Interview mit Stefan Verra: „Körpersprache kann man nicht auswendig lernen.“ – Workshop für Menschen mit Autismus

veröffentlicht im Januar 2018


©Foto: Stefan Verra

„Ich bin kein Autismus-Fachmann, sondern sehe den jeweiligen Menschen“, erzählt mir Stefan Verra im Interview. Der Körpersprache-Experte bietet Workshops für AutistInnen an. Ich bin so begeistert von diesem Projekt, dass ich persönlichen Kontakt zu ihm aufnahm.

Aber von vorne: Vor kurzem machte mich die Blog-Leserin Anne-Julie auf einen Körpersprache-Workshop für AutistInnen aufmerksam.
Dieser Workshop wurde von keinem Geringeren als dem international bekannten Körpersprache-Experten Stefan Verra angeboten.
„Seine Vorträge und Shows begeistern jährlich zehntausende Teilnehmer von Europa über die USA bis China“, kann man auf seiner Website nachlesen. Außerdem arbeitet er als Dozent und ist Autor mehrerer Bücher.
Meine Neugier war geweckt und so fragte ich um ein Interview an. Er sagte spontan zu und erzählte mir in einem langen Telefonat, wie er auf die Idee für den Workshop kam und was er über Blickkontakt, Humor und Selbstironie denkt.

Körpersprache-Workshop für AutistInnen – die Idee und wie es begann

Die Mutter einer Autistin hatte Stefan erzählt, dass sie mit ihrer autistischen Tochter das Interpretieren von Körpersprache eingeübt habe. Allerdings stieß sie dabei an Grenzen. Und so regte sie bei Stefan einen Körpersprache-Workshop für AutistInnen an.

„Körpersprache kann man nicht auswendig lernen“, sagt Stefan. „Das Problem ist, dass die Leute oft nur inhaltsbezogene Fakten lernen, es kommt aber auf die jeweilige Situation und den Menschen an.“
Vor dem Start des Workshops hatte er sich noch nicht mit dem Thema Autismus beschäftigt. Er betont deshalb auch, dass er kein Autismus-Experte ist.
„Ich betrachte jeden Menschen so, wie er ist. Einige hätte ich ohne die Zusatzinformation nie als Autisten wahrgenommen.“ Aber das sei ein großer Vorteil für beide Seiten gewesen, so Stefan, denn es war gut, sich nicht in einem „pathologisch geschwängerten Umfeld“ zu begegnen. „Ich mache bei AutistInnen kein größeres Brimborium um die Körpersprache als bei anderen Menschen auch.“ Es geht ihm um den einzelnen Menschen – unabhängig von Diagnosen und ganz individuell.

Nicht für jeden Autisten gelten die gleichen Regeln in der Körpersprache – „Ich habe inzwischen gemerkt, dass das Autismus-Spektrum ein weites Feld ist“, sagt er – aber er ist davon überzeugt, dass AutistInnen, die das entsprechende Potential mitbringen, Einblick in die Körpersprache erhalten sollten, um besseren Zugang zu anderen Menschen zu bekommen.

Im Workshop bietet er zum Beispiel Übungen an, bei denen die Teilnehmer beschreiben, was sie sehen. „Ich hatte das Gefühl, dass einige sehr detailliert wahrnehmen, aber manche auch wenig empfänglich für Details sind.“ Die Aussage, dass AutistInnen generell verstärkt Einzelheiten wahrnehmen, könne er so nicht pauschal bestätigen.

Stefan nimmt auch zuweilen eine gewisse Verunsicherung von Teilnehmern wahr, wenn sie bestimmte körperliche Signale nicht richtig deuten. Diese Verunsicherung versucht er abzubauen, indem er auf einige Basics der Körpersprache hinweist und den Teilnehmern versichert, dass auch neurotypische Menschen bei weitem nicht alles wahrnehmen, was an Körpersignalen ausgesendet wird.

Thema sind auch die Botschaften, die man mit seiner eigenen Körpersprache übermittelt. Es sei wichtig, seinem Gegenüber zu signalisieren, in welcher Stimmung man ist und wie man empfindet, „sonst hinterlässt man ein unsicheres Gefühl“, erklärt Stefan. Diese Unsicherheit, die entsteht, wirke sich dann auf die gesamte Situation aus.

Die Sache mit den Augenbrauen
Besonders schwer fiel den Teilnehmern diesbezüglich die Verwendung von Mimik und hier besonders, die Augenbrauen bewusst einzusetzen.
„Nachdem ich die Hinweise gegeben hatte, hat es bei den Übungen jeder gekonnt, aber ich musste die Teilnehmer erst darauf aufmerksam machen“, erzählt Stefan.
Grundsätzlich sind die Augen, der Mund, und die Hände sehr wichtige Ausdrucksmittel. „Die Wirkung, die man damit erzielen kann, muss man aber üben“, erläutert Stefan und betont noch einmal, dass die Augenbrauen enorm wichtig sind, wenn man Freude, Verärgerung oder Erstaunen ausdrücken möchte – übrigens spielen sie auch beim Flirten eine große Rolle ;-) .

Für Euch gibt mir Stefan direkt eine Übung als Anregung mit auf den Weg:
Sprecht einen Satz und hebt bei dem Wort, das Ihr betonen möchtet, die Augenbrauen – und zwar für die Dauer des gesamten Wortes. Die Bedeutung des Wortes wird durch das Heben der Augenbrauen hervorgehoben.
Auch wenn man sich zum Beispiel bei jemandem entschuldigen möchte, wirke die Geste viel glaubwürdiger, wenn man dabei die Augenbrauen hebt.

