Cynthia im Interview über ihre Tochter mit Smith-Magenis-Syndrom: „Sie fordert alles und gibt genauso viel zurück.“

veröffentlicht im Januar 2021


Cynthias Tochter hat das Smith-Magenis-Syndrom. Im Interview klärt sie über das Syndrom auf, beschönigt nichts und lässt uns ganz wunderbar an der großen Liebe zu ihrer Tochter teilhaben.

Liebe Cynthia, Du hast eine Tochter mit dem Smith-Magenis-Syndrom. Bitte erkläre uns, was das genau ist und was es für euch bedeutet?

Zuerst einmal möchte ich dir für das Interview und die damit verbundene Möglichkeit danken, das SMS (Smith-Magenis-Syndrom) bekannter zu machen.
Das SMS ist eine Deletion (Stückverlust) oder Mutation am kurzen Arm von Chromosom 17, kurz 17p11.2 und beinhaltet immer auch den Verlust des RAI1-GENS, welches zu den „Autismusgenen“ gehört.
Das Smith-Magenis-Syndrom hat einige Symptome im Gepäck, u.a. Intelligenzminderung, atypische Lungenentzündung, oftmals als Bronchitis fehldiagnostiziert, in manchen Fällen Nieren-, Harnleiter- und Blasenprobleme, Skoliose.
Viele Kinder mit SMS sind lange nonverbal und kommunizieren oft über einen Talker oder mit Gebärden.
Typisch für das Smith-Magenis-Syndrom ist auch eine auffallend tiefe und raue Stimme.

Zu den gravierendsten Problemen gehört u.a. die Ein- und Durchschlafstörung da ein veränderter Tag-/Nachtrhytmus vorliegt sowie die oftmals schweren Verhaltensauffälligkeiten, zu denen auch autistische Züge gehören wie bspw. Angst vor Berührungen und ein starkes Bedürfnis nach Routine und Ritualen.
Einige Kinder/Jugendliche haben zuerst die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung erhalten und erst danach SMS.

©Cynthia

Wie häufig tritt das SMS auf?

Laut einer amerikanischen Schätzung wird eins von 25000 Kindern mit SMS geboren. Zur Zeit gibt es etwa +165 Diagnosen in Deutschland, von denen ich weiß, da diese Familien an unseren Verein für Selbsthilfe, Sirius e.V., angeschlossen sind.

Wann habt Ihr die Diagnose bekommen und wie hast Du Dich gefühlt, als sie feststand?

Wir bekamen die Diagnose für unsere Tochter Lilian am 20. Dezember 2017 abends gegen 20 Uhr. Ich weiß das so genau, weil es mein Geburtstag war und ich Lily grad ins Bett gebracht hatte, als unsere Humangenetikerin anrief. Sie teilte mir das Ergebnis der Blutuntersuchung mit, wir verabredeten einen Termin Anfang Januar und sie schloss das Gespräch mit den Worten: „Bitte googlen sie nicht“… Hab ich natürlich trotzdem!

Zunächst waren wir erleichtert!
Es gab eine Erklärung für das Verhalten und die Entwicklungsverzögerung unserer Tochter. Sie war 28 Monate alt, sprach fast nicht und konnte erst seit kurzem laufen. Sie war nachts oft stundenlang wach, verletzte sich durch das Schlagen ihres Kopfes auf möglichst harte Untergründe selbst und mich durch Bisse und Kratzen und riss mir büschelweise Haare aus. Und sie war immer wütend.
Nachdem ich das Internet durchforstet und alles verfügbare zu SMS gelesen hatte, ging es mir nicht gut. Zweifel und Angst vor der Zukunft überrollten mich. Ich hab mich oft gefragt, „warum wir“…“warum sie“???
Mit der Diagnose hatten wir plötzlich ein behindertes Kind.

Zwei Wochen später sind wir Mitglieder von Sirius e.V geworden. Ich brauchte mehr Information, andere Eltern und ich wollte andere Kinder mit SMS sehen, mich austauschen.
Nach einem ersten Telefonat mit unserem zweiten Vorsitzenden sah die Zukunft dann schon wieder ein bisschen rosiger aus. Er konnte alle meine Fragen beantworten und hatte viele gute Tipps für uns.
Mittlerweile unterstütze ich unseren Vorstand als Beisitzerin und betreue zusammen mit der Mama von Lilys Zwilling (witzigerweise hat jeder SMSer einen anderen SMSer dem er sehr ähnlich sieht!) den Bereich social Media. Sirius e.V hat eine Facebookseite und ein Instagramprofil.

Außerdem gibt es seit 2018 unseren Blog auf Facebook wo ich, wann immer es die Zeit zulässt, über Lily und uns schreibe. Zornröschen-oder leben mit SMS.
Zornröschen fand ich ganz passend da er zu der Schlaf-& Wutproblematik passt.

Wie alt ist Lily jetzt? Wie geht es ihr in ihrem Kindergarten?

Unsere Kleine ist jetzt 5 Jahre alt, hat den Pflegegrad 4, einen GdB 80% und seit letztem Sommer die Zusatzdiagnose Autismus-Spektrum-Störung.
Sie geht als Integrationskind in einen Regelkindergarten und es gefällt ihr gut. Wir haben tolle ErzieherInnen, die sie fördern und fordern.
Einmal in der Woche geht sie für einen Vormittag in eine interdisziplinäre Frühförderstelle und hat dort Ergo- & Physiotherapie, Logopädie und Frühförderung.
Auch dort macht es ihr viel Spaß und alle Therapeuten haben sie ins Herz geschlossen.
Bisher gab es weder im Kindergarten noch in der Frühförderung ernstere Probleme mit ihrem Verhalten.

