Argumentum ad parentem: Was es bedeutet, wo Eltern autistischer Kinder es erleben und wie wir damit umgehen können

veröffentlicht im Februar 2025


Das Argumentum ad hominem ist ein Begriff aus der Rhetorik und bezeichnet eine Argumentationsstrategie, bei der nicht die Aussage oder das Argument selbst bewertet wird, sondern die Person, die es vorbringt. Anstatt also sachlich auf ein Thema einzugehen, wird der Gesprächspartner persönlich angegriffen, abgewertet und nicht ernst genommen.

Eltern autistischer Kinder passiert häufig etwas ganz Ähnliches: Ihre Argumente, Beobachtungen und Einschätzungen werden nicht anhand ihres Inhalts bewertet, sondern leider häufig wegen ihrer Elternrolle abgetan. Ich habe dies Argumentum ad parentem genannt.

Natürlich gibt es viele Situationen, in denen Eltern und Fachkräfte sich auf Augenhöhe begegnen und wertschätzend zusammenarbeiten und genau so sollte es auch sein. Doch weil es eben in vielen Fällen anders läuft und Eltern diese Erfahrung immer wieder machen, lohnt es sich, diesen Mechanismus einmal genauer anzuschauen. Denn manchmal hilft schon das Bewusstsein, um solche Gespräche in eine konstruktivere Richtung zu lenken.

Transparenz: Dieses Bild wurde mit dem KI-Tool DALL·E (OpenAI) erstellt und anschließend nachbearbeitet. Erstellt im Februar 2025

Was ist das Argumentum ad parentem?

Mir ist klar geworden: Es gibt auch ein Argumentum ad parentem (So habe ich es jedenfalls getauft.)
Was ich damit meine ist: Der Input von Eltern wird leider allzu oft nicht anhand ihres Inhalts bewertet, sondern aufgrund der Elternrolle abgetan.
Das passiert dann mit Sätzen wie:

„Sie sind ja auch die Mutter/der Vater, da sind Sie zu emotional.“
„Das ist typisch, Eltern sehen manchmal Probleme, wo gar keine sind.“
„Das lassen wir lieber die Fachleute beurteilen, Sie kennen sich ja nicht so aus.“
„Lassen Sie uns unsere Arbeit tun und mischen Sie sich bitte nicht ein.“

Diese Art des Umgangs hat spürbare Folgen. Einige Eltern trauen sich seltener, wichtige Themen anzusprechen oder erleben, dass wertvolle Informationen aus dem Familienalltag und ihrer Erfahrung nicht berücksichtigt werden.
Dabei geht es Eltern nicht darum, Fachwissen abzuwerten, sondern ein gutes Miteinander für das Kind bzw. den Betreuten zu schaffen, indem Elternwissen und Fachwissen auf Augenhöhe zusammenkommen.
Das Argumentum ad parentem ist ein Muster, das diesen Austausch erschwert. Deshalb ist es so wichtig, es zu erkennen und bewusst damit umzugehen.

Ursachen und Muster – Warum passiert das?

Es passiert meist nicht, weil jemand bewusst Eltern abwerten will, sondern weil es ein Muster ist, das entsteht, wenn Erfahrungswissen und Fachwissen aufeinandertreffen und dabei nicht immer auf Augenhöhe. Vielleicht kennst du das auch: Du schilderst, was du beobachtest, und bekommst zur Antwort, dass du das „zu emotional“ siehst.
Solche Situationen haben viel mit tief verankerten Vorstellungen von Wissen und Autorität zu tun. Umso wichtiger ist es, dass wir diese Mechanismen erkennen und gemeinsam durchbrechen:

Die Hierarchie des Wissens: Theorie über Praxis?

In unserer Gesellschaft wird Fachwissen oft höher bewertet als Erfahrungswissen. Wer ein Studium, eine Ausbildung oder eine Weiterbildung vorweisen kann, gilt als kompetent. Eltern hingegen sind „nur Eltern“, so wird es jedenfalls häufig vermittelt und sogar ausgesprochen. Dabei wird übersehen, dass Eltern wertvolle Erkenntnisse sammeln, die in keinem Lehrbuch stehen.
Die Hierarchie des Wissens führt dazu, dass Fachpersonen sich manchmal automatisch als die „wissende Instanz“ sehen und Eltern eher als Laien. Wenn Eltern dann mit fundierten Beobachtungen oder neuen Erkenntnissen aufwarten, passt das nicht ins gewohnte Bild und wird im Zweifel mit einem „Das sehen Sie nicht fachlich genug“ abgetan.

