesellschaftliche Diskriminierung und innere Herausforderungen

Viele Autistinnen und Autisten erfahren täglich, wie schwer es ist, sich in einer Welt zurechtzufinden, die oft wenig Verständnis für sie aufbringt. Dass wir gemeinsam für mehr Akzeptanz und Inklusion kämpfen müssen, steht außer Frage.

Aber es gibt auch eine andere Seite, die oft im Schatten bleibt: die inneren Herausforderungen, die viele Autistinnen und Autisten in sich tragen – unabhängig davon, wie inklusiv oder verständnisvoll ihr Umfeld ist. Da sind zum Beispiel die sensorischen Überempfindlichkeiten, die schon alltägliche Geräusche oder Berührungen unerträglich machen können, auch wenn es beruhigte Zonen, Kopfhörer und weitere Strategien gibt. Oder die Schwierigkeiten, Impulse zu kontrollieren, was manchmal zu unvorhersehbaren Reaktionen führt. Oder die schiere Unmöglichkeit, Schmerzen richtig zu benennen oder zu lokalisieren, schon allein deshalb weil die Sprache fehlt. Solche Herausforderungen sind nicht immer sichtbar, aber deshalb nicht weniger real und oft auch sehr belastend.

Jede Person im Autismus-Spektrum hat ihre ganz eigene Geschichte. Manche empfinden diese inneren Kämpfe vielleicht weniger intensiv oder sie konnten Strategien erlernen, mit denen sie zurecht kommen und zumindest teilweise kompensieren können (ob das gut oder schlecht oder sinnvoll ist, sei mal dahingestellt).
Andere hingegen erleben die inneren Kämpfe als ständigen Begleiter, die ihren Alltag bestimmen und sind nicht in der Lage, dem Strategien entgegenzusetzen.
Beide Erfahrungen sind gültig und müssen gesehen werden. Es geht nicht darum, die eine Sichtweise gegen die andere auszuspielen, sondern darum, zu verstehen, dass Autismus ein breites Spektrum ist – mit vielen unterschiedlichen Facetten und Erlebnissen.

Ich habe es mir unter anderem zur Aufgabe gemacht, die zumeist vergessene oder unsichtbare Gruppe innerhalb des Spektrums in meinen Beiträgen zu berücksichtigen, weil es andernorts häufig fehlt. Es ist wichtig, auch die Erfahrungen derjenigen zu sehen, die täglich mit Herausforderungen zu tun haben, die von außen nicht sichtbar sind, aber dennoch echten Leidensdruck verursachen.

Beispiele für innere Herausforderungen

Es gibt zahlreiche Facetten, die viele Autistinnen und Autisten als einen Teil ihrer Behinderung erleben. Diese Herausforderungen sind keine Einbildung und auch nicht einfach durch äußere Anpassungen zu beheben. Hier folgen einige Beispiele.

Kohärenzschwäche: Die Welt als Puzzle ohne Bild

Für manche Autistinnen und Autisten fühlt sich die Welt wie ein riesiges Puzzle an – nur leider ohne Vorlage. Die Informationen prasseln von allen Seiten auf sie ein, aber es gelingt kaum, sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen. Diese Schwierigkeit ist nicht nur gelegentlich da, sondern eine ständige Begleitung durch den Alltag, die immer wieder Verwirrung und Überforderung auslöst. Es geht dabei nicht nur um große, komplexe Themen, sondern auch um die kleinen, scheinbar einfachen Dinge: ein Gespräch, das plötzlich in eine unerwartete Richtung geht, eine Routine, die sich ändert, oder die Reihenfolge der Schritte bei alltäglichen Handlungen.

Manche können sich mit Hilfsmitteln wie Visualisierungen Verständnisbrücken bauen oder profitieren von klaren Anweisungen. Es gibt aber auch Autistinnen und Autisten, bei denen diese Strategien nicht greifen. Dann bleibt das Gefühl, dass alles um einen herum fragmentiert und zusammenhanglos ist. Das führt nicht selten dazu, dass man die Erwartungen anderer enttäuscht. Andere Menschen gehen davon aus, dass man etwas verstanden hat oder bestimmte Konsequenzen längst erkannt und gelernt hat. Doch wenn Informationen wie Bruchstücke ohne klaren Zusammenhang erscheinen, ist es schwer, zu erkennen, was von einem erwartet wird oder welche Handlungen welche Folgen haben könnten.

