Warum man als Eltern behinderter Kinder schwierige und anstrengende Zeiten oder durchgängige Belastung ohne schlechtes Gewissen benennen darf…..
Leserbrief von Tanja:
Ich muss hier etwas loswerden, von dem ich nicht weiß, wohin sonst.
Meine Tochter ist acht Jahre alt, sie ist Autistin mit hohem Unterstützungsbedarf, ich muss sie waschen, anziehen, ausziehen, füttern. Sie muss immer unter Aufsicht sein. Unsere Nächte sind fünf Mal die Woche um drei Uhr zu Ende, obwohl die kleine Maus erst um zehn Uhr zur Ruhe und ins Bett kommt. Das zehrt sehr an unseren Kräften.
Meine kleine Maus, die ich über alles liebe, hat den Pflegegrad fünf, was ihren großen Hilfebedarf dokumentiert.
Nun zum Eigentlichen: neulich war eine Bekannte hier und wir sprachen über unsere Kinder und sie fragte mich, welchen Pflegegrad Marie eigentlich habe.
„Fünf??“ Sie war ganz entsetzt. „Ja, aber jeder hat doch Probleme, das ist ja schon ein bisschen übertrieben. Ich renne ja auch nicht gleich los und beantrage einen Pflegegrad, wenn meine Tochter herumkrümelt und ich wegen ihres Gejammers am Ende meiner Kräfte bin.“
Ich musste erstmal aufstehen und das Bad aufsuchen. Entschuldigte mich. Wollte die Fassung bewahren und wusste gleichzeitig nicht, ob ich es tatsächlich wollte.
Dann ging ich zu ihr zurück und sagte, was ich mir auf dem Klo überlegt hatte: „Du fühlst Dich angestrengt und überfordert? Das ist Dein gutes, ganz persönliches Recht. Mein Kind hat eine Behinderung und das ist ein objektiver Tatbestand. Der wurde dokumentiert und das darf ich auch so benennen. Daran hängt allerhand und auch das darf ich benennen, wenn ich das möchte.“
„Ja nun sei doch nicht gleich so“, kam von ihr „ich kann doch nichts dafür.“
Natürlich kann sie nichts dafür, darum ging es doch auch gar nicht. Mich macht es rasend, wenn die Leute immer gleich mit der Schuldfrage kommen, nur weil man ihnen etwas erzählt, mit dem sie nicht klarkommen, aus welchem Grund auch immer. Ich hatte nicht einmal gesagt, dass es anstrengend ist, ich hatte ihr nur auf die Frage nach dem Pflegegrad geantwortet. Sofort kam eine Verteidigungshaltung.
„Du musst zugeben, dass es heutzutage alle nicht leicht haben. Guck doch mal in andere Länder,“ meinte sie dann noch. Und ich sagte: „Nein, das kann ich so nicht sagen. Da gibt es schon deutliche Unterschiede und das darf man auch sagen. Schließlich hat es einen Grund, warum es Schwerbehindertenausweise und Pflegegrade gibt. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern hat einen Grund, der nicht wegrelativiert und bagatellisiert werden darf.“
Sie ging dann mit den Worten: „Ich kann nichts dafür. Du hast wohl noch nicht verarbeitet, dass Deine Marie nicht normal ist.“
Wieder dieses „Ich kann nichts dafür. Ich bin nicht schuld.“ Das ist eine Art von Unterhaltung, die mich schrecklich hilflos macht, weil sie die Tatsachen verdreht.
Ich wollte das hier gerne schreiben. Vielleicht geht es anderen auch so.
Von Herzen Danke für Deinen Blog, liebe Ella, ich fühle mich immer so verstanden und lerne so viel, Tanja
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Liebe Tanja,
danke für Dein Vertrauen und Deine Offenheit, Deine Gedanken auf „Ellas Blog“ zu teilen.
Ich kann jedes Wort nachvollziehen, das Du schreibst, und auch Niklas hat Pflegegrad 5.
Das Thema „Schuld“ macht auch mich immer wieder wütend und fassungslos und zwar deshalb, weil es dieses Thema meistens gar nicht gibt, weil viele Umstände überhaupt keine Frage von Schuld sind und manche Dinge einfach sind wie sie sind, so wie in Deinem Beispiel.
Trotzdem wird in unserer Gesellschaft sehr schnell nach Schuld oder dem oder der Schuldigen gefragt, einfach um ein Problem vermeintlich zu lösen oder einer Diskussion einen Riegel vorzuschieben oder weil das Gegenüber selbst ein Problem mit dem Schuld-Thema hat, weil es uns von Kindheit an eingepflanzt wird.