Stereotype: Die überbesorgte, unwissende Elternperson

Wir kennen sie alle, diese gesellschaftlichen Bilder von „Helikopter-Eltern“, die bei jeder Kleinigkeit zum Telefon greifen, um Schule, Kita oder Einrichtung mit Anliegen zu konfrontieren. Es mag diese Eltern geben, aber dieses Klischee schwebt oft grundsätzlich und unausgesprochen im Raum, sobald Eltern etwas thematisieren. Gerade Eltern autistischer Kinder, die sich intensiv mit Diagnosen, Bedarfen und Fördermöglichkeiten auseinandersetzen, werden schnell als „überbesorgt“ oder „schwierig“ abgestempelt.
Das Problem: Solche Stereotype wirken wie eine Abkürzung im Kopf. Anstatt zuzuhören und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wird das Anliegen vorschnell als „übertrieben“ oder „unwichtig“ abgetan. Der Gedanke dahinter: „Die sind halt Eltern – die übertreiben oft.“ Damit wird nicht nur der Austausch auf Augenhöhe verhindert, sondern auch wertvolles Wissen blockiert.

Unsicherheit von Fachpersonen bei elterlicher Expertise

Eltern autistischer Kinder, die sich über Jahre hinweg Wissen angeeignet haben, können bei Fachpersonen Unsicherheiten auslösen. Besonders dann, wenn Eltern mit Fachbegriffen oder aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen argumentieren oder passgenaue Strategien vorschlagen, reagieren einige Fachleute irritiert.
Diese Unsicherheit entsteht oft unbewusst. Wenn jemand mit fundierter Erfahrung und Alltagswissen auftritt, das den eigenen Ansätzen widerspricht, ist das herausfordernd. Manchmal wird dann reflexartig das Argumentum ad parentem genutzt: „Das klingt ja ganz gut, aber wir machen das hier anders.“ Der Versuch, die eigene Fachrolle zu schützen, geht dabei auf Kosten des Dialogs.

Das Argumentum ad parentem als schnelle Konfliktlösung

Eltern und Fachpersonen begegnen sich oft in herausfordernden Situationen: Fördermaßnahmen, schwierige Verhaltenssituationen oder die Suche nach einer passenden Einrichtung. Solche Gespräche können emotional und konfliktreich sein. Statt sich den Themen offen zu stellen, greifen manche zu einer schnellen, vermeintlich simplen Lösung: Sie stellen die Wahrnehmung der Eltern infrage.
Aussagen wie „Das wird schon wieder“, „Das ist ja nur Ihre subjektive Wahrnehmung“ oder „Wir sind hier die Fachkräfte“ dienen in solchen Momenten häufig dazu, Diskussionen abzukürzen oder unangenehmen Themen auszuweichen. Das Argumentum ad parentem wirkt in diesen Situationen wie eine rhetorische Tür, die einfach zugezogen wird, sobald es kompliziert wird.

Das Bedürfnis, die eigene Qualifikation hochzuhalten und unentbehrlich zu bleiben

Fachleute haben viel Zeit, Energie und Leidenschaft in ihre Aus- und Weiterbildung investiert. Wenn Eltern mit fundiertem Wissen auftreten, fühlen sich manche in ihrer Rolle infrage gestellt. Unbewusst entsteht dann der Impuls, die eigene Kompetenz zu verteidigen, auch wenn das bedeutet, elterliche Expertise abzuwerten.
Das Bedürfnis, als „unverzichtbarer Experte“ wahrgenommen zu werden, ist menschlich. Gleichzeitig darf es nicht dazu führen, Eltern aus dem Prozess auszuschließen oder ihr Wissen geringzuschätzen.