Diese permanente Herausforderung bedeutet, dass selbst gut gemeinte Unterstützung oder Erklärungen oft nur bedingt, nur punktuell oder überhaupt nicht helfen. Das Gefühl der Überforderung bleibt, und mit ihm das Gefühl, immer wieder den Erwartungen nicht gerecht zu werden – nicht, weil man nicht will, sondern weil die Welt einfach zu chaotisch erscheint, um sie in den Griff zu bekommen.

Impulskontrolle: Wenn der Körper macht, was er will

Ein weiteres Beispiel ist die eingeschränkte Impulskontrolle, mit der viele Autistinnen und Autisten tagtäglich kämpfen. Stell dir vor, du weißt genau, was in einer Situation angebracht oder „richtig“ wäre, und trotzdem passiert es plötzlich: Dein Körper reagiert schneller, als du denken kannst – ein lauter Schrei, unwillkürliches Armzucken, ein Gegenstand, der zu Boden fällt, ein Tritt in Richtung einer anderen Person. Diese Handlungen kommen so abrupt und unvermittelt, dass es sich anfühlt, als hätte man selbst keinen Einfluss darauf.

Natürlich gibt es oft Reize oder Auslöser, die diese Impulse verstärken oder hervorrufen – ein plötzliches Geräusch, eine unerwartete Berührung, zu viele Menschen in einem Raum. Aber selbst wenn man diese Reize kennt, bedeutet das nicht, dass man sie vollständig vermeiden kann oder dass die Impulskontrolle dadurch dauerhaft gelingt. Das Bewusstsein über die Auslöser mag in manchen Situationen helfen, aber die Impulse selbst sind ein ständiger Begleiter, die einfach immer wieder auftreten, oft ohne Vorwarnung.

Natürlich kann man unterstützend und deeskalierend wirken, ggf. medikamentös, um diese Auto- und Fremdaggressionen zu reduzieren. Aber das bedeutet nicht, dass die Herausforderung dadurch komplett verschwindet. Diese unkontrollierbaren Impulse sind tief verankerte neurologische Prozesse, die sich nicht durch Willenskraft oder das Wissen um ihre Auslöser dauerhaft beherrschen lassen. Selbst mit den besten Strategien und Anpassungen kann es passieren, dass die Kontrolle plötzlich fehlt – und dann ist da wieder diese Frustration, weil man sich wünscht, anders handeln zu können.

Für viele Autistinnen und Autisten ist es deshalb eine tägliche Belastung, immer wieder die Erwartungen anderer nicht erfüllen zu können, obwohl sie sich sehr bemühen. Die Impulskontrolle bleibt eine Herausforderung, die immer da ist und ist dementsprechen auch für das Umfeld häufig lebenslanges Thema. Es handelt sich hier nicht um mangelnde Disziplin, sondern um ein Erleben, das weit über das hinausgeht, was für andere unmittelbar sichtbar ist.

Sensorische Überempfindlichkeit: Wenn die Welt zu laut, zu hell und zu viel ist

Viele Autistinnen und Autisten erleben die Welt als eine ständige Flut von Reizen, die sie kaum verarbeiten können. Was für andere Menschen im Hintergrund verschwindet, kann für sie unglaublich intensiv sein. Ein Geräusch, das für die meisten kaum wahrnehmbar ist – wie das Summen einer Leuchtstoffröhre oder das Brummen eines Kühlschranks – kann sich anfühlen, als ob jemand direkt neben ihnen einen Bohrer bedient. Eine leichte Berührung, die für andere kaum spürbar ist, kann wie ein Schmerz brennen oder als unangenehm empfunden werden. Selbst das Licht einer normalen Glühbirne kann wie ein grelles Blitzen wirken, das die Augen schmerzt und das Sehen erschwert.

Diese sensorischen Überempfindlichkeiten gibt es in vielen verschiedenen Abstufungen. Für manche sind sie nur gelegentlich störend, für andere sind sie fast ständig präsent und in ihrer Intensität so stark, dass sie regelrecht schmerzhaft werden. Und genau wie es unterschiedliche Grade der Überempfindlichkeit gibt, so gibt es auch unterschiedliche Möglichkeiten, damit umzugehen. Während einige Autistinnen und Autisten mit der Zeit bestimmte Strategien entwickeln, um diese Reize zu bewältigen – zum Beispiel durch den Einsatz von Ohrstöpseln, Sonnenbrillen oder speziellen Kleidungsmaterialien – ist das für viele andere nicht so einfach, weil sie Hilfsmittel nicht tolerieren oder Strategien nicht umsetzen können.