Wie sieht Euer Alltag aus? Was er sehr durch das Leben mit Lily geprägt?

Unser Alltag ist geprägt von festen Ritualen und Lilys Schlafenszeiten. Wenn sie nachmittags nicht schlafen kann, weil wir z.B. einen Termin haben, dann wächst die Wut und ab 16 Uhr ist sie ungenießbar. Je müder sie ist, desto schlimmer sind Wutanfälle, Zerstörung und herausforderndes Verhalten.
Wir versuchen, jeden Tag ähnlich zu gestalten und zu verbringen. Jede Veränderung, Handlung oder Aktion muss vorher angekündigt werden. Z.B. in 5 Minuten Haare kämmen oder in 10 Minuten anziehen für den Kindergarten.
Besonders wichtig ist ihr das Verabschiedungsritual: „Kuss, Hand, drücken, schubsen, winken“. Immer!
Ihr herausforderndes Verhalten beschränkt sich meist nur auf den häuslichen Bereich bzw. ist es nur wirklich schlimm wenn mein Mann und/oder ich in ihrer Nähe sind/bin.

Was würdest Du sagen, sind ihre Stärken und wo braucht sie besonders viel Unterstützung?

Zu ihren Stärken zählt ihre emotionale Ehrlichkeit. Sie liebt uns ganz tief und ich glaube nicht, dass sie uns absichtlich wehtun würde. Sie kann einfach nicht anders.
Wenn Sie jemanden nicht leiden kann, dann sagt sie das und manchmal auch noch andere Dinge, die man lieber nicht sagen sollte und die auch nicht so gern gehört werden ?.
Sie hilft immer gern und mag es, wenn ich ihr kleine Aufgaben gebe, wie z.B. den Tisch mit zu decken.
Trotzdem muss sie bei allem eng begleitet werden. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist noch sehr kurz und sie hat kein Gefahrenbewusstsein.

Was sind die größten Herausforderungen für Euch?

Zu den größten Herausforderungen gehört das Aushalten.
Die Wut und das herausfordernde Verhalten sind an manchen Tagen nur schwer zu ertragen. Ganz besonders, wenn die Nächte kurz waren und einfach keine Kraft mehr übrig ist.
Als Eltern eines Kindes mit Smith-Magenis-Syndrom muss man mit Situationen zurecht kommen, von denen sich Außenstehende wünschen, sie nie erleben zu müssen. Letztendlich hat Lily mir aber gezeigt, wie stark ich bin und was ich händeln und leisten kann.
Zu unserem alltäglichen Wahnsinn kommen dann oft noch die Kämpfe mit der Krankenkasse weil dringend benötigte Hilfsmittel abgelehnt werden.

Wie hat sich Dein Leben durch Lily verändert?

Seit der Geburt unserer Kleinen hat sich unser Leben von Grund auf verändert. Es ist anstrengend, ermüdend, herausfordernd aber nie langweilig!
Wir haben viel gelernt in den letzten Jahren, haben viele unglaublich tolle Menschen getroffen, sind über uns hinaus gewachsen.
Sie fordert alles und gibt genauso viel zurück.

Wie gehen Eure Familie und die Öffentlichkeit mit der Behinderung von Lily um?

Wir nehmen sie,wie sie ist.
Bisher gab es in der Öffentlichkeit noch keine nennenswerten Probleme. Man sieht ihr die Behinderung nicht unbedingt an und wenn wir hier bei uns auf den immer gleichen Wegen unterwegs sind, wird jeder, der unseren Weg kreuzt, mit einem „Hallo“ oder „Moin“ gegrüßt.

Was wünschst Du Dir für ihre Zukunft?

Für Lilys Zukunft wünsche ich mir, dass sie ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen kann und dass sie weiterhin so engagierte Wegbegleiter hat wie bisher. Ich möchte,dass sie glücklich ist.

Danke, liebe Cynthia, für das tolle Interview. Ich habe viel von Dir gelernt und bewundere Dein Engagement. Toll, dass Du andere Eltern aufklärst und ihnen auch mit Deinem eigenen Blog Mut machst.
Alles Gute für Dich und Deine Familie,
herzlichst, Silke :-)

Zum Weiterlesen:
Marison im Interview: „Wenn man sich auf meinen autistischen Sohn einlässt, erfährt man ganz viel von ihm.“

Franziska im Interview: „Die Doppeldiagnose Autismus und Down-Syndrom ist gar nicht so selten.“

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Hallo Cynthia,

    selbst kenne ich eine liebenswerte, bereits erwachsene Frau mit diesem Syndrom. Es hatte lange gedauert, bis die Familie überhaupt einen Namen für das Behinderungsbild bekommen hatte. Es war letztendlich ein Zufall. Ich wünsche weiter einen guten Entwicklungsverlauf für Deine Tochter und viel Kraft für das Engagement im Ehrenamt. Ich bin mir sicher, es gibt noch einige weitere, von diesem Syndrom betroffene Menschen in unserem Land. Manchmal ist es ein erlösendes Aufatmen, wenn man endlich weiß, warum etwas nicht so ist, wie es sein könnte. Wohl kann man es nicht ändern, aber man weiß wo man ansetzen muss und was es braucht, um seinem Kind die bestmögliche Entwicklung zu ermöglichen.
    Liebe Grüße
    Kirsten vom Team intakt.info
    Mutter eines erwachsenen Sohnes mit angeborener Toxoplasmose und hohem Hilfebedarf

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