Wenn Einblicke als Einmischung empfunden werden

Ein weiterer Grund für das Argumentum ad parentem liegt darin, dass Eltern durch ihre Alltagserfahrungen oft einen tiefen Einblick in Abläufe, Bedürfnisse und Schwierigkeiten bekommen, manchmal sogar mehr, als Fachkräfte erwarten. Eltern wissen genau, was ihr Kind im Alltag braucht, wo es hakt und was gut funktioniert. Wenn sie dieses Wissen dann in Gesprächen ansprechen, empfinden das manche Fachpersonen als Einmischung oder sogar als Grenzüberschreitung.
Gerade in Einrichtungen wie Schulen, Therapiepraxen oder Wohnprojekten ist es nicht immer gern gesehen, wenn Eltern auf interne Abläufe oder Herausforderungen hinweisen. Aussagen wie „Das wissen wir schon“ oder „Das geht Sie nichts an, das regeln wir intern“ sind Ausdruck dieser Abwehrhaltung. Denn wer lässt sich schon gerne etwas sagen, was man ohnehin weiß, oder von jemandem, der eigentlich „nur Elternteil“ ist?

Manche Fachpersonen empfinden es als unangenehm, wenn Eltern durch ihren Alltag und ihre Erfahrung Dinge benennen, die in der Einrichtung ohnehin bekannt sind, aber bisher vielleicht nicht offen angesprochen wurden. Anstatt diese Impulse zu nutzen, wird dann häufig auf das Argumentum ad parentem zurückgegriffen, um die elterliche Perspektive abzuwerten und sich den unbequemen Themen zu entziehen.
Dabei geht es hier nicht um Kontrolle oder Misstrauen, sondern um konstruktive Zusammenarbeit. Eltern wollen in der Regel keine Interna ausforschen, sondern einfach mitreden, wenn es um das Wohl ihres Kindes geht. Einblicke sind kein Angriff, sondern eine Chance, gemeinsam Lösungen zu finden. Dabei ist auch Eltern völlig klar, dass es in Einrichtungen andere Rahmenbedingungen als zuhause gibt, die selbstverständlich mit berücksichtigt werden müssen.

Was solche Aussagen bei Eltern bewirken

Wenn Eltern mit dem Argumentum ad parentem konfrontiert werden, bleibt das nicht folgenlos. Es sind nicht einfach nur ein paar unbedachte Worte, die man mal eben so wegsteckt. Es ist wie ein leises, wiederkehrendes Echo, das im Hintergrund mitschwingt: „Du weißt es nicht. Du bist nur Elternteil. Dein Wissen zählt hier nicht.“
Und wenn dieses Echo oft genug zu hören ist, hinterlässt es Spuren. Die Auswirkungen gehen tiefer, als man vielleicht auf den ersten Blick denkt.

Verunsicherung und Selbstzweifel

Eines der ersten Dinge, die Eltern berichten, ist dieses nagende Gefühl von Unsicherheit. Wenn man immer wieder hört, dass man etwas überinterpretiert, Dinge falsch sieht oder einfach „zu emotional“ ist, fragt man sich irgendwann: „Sehe ich das wirklich falsch? Bin ich zu empfindlich? Übertreibe ich?“
Damit fangen Eltern an, sich eine der wichtigsten Ressourcen selbst abzusprechen – eine natürliche Intuition für das eigene Kind. Wir wollen nichts übersehen, nichts verpassen, was unserem Kind helfen könnte. Aber genau das wird uns dann häufig als „Überfürsorge“ ausgelegt. Der innere Dialog wird zermürbend: „Habe ich jetzt zu viel gesagt? Habe ich mich zu sehr eingemischt? Oder sollte ich doch nochmal nachhaken?“

Mit der Zeit trauen sich viele Eltern immer weniger, ihre Beobachtungen anzusprechen – aus Angst, wieder als „die schwierige Mutter“ oder „der Vater, der ständig etwas auszusetzen hat“ abgestempelt zu werden. Das führt uns zum nächsten Punkt.

Erschwertes Einfordern von Unterstützung

Wenn wir uns nicht ernst genommen fühlen, kostet es immer mehr Kraft, Hilfe zu holen oder Unterstützung einzufordern. Man hat irgendwann das Gefühl, dass man mit seinen Anliegen sowieso auf taube Ohren stößt. Also lässt man es lieber bleiben, auch wenn man genau weiß, dass das Kind gerade jetzt eine Veränderung bräuchte.
Dabei sind es genau diese Alltagsbeobachtungen der Eltern, die oft den entscheidenden Hinweis geben, wenn etwas angepasst oder verbessert werden muss. Wenn wir uns aber immer wieder anhören müssen, dass wir „das zu eng sehen“, entsteht eine gefährliche Dynamik: Eltern ziehen sich zurück.