Das bedeutet, dass selbst ein „normaler“ Tag, selbst in einer vermeintlich „angepassten“ Umgebung, zu einer großen Herausforderung werden kann. Für viele ist das eine Realität, die ihnen täglich alles abverlangt.

Schwierigkeiten, Schmerzen zu verbalisieren oder zu lokalisieren

Ein besonders schwieriger Aspekt, mit dem viele Autistinnen und Autisten zu kämpfen haben, ist die Unfähigkeit, Schmerzen klar zu verbalisieren oder zu lokalisieren. Stell dir vor, du hast starke Bauchschmerzen, aber die Worte, um das zu sagen, fehlen dir einfach – oder du spürst den Schmerz, kannst aber nicht sagen, ob er im Bauch, im Rücken oder irgendwo dazwischen ist. Für viele, insbesondere für diejenigen, die nicht sprechen können, ist das Realität. Es ist nicht nur die Schwierigkeit, die richtigen Worte zu finden, sondern auch die Herausforderung, überhaupt zu erkennen und zu vermitteln, dass da etwas nicht in Ordnung ist.

Diese Situation führt oft dazu, dass Schmerzen übersehen, missverstanden oder falsch behandelt werden. Eine Person könnte vor Unruhe oder Angst nahezu verzweifeln, ohne dass jemand merkt, dass der Grund dafür körperlicher Schmerz ist. Manchmal wird die Unruhe dann als „Verhaltensproblem“ angesehen, oder es wird vermutet, dass die Person einfach nur „schlechte Laune“ hat. Die eigentliche Ursache – zum Beispiel Zahnschmerzen, Bauchkrämpfe oder Kopfschmerzen – bleibt oft im Verborgenen, weil sie nicht in Worte gefasst oder genau gezeigt werden kann.

Das kann zu erheblichen gesundheitlichen Problemen führen. Oft wird erst dann Hilfe gesucht oder angeboten, wenn der Schmerz unerträglich wird oder es schon sichtbare Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung gibt. Das bedeutet, dass viele Autistinnen und Autisten lange Zeit still leiden, weil ihre Schmerzen nicht erkannt oder richtig eingeordnet werden. Der Leidensdruck, der dadurch entsteht, ist enorm. Stell dir vor, du müsstest warten, bis deine Schmerzen so stark sind, dass es nicht mehr zu übersehen ist – bis jemand endlich erkennt, dass etwas nicht stimmt.

Es ist wichtig, diese Herausforderung ernst zu nehmen und zu verstehen, dass das Leiden der Betroffenen oft unsichtbar bleibt, bis es fast zu spät ist. Schmerz und Unwohlsein äußern sich nicht immer in Worten – manchmal drücken sie sich in Verhalten, Gesichtsausdrücken oder einer allgemeinen Veränderung im Auftreten aus. Das zu erkennen und zu berücksichtigen, kann helfen, besser zu verstehen, wie groß diese Belastung tatsächlich ist und wie dringend nötig es ist, darauf zu achten, auch das Unausgesprochene wahrzunehmen.

Abhängigkeit bei der Pflege von anderen

Für viele Autistinnen und Autisten mit hohem Unterstützungsbedarf ist ihre Behinderung gleichbedeutend mit einer vollständigen Abhängigkeit in der Pflege. Sie können nicht selbstständig essen, sich anziehen oder waschen – Dinge, die für die meisten von uns und auch für viele andere Autistinnen und Autisten selbstverständlich sind.
Diese Abhängigkeit ist nicht nur körperlich anstrengend, sondern auch emotional schwer zu ertragen. Es bedeutet, dass sie kaum Privatsphäre haben, dass jede noch so persönliche Handlung oft von anderen begleitet wird und dass sie ständig auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen sind.

Für diese Gruppe im Spektrum bedeutet das eine ständige Konfrontation mit dem Gefühl, keine Kontrolle über das eigene Leben zu haben, was oft als tief belastend erlebt wird. Und dennoch wird dieser Aspekt von Autismus oft übersehen oder verharmlost, als wäre er weniger real oder weniger schwerwiegend. Doch das ist es nicht.

Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, wie es ist, mit einem hohen Unterstützungsbedarf zu leben, und welche Herausforderungen pflegende Eltern dabei bewältigen müssen, findest du dazu mehr im Blogbeitrag „Hoher Unterstützungsbedarf und pflegende Elternschaft“.

Angststörungen und Phobien

Intensive Ängste und Phobien sind für viele Autistinnen und Autisten ständige Begleiter, die ihren Alltag prägen. Diese Ängste gehen weit über das hinaus, was die meisten von uns als „normale Sorgen“ kennen. Es sind oft existenzielle Ängste, die scheinbar ohne klaren Grund plötzlich auftauchen und alles überschatten können. Für manche bedeutet das, dass schon der Gedanke, das Haus zu verlassen, Panik auslöst. Für andere sind es bestimmte Geräusche, Orte oder sogar Gerüche, die eine tiefe Angstreaktion hervorrufen. Diese Ängste kommen in vielen verschiedenen Abstufungen und Formen vor.

Manche Autistinnen und Autisten finden Wege, mit diesen Ängsten umzugehen – durch Routine, durch Vermeidung bestimmter Situationen oder durch Unterstützung von Menschen, denen sie vertrauen. Aber für viele ist es kaum möglich, die Angst überhaupt zu bewältigen. Sie wird so überwältigend, dass sie zu einem vollständigen Rückzug führt, zu einem Leben, das sie und ihre Familien immer weiter einschränkt.

Diese Ängste lassen sich nicht einfach durch äußere Anpassungen oder gut gemeinte Ratschläge lösen. Es geht hier nicht nur um die Veränderung des Umfelds, sondern um tiefe innere Kämpfe, die oft über Jahre bestehen und das Leben erheblich erschweren. Für diejenigen, die keine Strategien finden, um ihre Angst zu lindern, bedeutet dies oft Isolation – ein Gefühl, dass die Welt einfach zu groß und zu unvorhersehbar ist, um sich darin zu bewegen. Für die Familien, insbesondere die Eltern, die sich intensiv darum bemühen, einen angstfreien Weg zu ermöglichen, ist es eine schlimme Erfahrung, nicht helfen zu können.

Probleme bei der sensorischen Integration und Selbstwahrnehmung

Manche Autistinnen und Autisten erleben die Welt in einem ständigen Wechselspiel von sensorischer Über- und Unterempfindlichkeit. Während bestimmte Reize viel zu intensiv und fast unerträglich wirken können, nehmen sie andere Reize kaum oder gar nicht wahr. Ein lautes Geräusch kann sich wie ein Schlag anfühlen, während gleichzeitig eine ernste Verletzung – wie eine Schnittwunde oder eine Verbrennung – kaum bemerkt wird. Diese sensorischen Dysfunktionen machen den Alltag extrem herausfordernd und bergen eine Vielzahl von Risiken.

Stell dir vor, du merkst nicht, dass du dich verbrüht hast, weil dein Körper den Schmerz nicht so deutlich signalisiert wie bei anderen Menschen. Oder du spürst nicht, dass du auf einen scharfen Gegenstand getreten bist, und gehst einfach weiter, bis die Verletzung schlimmer wird. Solche Situationen sind keine Seltenheit für Autistinnen und Autisten mit hohem Unterstützungsbedarf. Die Unfähigkeit, bestimmte Reize wahrzunehmen, führt nicht nur zu Missverständnissen im Alltag, sondern kann auch lebensgefährlich sein.

Diese sensorischen Schwierigkeiten tragen leider auch zu einer deutlich verringerten Lebenserwartung bei. Unfälle und Verletzungen, die nicht rechtzeitig erkannt werden, sind eine ernsthafte Bedrohung. Und es sind nicht nur Verletzungen – auch Krankheiten bleiben oft unentdeckt, weil Symptome wie Schmerzen oder Unwohlsein nicht klar geäußert oder erkannt werden. Während die tragisch hohen Suizidraten inzwischen häufiger thematisiert werden, werden die beschriebenen Gefahren bei Autistinnen und Autisten mit hohem Unterstützungs- und Pflegebedarf leider selten beschrieben.

Es geht also nicht nur um den Stress und die Schwierigkeiten des Alltags, sondern auch um ernsthafte gesundheitliche Risiken, die oft übersehen oder unterschätzt werden. Dieses Thema ist vor allem auch für Eltern, die sich dessen bewusst und daher ständig in Sorge um ihre autistischen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen sind, extrem belastend.