Es ist genau richtig, was Du schreibst: es hat einen Grund, warum man Hilfen beantragen kann und das sind objektive Tatbestände, die niemand wegdiskutieren kann – subjektive Belastungsgrenzen hin oder her.
Ich finde, dass Du das sehr gut gelöst hast: weggehen, überlegen, Dir und Deinem Kind treu bleiben.
Niemand kann dem anderen hinter die Stirn gucken, niemand kann wissen, was sich in den Leben anderer alles ereignet und abspielt und welche Sorgen manche Menschen haben. Aber wir dürfen uns positionieren und sagen, was in unserem Leben Fakt ist und wir dürfen uns auch dagegen wehren, wenn relativiert und bagatellisiert wird, vor allem wenn es um Banalitäten wie dreckige Schuhe oder Kuchenkrümel geht.
Es ist immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit – und zwar auf beiden Seiten.
Übergriffig und respektlos ist es, wenn „Dreck- und Krümelthemen“ mit den Belastungen, die ein Leben mit Behinderung mit sich bringen, gleichgesetzt werden.
Respektlos ist es aber auch, nur über Ausschnitte im Leben anderer zu urteilen, denn sicherlich gibt es auch dort mehr als „Dreck- und Krümelthemen“, um bei diesem Ausdruck zu bleiben.
Es geht darum, dass man benennen darf, was das eigene Leben ausmacht und evtl. schwer macht.
Du darfst das. Ich darf das.
Und andere wiederum dürfen uns das selbstverständlich auch sagen. Keine Frage. Denn vieles sehen wir gar nicht.
Wer gleich mit der „Schuldkeule“ kommt, sollte sich selbst fragen, woran das liegen könnte.
Alles Liebe für Dich und Marie
Silke alias Ella :-)
Würde sich bei mir zu Hause jemand so äußern, wie die Bekannte von Tanja, dann würde ich sie raus schmeißen!
Hallo Tanja und Ella,
wir haben (nur) Pflegegrad 3, aber
ich kann trotzdem nachempfinden, wie es Euch mit Euren Kindern geht!
Und bei mir ist es öfters mal genauso, innerhalb der Familie sogar!
Da wird nicht verstanden, warum wir für unseren Sohn (fast 4) einen Pflegegrad haben und dann wird verglichen bis zum Geht nicht mehr! Und sowieso ist eine Pflegestufe/grad nur was für alte Menschen, die ja nichts mehr alleine machen können!!!
Meine Oma ist eine herzensgute Frau, aber mit diesem Thema (und andere) kann und brauche ich nicht mehr mit ihr darüber reden – schade!
Viele glauben, dass Pflegegrade für Kinder schwachsinnig sind, da es sowieso die Aufgabe der Eltern ist, sich um ihre Kinder zu kümmern. Gerade bei Autismus, wo die Grenzen fließend sind, muss man sich dann anhören, man hätte das Kind nur nicht richtig erzogen und wollte jetzt auch noch beim Staat dafür abkassieren. Bei so was fühle ich mich hilflos. Mein Sohn ist 14, aber er geht nirgendwo allein hin. Er braucht Begleitung in nahezu jeder Lebenslage. Er muss zu allem aufgefordert, animiert und gebettelt werden. Und wenn das nicht reicht, dann helfen wir nach, cremen seine Haut, helfen beim Duschen oder Anziehen. Das ist für einen 14-jährigen nicht normal. Ich muss darauf achten, ob er nachts richtig atmet, denn er hat starkes Asthma, erkennt aber selbst die Symptome nicht und kann deshalb auch nicht dementsprechend reagieren. Das ist eine große Belastung für uns. Wenn er sich nicht verstanden fühlt und dann herumschreit, wenn er sich provoziert fühlt und dann auf seinen kleinen Bruder losgeht, so dass wir eigentlich immer in der Nähe sein müssen, um eingreifen zu können, dann finde ich, sollte man uns das Recht zuerkennen, diese Probleme benennen zu dürfen. Das geht weit über das Arbeitspensum hinaus, dass man bei einem 14-jährigen haben sollte. Und dafür bitten wir um Unterstützung und Verständnis.
Wenn „Bekannte“ so reagieren, haben sie nichts verstanden. Wenn sie sich dafür auch rechtfertigen, signalisieren sie: „Ich will auch meine Meinung zu diesem Thema nicht ändern.“
Dazu mein Ratschlag: Solche Bekannte nicht rausschmeißen, weil das einfach zu sehr vor den Kopf stößt, sondern ganz höflich und behutsam den Kontakt zu diesen Menschen komplett beenden, da sie eine zusätzliche Belastung für die betroffenen Eltern darstellen.