Gefühle von Ohnmacht und Ausgrenzung

Eltern sind im Leben ihrer Kinder die konstanten Begleiter. Sie sind Tag für Tag dabei, erleben Fortschritte, Rückschritte, Freude und Herausforderungen hautnah. Wenn dieses Wissen dann abgewertet wird, fühlt es sich an, als würde man von außen auf eine wichtige Diskussion blicken, bei der es um das eigene Kind geht, aber nicht mitreden darf.
Diese Ohnmacht macht etwas mit einem. Sie kann wütend machen, traurig oder auch beides gleichzeitig. Viele Eltern berichten davon, wie sehr es sie verletzt, wenn sie an wichtigen Entscheidungen nicht beteiligt werden oder wenn ihre Hinweise wiederholt abgetan werden. Die Botschaft dahinter ist für sie klar: „Du gehörst hier nicht wirklich dazu.“
Und genau das führt zu einer Ausgrenzung, die langfristig den gesamten Unterstützungsprozess erschwert. Denn Eltern sind keine Störfaktoren, sondern unverzichtbare Partner.

Der innere Rückzug und das Schweigen

Vielleicht die traurigste Folge des Argumentum ad parentem: Der Moment, in dem Eltern aufgeben, sich einzubringen. Sie haben zu oft erlebt, dass ihre Stimme nicht zählt, also schweigen sie irgendwann. Nicht, weil sie nichts zu sagen hätten, sondern weil sie resigniert haben und die Situation nicht noch mehr verkomplizieren wollen. Bis zu einem bestimmten Punkt kann man das aushalten, aber irgendwann eben auch nicht mehr.
Ich kenne einige Eltern, die anfangs mit voller Energie in Elterngespräche gegangen sind, sich informiert haben, Studien gelesen haben, bereit waren, mit Fachpersonen im Team nach Lösungen zu suchen. Nach Jahren der Abwertung sagen sie irgendwann: „Ich sage nichts mehr. Es bringt ja doch nichts.“

Für das Kind ist das eine verpasste Chance. Denn gerade diese Eltern könnten mit ihrem Wissen so viel beitragen. Aber wenn sie immer wieder in ihre Rolle als „überbesorgte Eltern“ gedrängt werden, bleibt irgendwann nur der Rückzug.
Das Argumentum ad parentem ist kein harmloses Kommunikationsmuster. Es nimmt Eltern nicht nur das Vertrauen in ihre Beobachtungen, sondern erschwert auch die Zusammenarbeit, die für das Wohl des Kindes so entscheidend ist. Wenn wir es schaffen, diese Dynamik zu erkennen und aufzubrechen, profitieren am Ende alle – Eltern, Fachpersonen und vor allem Kinder und Betreute.

Wie Eltern darauf reagieren können

Wenn wir als Eltern immer wieder erleben, dass unser Wissen abgewertet wird, sind wir irgendwann an einem Punkt, an dem wir uns fragen: „Wie reagiere ich jetzt darauf? Lohnt es sich, nochmal etwas zu sagen? Oder lasse ich es einfach bleiben?“
Es gibt kein Patentrezept. Jede Situation ist anders, jede Einrichtung, jeder Mensch, der uns gegenübersitzt, hat seine eigene Haltung und Erfahrung. Trotzdem gibt es einige Strategien, die helfen können, auf Augenhöhe zu bleiben, ohne sich in endlosen Rechtfertigungen zu verlieren.

Klar und ruhig nachfragen

Manchmal hilft es schon, gezielt nachzufragen, wenn das eigene Wissen abgewertet wird. Zum Beispiel so:

„Können Sie mir erklären, warum Sie meine Beobachtung so einschätzen?“
„Was genau meinen Sie mit ‚übervorsichtig‘? Können Sie mir das anhand einer konkreten Situation erläutern?“
Welche Informationen brauchen Sie noch von uns, damit wir eine gemeinsame Lösung finden können?“

Diese Fragen sind sachlich, direkt und zeigen, dass man nicht einfach so zur Seite geschoben werden möchte. Sie fordern eine inhaltliche Auseinandersetzung, ohne konfrontativ zu wirken.