Probleme mit der Exekutivfunktion

Exekutive Dysfunktionen machen es vielen Autistinnen und Autisten unglaublich schwer, ihren Alltag zu strukturieren und Aufgaben zu erledigen. Stell dir vor, du wachst morgens auf und die einfachsten Dinge – wie das Anziehen oder Zähneputzen – erscheinen dir plötzlich wie riesige Berge, die es zu überwinden gilt. Nicht, weil du nicht willst oder dich nicht bemühst, sondern weil dein Gehirn Schwierigkeiten hat, die Schritte zu planen und in die richtige Reihenfolge zu bringen. Was für andere ganz automatisch abläuft, wird zu einer schier unüberwindbaren Herausforderung.

Diese Schwierigkeiten zeigen sich in vielen alltäglichen Situationen: Es fällt schwer, den Tag zu organisieren, Prioritäten zu setzen oder einfach nur zu wissen, wo man überhaupt anfangen soll. Schon der Gedanke daran, wie viele kleine Entscheidungen nötig sind, um morgens aus dem Haus zu kommen, kann erdrückend sein. Soll ich zuerst das Shirt oder die Hose anziehen? Wo ist meine Zahnbürste? Habe ich den nächsten Schritt nicht doch schon vergessen? Alles fühlt sich chaotisch und durcheinander an, als würde ständig ein wichtiger Baustein fehlen, um den nächsten Schritt zu machen.

Das sind keine Symptome von Faulheit oder mangelnder Motivation, sondern echte neurologische Herausforderungen. Die exekutive Dysfunktion ist wie ein unsichtbarer Knoten im Kopf, der alles verlangsamt und komplizierter macht. Oft wird das von anderen nicht erkannt und schnell als Unvermögen oder Desinteresse missverstanden. Doch in Wirklichkeit ist es ein täglicher Kampf gegen das Gefühl der Überforderung, der viele Autistinnen und Autisten enorm viel Energie und Kraft kostet.

Realität ohne Glorifizierung

Für viele Autistinnen und Autisten ist das Leben von inneren Kämpfen geprägt, die sich nicht einfach durch äußere Anpassungen oder gut gemeinte Ratschläge wegwischen lassen. Es gibt Tage, an denen jede noch so einfache Aufgabe – sei es das Anziehen, das Essen oder auch nur der Gang vor die Tür – zu einem unüberwindbaren Hindernis wird. Für viele gibt es keine Strategien, die diese täglichen Herausforderungen dauerhaft bewältigbar machen. Die Behinderung bleibt ein ständiger Begleiter, der ihnen alles abverlangt und immer wieder neuen Leidensdruck schafft. Das kann man nicht schönreden und ist Teil des Spektrums.

Es gibt viele, die trotz aller Bemühungen keinen Weg finden, ihre Schwierigkeiten zu umgehen oder Strategien zu entwickeln, die ihnen nachhaltig helfen. Für sie bedeutet die Behinderung nicht nur ein wenig mehr Anstrengung, sondern einen ständigen Kampf gegen Barrieren, die niemals ganz verschwinden. Es hilft niemandem, wenn diese Herausforderungen kleingeredet oder gar geleugnet werden, nur weil es andere gibt, die in der Lage sind, Strategien zu entwickeln.

Es ist wichtig, dass endlich aufgehört wird, überwiegend das Bild des „versteckten Genies“ oder einer Person mit „Super-Power“ zu zeichnen, das nur auf die richtige Gelegenheit wartet, um aufzublühen. Für einige mag das zutreffen, aber für viele andere ist diese Vorstellung schlichtweg nicht die Realität. Diese Glorifizierung tut weh, weil sie die echten Schwierigkeiten und Kämpfe unsichtbar macht, die so viele tagtäglich durchleben.

Es wäre hilfreich anzuerkennen, dass manche Autistinnen und Autisten per se unter ihrer Behinderung leiden und ihren Autismus auch als Behinderung begreifen. Das sollte doch jede Person für sich selbst entscheiden können. Nur durch dieses Verständnis können wir wirklich anfangen, eine Gesellschaft zu gestalten, in der jeder Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen und Grenzen respektiert und unterstützt wird, ohne eine Gruppe mit deren Familien auszuschließen, die besonders viel Schutz und Unterstützung benötigt.