Mythos Blickkontakt
Ich frage Stefan nach der Bedeutung von Blickkontakt, da dieses Thema immer wieder auch im Autismus-Bereich eine große Rolle spielt.
„Also, es ist ja ein großer Mythos, dass wir uns angeblich beim Kommunizieren ständig in die Augen sehen. Unser Blick pendelt immer zwischen Augen und Mund hin und her. Niemand sieht dem anderen die ganze Zeit in die Augen und wenn er es doch täte, würde es bedrohlich auf das Gegenüber wirken.“
Stefan erläutert, dass wir vieles ohnehin von den Lippen ablesen und der Blick auf den Mund viel wichtiger sei als im Allgemeinen angenommen. Es sei unnatürlich, dem anderen ständig in die Augen zu sehen. Insofern könne es vielleicht hilfreich sein, seinem Gegenüber bewusst mehr auf den Mund zu sehen, wenn der direkte Blickkontakt unangenehm ist.

Tipps aus Stefans Perspektive für Menschen, die mit Autisten zusammenleben oder arbeiten

„Es ist wichtig, mit AutistInnen normal und wertschätzend umzugehen. So wie mit anderen Menschen eben auch.“ Davon ist Stefan überzeugt.
In Bezug auf die eigene Körpersprache gebe es auch hier keine Pauschalantwort. Es könne sein, dass man manche Aussagen mit bewusster Körpersprache verstärken muss oder kann. Aber Stefans Erfahrung ist, dass keine Reaktion des autistischen Gesprächspartners nicht automatisch bedeutet, dass dieser nicht verstanden hat. Man sollte sich nicht dazu verleitet fühlen, noch deutlicher zu werden und damit dem anderen möglicherweise das Gefühl geben, er sei begriffsstutzig.

©Foto: Stefan Verra

„Humor ist wichtig und gehört zum Leben“, macht Stefan ganz deutlich.
Es wäre schön und wichtig, wenn AutistInnen und Bezugspersonen lernen, auch über sich selbst zu lachen. „Wenn man das schafft, ist man weiter als viele andere Menschen und kann daran wachsen.“
Bei seiner ehrenamtlichen Arbeit mit schwerkranken Kindern und depressiven Menschen erfährt Stefan immer wieder, wie wichtig es ist, Menschen auch in schwierigen und erst recht in aussichtslosen Situationen nicht vom Leben abzuschneiden. Und zum Leben gehören Humor und Lachen dazu – „wenn wir den Menschen das nehmen, haben wir sie aufgegeben.“
Und Stefan meint: „Wenn man Selbstironie soweit betreibt, wie es geht, und dann noch ein Stückchen weiter, kann man daran wachsen.“

Wie man einer starrenden Öffentlichkeit begegnet

Schließlich frage ich Stefan noch nach dem Problem, das viele von uns haben: das begafft werden in der Öffentlichkeit. Ich erzähle ihm, wie es sich manchmal anfühlt, wie nackt auf einer Bühne zu stehen, auf die man gar nicht wollte.
Stefan meint mit einem Augenzwinkern durchs Telefon (ich hab´s genau gesehen): „Da hilft nur, dass man selbst zur Rampensau wird.“
Es helfe nur, selbstbewusst zu bleiben und auszustrahlen, dass man damit rechnet, auf einer solchen Bühne präsent zu sein, sobald man sich in der Öffentlichkeit bewegt. Aber natürlich sei das nicht so einfach.

Es sei in gewisser Weise auch normal, dass Menschen starren und schauen, das könne man nicht verhindern – nur seine eigene Haltung verändern.
Bemerkenswert ist für mich, dass er nicht von dem berühmten „dicken Fell“ spricht, das einem mit der Zeit wachsen sollte. „Nein, auf der Bühne – um bei dieser Metapher für die Öffentlichkeit zu bleiben – brauchst du ein dünnes Fell. Denn nur damit kannst Du Zwischenmenschliches aufnehmen.“

Und eine weitere Aussage von Stefan macht mich nachdenklich:
Ich erzähle davon, dass die Leute plötzlich ganz anders gucken – nicht mehr so misstrauisch starrend, sondern eher interessiert – wenn ich mit Niklas anfange per Gebärdensprache zu kommunizieren. Für mich ist das Ausdruck dafür, dass sie etwas wahrnehmen, das nicht defizitär besetzt ist – der Junge kann etwas, was ich nicht kann, das ist ja interessant.
Aber Stefan erklärt weiter: „Kommunikation baut Stress ab. Und wenn Ihr per Gebärdensprache kommuniziert, baut ihr auch den Stress der anderen ab.“

Kontakt mit Stefan aufnehmen

Wer nun neugierig auf Stefan und seine Workshops geworden ist, kann gerne Kontakt zu ihm aufnehmen, darf ich ausrichten.
Ich kann dazu nur ermuntern, denn es war überhaupt nicht schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er ging offen und sympathisch auf alle meine Fragen ein. Traut Euch. :-)
Wenn Ihr gerne einen Workshop für Eure Region initiieren möchtet, schreibt ihm eine Mail.

Und dann wünsche ich Euch ganz viele bereichernde und auch humorvolle Einsichten. :-)

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