Die eigenen Beobachtungen mit Fakten untermauern

Eltern wissen viel, auch wenn das nicht immer auf den ersten Blick sichtbar ist. Wenn es um wiederkehrende Verhaltensweisen oder Muster geht, kann es helfen, die eigenen Beobachtungen zu dokumentieren. Zum Beispiel durch kurze Notizen oder ein Verhaltensprotokoll.
So wird aus einem „Ich habe das Gefühl, dass mein Kind in neuen Situationen gestresst ist“ ein „In den letzten drei Wochen hat mein Kind in acht von zehn neuen Situationen mit Rückzug, Weinen oder Vermeidung reagiert. Das war zum Beispiel bei ….. deutlich zu beobachten.“
Solche konkreten Beispiele schaffen eine gemeinsame Grundlage und machen es schwerer, das Elternwissen als „gefühlsbasiert“ abzutun.

Mit Verbündeten sprechen und sich vernetzen

Manchmal hilft es enorm, sich mit anderen Eltern auszutauschen. Zu hören, dass man nicht allein ist, kann unglaublich bestärkend sein. Aber auch Fachkräfte, die offen sind für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, können wichtige Verbündete sein.
Eltern können auch gezielt bei Besprechungen darum bitten, bestimmte Punkte mit einzubeziehen. Zum Beispiel so:
„Ich habe das Gefühl, wir kommen hier nicht weiter. Wäre es möglich, eine externe Fachkraft hinzuzuziehen, die uns bei dieser Fragestellung unterstützt?“

Das zeigt nicht nur Engagement, sondern auch, dass man bereit ist, gemeinsam Lösungen zu finden, ohne sich dabei kleinmachen zu lassen.

Die eigenen Spielregeln kennen: Werte, Grenzen und Kompromisse

Bevor man in eine solche Gesprächssituation geht, kann es hilfreich sein, sich selbst ein paar Fragen zu stellen:
„Was ist mir hier wirklich wichtig?“
„An welchen Punkten kann ich Kompromisse eingehen und wo nicht?“
„Welche Werte möchte ich auch in dieser Diskussion vertreten?“

Manchmal ist es klug, auf einer formalen Ebene mitzuspielen, weil es die Zusammenarbeit erleichtert. Aber es gibt auch Momente, in denen es wichtig ist, bei den eigenen Prinzipien zu bleiben, selbst wenn das bedeutet, sich unbeliebt zu machen.
Es ist nicht immer einfach, diese Balance zu finden. Aber sich vorher klarzumachen, was einem wirklich am Herzen liegt, hilft dabei, sich im Gespräch nicht komplett zu verbiegen.

Manchmal ist Schweigen auch eine Entscheidung

Nicht jeder Kampf muss ausgefochten werden. Es gibt Situationen, in denen wir entscheiden, nicht weiter zu diskutieren, nicht aus Schwäche, sondern aus einer bewussten Abwägung heraus, um zum Beispiel Energie für wichtigere Themen zu sparen.
Das bedeutet nicht, alles hinzunehmen. Es bedeutet, Prioritäten zu setzen und zu überlegen: „Ist das hier gerade der richtige Ort, um mein Wissen zu verteidigen, oder gibt es gerade Wichtigeres und Zielführenderes?“

Das Ziel nie aus den Augen verlieren

Bei all diesen Diskussionen, Argumenten und Unsicherheiten darf eines nie vergessen werden: Es geht nicht um Egos, nicht um Macht und schon gar nicht darum, wer „Recht hat“. Es geht darum, dass es unseren Kindern und Betreuten gut geht. Das ist das gemeinsame Ziel, das über allem stehen sollte.
Eltern dürfen sich in solchen Situationen immer wieder fragen:
„Hilft das hier meinem Kind oder geht es gerade nur darum, wer recht behält?“
„Was braucht mein Kind jetzt wirklich und wie kann ich das auf den Punkt bringen?“

Wenn man mit dieser Haltung in Gespräche geht, bleibt der Fokus klar. Es ist keine Schwäche, an manchen Punkten nachzugeben, wenn es für das Kind keinen Unterschied macht. Aber es ist auch keine „Einmischung“, klar zu benennen, was man im Alltag sieht und welche Unterstützung notwendig ist.