 

 

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KOMMENTARE

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  1. Niemand anderes kann für mich persönlich sprechen, denn niemand anderes sieht, fühlt und erlebt die Welt ja so wie ich sie sehe, fühle und erlebe. :)

    Ob dieser Andere sich nun selbst auch im Spektrum befindet oder auch nicht macht für mich persönlich keinen Unterschied, letztendlich sind wir ja alle Teil einer Gesellschaft.

    Und somit kann mir auch niemand anderes vorschreiben wie ich mich über meinen Autismus zu äußern habe.
    Denn dann sind jene die mir das vorschreiben letztendlich ja auch nicht viel besser wie jene Gesellschaft von der immer beklagt wird dass sie die Besagten in ihrem Anderssein nicht akzeptieren und sie eigentlich eher nur behindern würden und es nur deshalb bei ihnen zu einem (wenn überhaupt) Leidensdruck käme.

    Jeder erlebt diese Welt auf seine eigene Art und Weise und das gilt es zu akzeptieren. :)

    Mich stresst das Leben schon seit frühester Kindheit und das jeden Tag aufs neue und darunter leide ich sehr wohl. Nicht weil mich andere Menschen an meiner Entfaltung hindern, sondern weil ich aufgrund meines Autismus diese Welt völlig anderes wahrnehme als dies bei den anderen der Fall zu sein scheint….und das stresst mich ungemein. Und je älter ich werde desto schlimmer und schwerer wird es, auf jeden Fall für mich persönlich.

    Mir wurde mal gesagt dass ich so ein typischer Klischee Autist wäre und ich dieses Klischee ständig bedienen würde weil ich sage dass ich aufgrund meines Autismus unter recht vielen Dinge leiden würde.

    Klischee hin oder her, für mich ist mein Autismus nun einmal täglich aufs neue eine Herausforderung, und mein Alltag ist alles andere als einfach und seit ich nun auch noch alleine leben muss (bin Witwe geworden) trifft der Satz „Eine Welt als Puzzle ohne Vorlage“ mal wirklich auch auf mich so was von zu.

    Ja die Realität sieht nun mal bei einigen Autisten völlig anders aus, das sehe ich genauso wie du, und das sollte von allen respektiert werden, ob Autist oder Nicht Autist.

    Ich respektiere jene die sagen dass sie nicht unter ihrem Autismus leiden, erwarte aber auch dass diese mich ebenfalls akzeptieren wenn ich sage dass ich unter meinem Autismus leider sehr wohl leide.

    Das ist nun mal Fakt und das möchte ich auch sagen dürfen. :)

    1. Liebe Zarinka, habe herzlichen Dank für Deinen eindrücklichen Kommentar. Besser kann man es nicht ausrücken.
      Alles alles Gute für Dich ♥

  2. Sehr guter Beitrag!

    Ich verarbeite vieles durch Schreiben und habe erst neulich geschrieben, dass ich nicht nur durch die Strukturen und die Gesellschaft eingeschränkt und behindert bin, sondern durchaus im Alltag aufgrund meines Autismus behindert bin. Und vor allem verschwindet das ja alles auch nicht auch nicht (auch nicht durch Therapie) und es wird zusätzlich – wie auch mein:e Vorgänger:in geschrieben hat – schlimmer, je älter ich werde (und ich bin gerade mal 35).

    Es ist oft hart, vor allem wenn dir bewusst wird, dass die eigene Ausprägung mit einhergehenden Schwierigkeiten zum Teil die Barriere ist. Und ich bin in Therapie, hab mein Selbstwertgefühl aufgebaut und dadurch auch die Akzeptanz für alle meine Facetten, Schwierigkeiten und Fähigkeiten entwickeln können sowie gelernt, Strategien zu entwickeln. Aber du kannst dich noch so sehr selbst akzeptieren und ein noch so starkes Selbstwertgefühl aufgebaut haben, Fakt und Realität ist: Autismus ist nicht nur Sonnenschein, Regenbögen und Einhörner. Da helfen dir auch viele Strategien einfach nicht weiter. Manchmal muss man es eben so nehmen wie es ist und manchmal ist es schwer.

    Und einen Gedanken muss ich noch loswerden: Das Spektrum ist so vielfältig. Es ist auch einfach nicht möglich, Anpassungen für jede einzelne autistische Person zu schaffen. Es ist strukturell nicht realistisch, generell ob autistisch oder nicht.

    Danke für deine Beiträge,
    Viele Grüße

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