Expertise von Fachleuten anerkennen

Ein weiterer wichtiger Punkt, der oft unterschätzt wird: Es kann helfen, den Fachpersonen klar zu sagen, dass wir ihr Fachwissen schätzen und brauchen. Viele Fachkräfte investieren viel Herzblut in ihre Arbeit und sind es gewohnt, von Eltern eher kritische Rückmeldungen zu bekommen. Wenn wir ihnen ehrlich vermitteln: „Ihr Wissen ist uns wichtig und wir sind froh, dass Sie hier sind“, öffnet das oft Türen für eine bessere Zusammenarbeit. Augenhöhe heißt schließlich auch, die Expertise der anderen Seite anzuerkennen.

Augenhöhe statt Abwertung – Warum Fachwissen und Elternwissen sich ergänzen

Eltern und Fachkräfte haben eigentlich ein gemeinsames Ziel: das Wohl des Kindes bzw. des erwachsenen Betreuten. Doch wenn im Austausch das Argumentum ad parentem zum Vorschein kommt, entsteht eine unsichtbare Mauer. Die Perspektive der Eltern wird abgewertet, Fachpersonen fühlen sich unverstanden oder nicht genug gewertschätzt und am Ende bleibt das Kind bzw. der Betreute auf der Strecke.

Dabei muss es gar nicht so weit kommen. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe funktioniert dann, wenn beide Seiten ihre jeweiligen Stärken anerkennen und sich gegenseitig respektieren. Fachwissen und Elternwissen sind keine Gegensätze, sie sind wie zwei Puzzleteile, die erst gemeinsam das große Bild ergeben.
Dabei ist wichtig: Augenhöhe funktioniert immer in beide Richtungen. So wie es für Fachkräfte bedeutsam ist, Eltern mit ihrem Wissen ernst zu nehmen, müssen auch Eltern das Fachwissen der Expertinnen und Experten respektieren und anerkennen. Wenn beide Seiten sich mit dieser Haltung begegnen, entsteht die Basis für eine wirklich vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Eltern sind keine Gegner – sie sind Partner

Eltern autistischer Kinder sind keine Querulanten, sondern in der Regel Experten für das Leben ihres Kindes. Sie wissen, was im Alltag funktioniert und was nicht, sie sehen Entwicklungen über Jahre hinweg und spüren, wenn sich etwas verändert.
Wenn Fachpersonen diese elterliche Perspektive als wertvolle Ressource anerkennen, profitieren alle. Eltern fühlen sich ernst genommen, sind offener für die Vorschläge der Fachkräfte und engagieren sich konstruktiv im Prozess. Fachwissen bleibt dabei weiterhin wichtig, aber es wird durch die Alltagserfahrungen der Eltern ergänzt.
Gleichzeitig ist es für Eltern hilfreich, anzuerkennen, dass Fachkräfte aufgrund ihrer Ausbildung und Berufserfahrung wichtige strukturelle, medizinische oder therapeutische Hintergründe mitbringen. Fachwissen allein reicht nicht aus, aber ohne Fachwissen geht es eben auch nicht.

Das Argumentum ad parentem erkennen und vermeiden

Das Argumentum ad parentem zeigt sich oft subtil und unbewusst. Sätze wie „Sie sind ja die Mutter/der Vater, das sehen Sie zu emotional“ oder „Lassen Sie das mal die Fachleute machen“ entstehen häufig aus Stress, Unsicherheit oder Routine.

Fachkräfte können sich hier fragen:

„Reagiere ich gerade auf das Argument oder auf die Person dahinter?“
„Bin ich bereit, die Elternperspektive ernsthaft zu prüfen, auch wenn sie nicht zu meinem bisherigen Bild passt?“
„Welches Gefühl vermittle ich den Eltern gerade? Sehen sie mich als Partnerin oder als jemanden, der sie abwertet?“*
„Warum sträube ich mich gerade? Nehme ich einen Vorschlag persönlich oder fühle ich mich in meiner Qualifikation nicht gesehen?“

Eltern können im Gegenzug darauf achten, nicht vorschnell zu urteilen, wenn Fachkräfte aus ihrer Sicht Dinge „anders machen als gedacht“. Der Alltag in einer Einrichtung ist ein anderes Umfeld als das Zuhause. Beide Perspektiven sind wichtig, und es braucht den gegenseitigen Willen, auch dann offen zu bleiben, wenn man mal nicht einer Meinung ist.

Unsicherheit aushalten – Elternwissen ist keine Bedrohung

Wenn Eltern mit fundiertem Wissen auftreten, löst das manchmal Unsicherheit aus. Fachkräfte fragen sich dann: „Warum weiß diese Mutter so viel über die Diagnose? Was sagt das über meine Arbeit aus?“
Doch genau hier liegt die Chance: Eltern, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen, sind keine „Besserwisser“, sondern engagierte Partner. Sie wollen nicht die fachliche Kompetenz infrage stellen, sondern die bestmögliche Unterstützung für ihr Kind. Fachkräfte, die diese Haltung erkennen und annehmen, profitieren vom Wissen der Eltern und vom Vertrauen, das dadurch entsteht.
Umgekehrt kann es auch Eltern helfen, solche Unsicherheiten wahrzunehmen und mit Verständnis zu begegnen. Fragen wie „Was braucht es, damit wir hier gemeinsam weiterkommen?“ oder „Welche Erfahrungen aus dem Alltag könnten für Ihre Arbeit hilfreich sein?“ signalisieren, dass sie das Fachwissen respektieren und ernst nehmen.

Transparenz schafft Vertrauen

Ein häufiger Auslöser für das Argumentum ad parentem ist das Gefühl, dass Eltern „zu viel“ wissen oder „zu nah dran“ sind. Manche Einrichtungen halten Abläufe bewusst intransparent, weil sie Angst haben, dass Eltern sich dann noch mehr einmischen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Wenn Eltern spüren, dass sie nur an der Oberfläche mitdenken dürfen, entsteht Misstrauen.
Transparenz bedeutet nicht, dass Fachpersonen ständig Rechenschaft ablegen müssen. Aber es bedeutet, Abläufe offen zu erklären, Entscheidungen nachvollziehbar zu machen und Eltern einzubeziehen. Zum Beispiel so:
„Wir haben uns für diese Maßnahme entschieden, weil wir im Alltag beobachtet haben, dass… Was sind Ihre Erfahrungen dazu?“
„Uns ist aufgefallen, dass X dem Kind hilft – haben Sie das zu Hause auch schon beobachtet?“

Auch Eltern können ihren Teil zur Transparenz beitragen. Es hilft, nicht nur Herausforderungen anzusprechen, sondern auch offen über Beobachtungen zu berichten, die für die Fachkräfte wertvoll sein könnten, selbst wenn es sich um vermeintliche Kleinigkeiten handelt.

Die gemeinsame Verantwortung im Blick behalten

Am Ende steht immer das (erwachsene) Kind im Mittelpunkt. Wenn Eltern und Fachpersonen es schaffen, trotz unterschiedlicher Perspektiven in Kontakt zu bleiben, entsteht eine starke Basis für gute Entscheidungen. Das bedeutet nicht, dass alle immer einer Meinung sind, aber dass alle das gleiche Ziel verfolgen.
Der Schlüssel liegt in einer Haltung der gegenseitigen Wertschätzung. Eltern wissen, was im Alltag zählt. Fachkräfte wissen, welche strukturellen und fachlichen Hilfen es gibt. Beide Seiten brauchen einander. Das Argumentum ad parentem ist dabei nichts anderes als eine Kommunikationsfalle, die diesen gemeinsamen Weg erschwert und die man gemeinsam vermeiden kann.

Dank an engagierte Fachkräfte

Zum Schluss möchte ich noch etwas Wichtiges anmerken: Es gibt viele Fachkräfte, die Eltern von autistischen Kindern mit großem Respekt und echtem Interesse begegnen und für genau diese wertschätzende Zusammenarbeit sind wir als Eltern unglaublich dankbar. Uns ist absolut bewusst, wie viel Einsatz, Geduld und Fachwissen hier täglich investiert wird.
Dieser Beitrag richtet sich nicht gegen Fachkräfte, sondern gegen ein Kommunikationsmuster, das unbewusst passieren kann und das es wert ist, gemeinsam im Blick zu behalten.

Noch mehr Impulse zu Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Der Umgang mit Fachkräften, Systemen und den oft komplizierten Strukturen, die den Alltag mit einem autistischen Kind begleiten, ist eine Herausforderung, die viele Eltern gut kennen. Wie man dabei gleichzeitig klar bleibt, sich nicht verbiegen muss und trotzdem konstruktive Gespräche führen kann, beschreibe ich ausführlicher in meinem neuen Buch.
Darin gibt es ein eigenes Kapitel zu genau diesem Thema: Wie wir uns selbst treu bleiben, auch wenn wir mit Fachkräften zu tun haben, die uns nicht ernst nehmen. Wie wir zwischen Kompromissen und klaren Grenzen abwägen und wie wir den Fokus nicht verlieren: Dass es am Ende immer darum geht, was unser (erwachsenes) Kind braucht.

Denn darum geht es letztlich: Nicht darum, wer recht hat oder wer mehr weiß, sondern darum, dass die bestmögliche Unterstützung greifen kann. Und das gelingt nur, wenn Eltern und Fachkräfte wirklich als Team zusammenarbeiten.

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. ich erlebe es immer wieder in meiner Arbeit als Familienhelfer, dass Eltern nicht für voll genommen werden. auch die fachliche Zusammenarbeit im Interesse des Kindes wird schief beäugt, ggf. wir eine große Nähe vermutet. Das hier zwei unterschiedliche Fachkräfte im Austausch stehen, wird nicht gut bedacht
    Im großen Stil ist es immer der oder die Mitarbeiterin aus dem Jugendamt. Fehlt hier Erfahrung? Meist ist es aber ein nicht zu trauen in die Expertise der Eltern.
    ich habe gute Erfahrungen gemacht. habe ich auch aus anderer Perspektive früher agiert, ist mir das hier gut bekannt.
    Danke für den guten Text

    1. Hallo lieber Thomas, ja interessant, dass du das auch innerhalb der fachlichen Seite erlebt. Vielen Dank für Deine Meinung dazu und alles Gute, Silke

  2. Liebe Silke,

    ich habe das noch nie so auf den Punkt gebracht gelesen. Wenn ich lese, was du schreibst, ist es eigentlich total logisch, mir hat das nur noch niemand erklärt.
    Danke dafür, auch für die wertvollen Lösungsansätze.

    VG Chris

    1. Liebe Chris, sehr gerne und danke für deine Rückmeldung. Ich wünsche dir alles Gute beim Umsetzen, wenn nötig. LG Silke

  3. Hallo liebe Silke,

    ich bin auf der fachlichen Seite und auf der Elternseite und ich muss leider sagen, dass ich unterschreiben muss, was du beschreibst. Ich werde erst ernst genommen, wenn ich meine Ausbildung als Heilpädagogin ins Feld führe und manchal bekomme ich auch dann noch gesagt, dass es in diesem Fall keine Rolle spielt, weil ich als Mutter am Tisch sitze. So, als ob ich dann alles vergessen habe, was ich mal gelernt habe.

    Es gibt natürlich auch tolle Leute, so wie du selbst schreibst. Ich finde es schön, dass du auch das im Text integriert hast, weil sie ein gutes Beispiel für andere sein können.

    Sonnige Grüße, Sabine

    1. Liebe Sabine, das ist sehr interessant, danke für diesen Einblick. Und ja – ich finde es schön, dass du auch das Positive im Beitrag bemerkt hast. Selbstverständlich läuft es vielerorts sehr gut und das ist wunderbar.
      Herzlichst Silke

  4. Joah, mutig. Und treffend.
    Ich habe selten etwas gelesen, dass den Nagel so auf den Kopf trifft.
    Sicherlich gibt es auch andere Personengruppen, die das so empfinden, aber hier geht es ja um die Eltern und da ist es sowas von passend.
    Danke für deine Stimme.
    Dein Buch werde ich mir jetzt direkt holen.
    Tom

    1. Hallo Tom, ja bestimmt gibt es auch viele andere, die das zu ihren Themen so sehen. Auch Autistinnen und Autisten geht es leider häufig so, dass sie nicht gehört und ernst genommen werden.
      Viel Freude beim Lesen, herzlichst Silke

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