Gastbeitrag: Ein Freiwilliges Soziales Jahr als Reise zu sich selbst

veröffentlicht im Oktober 2016


Ich möchte euch gerne einen richtig tollen Gastbeitrag vorstellen, den Saskia geschrieben hat. Einmal mehr zeigt ihre Erzählung, wie unsere besonderen Kinder die Herzen anderer Menschen bewegen und deren Leben beeinflussen können.

Alle Namen wurden, wie immer, geändert.

Freiwilliges Soziales Jahr in einem Förderzentrum mit Schwerpunkt geistige Entwicklung

Nach 13 Jahren Schule erwarten alle, dass man feste Pläne für die Zukunft hat.
Alle hatten welche, nur ich nicht.
Schließlich beschloss ich ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) mit und bei behinderten Menschen zu machen – Eine Erfahrung ist es auf jeden Fall wert, dachte ich.

Es war kurz nach Pfingsten und ich hatte einen Hospitationstag in einem Förderzentrum. Nach gefühlt hundert Mal Verlaufen fand ich es. Mein erster Gedanke: „Sieht ganz ‚normal‘ aus!“. Also ging ich rein, meldete mich an und wurde gleich in eine Klasse geführt. Während der ersten Stunden versuchte ich mich daran, einem Schüler, der nur in Wortbrocken spricht, die verschiedenen Arten der Uhren anhand von Bildern beizubringen, Tränen zu trocknen und zu erklären, warum ich denn gerne ‚Babytomaten‘ esse.
Nach einer kurzen Mittagspause, in der ich mich mit anderen FSJlern austauschen konnte, war ich für die letzten Stunden in einer Klasse mit jüngeren Schülern eingeteilt. Es waren ruhige Stunden, gefüllt mit diversen Spielen und einer kleinen Kaffeerunde.

Der Tag endet für mich mit dem Türdienst. Auf dem Weg zur Tür hörte ich lange, ziemlich hohe und damit schmerzhafte Schreie. Ich zuckte erschrocken zusammen.
„Das ist bestimmt nur Tom. Das geht vorüber“, war ein ruhiger und informativer Kommentar. Wie ich erst später erfuhr, ist Tom Autist.

Zwei Tage später erhielt ich die Zusage für einen FSJ-Platz in genau dieser Einrichtung und konnte drei Monate danach mit meiner Arbeit dort anfangen.
Der erste Tag begann für mich mit dem üblichen Papierkrieg, der dazugehört, aber nach einer Stunde war auch das geschafft und ich konnte in meine Einrichtung.

haende

Kaum angekommen bekam ich gesagt, in welcher Klasse ich gebraucht und welche Aufgaben ich haben werde. Ich war Unterstützung für Fabian und das Team der gesamten Klasse. Es war die erste Klasse, die ich auch an meinem Hospitationstag besucht hatte. Nicht nur die Schüler freuten sich darüber, ich auch.

Noch in den ersten Minuten erfuhr ich, dass ein schwerstbehinderter Schüler der Klasse inzwischen leider verstorben war.

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde ging es auf die Bowlingbahn. Zwei Klassen, ein Rollstuhl und sieben Pädagogen, FSJler und Schulbegleiter.
Fazit des ersten Tages: Bowling mit den Schülern hat echt Spaß gemacht und den ersten Kontakt zu Fabian erleichtert. Und auch der Türdienst, bei dem wir die Schüler auf ihre Busse aufteilten, war zwar etwas unkoordiniert verlaufen, aber am Ende war auch der geschafft.

Im Laufe des Jahres habe ich Kämpfe ausgetragen, gewonnen, verloren und dennoch an manchen Tagen gezweifelt, ob das FSJ die richtige Entscheidung war, denn die ersten vier Monate waren voll mit Seminaren, Ferien und krank sein. Ich konnte nicht ankommen und die Schüler konnten sich auch nicht auf mich einlassen.

Und da kam dieser Blog ins Spiel! Es war kurz nach Neujahr und ich surfte durchs Netz auf der Suche nach irgendwas, das mir im Umgang mit diesen tollen Kindern und Jugendlichen helfen könnte. Dank Google und Facebook bin ich dann auf ‚Ellas Blog‘ gelandet. Nach groben scrollen und überfliegen der Texte folgte ich dem Blog und empfand ein Gefühl von Erleichterung und Verständnis.
Ich erkannte viele Situationen aus meinem Arbeitsalltag wieder und die Texte erleichterten mir in meiner Unbeholfenheit die Arbeit mit Tom, mit dem ich in regelmäßigen Abständen freitags arbeiten durfte. Der Blog hat mir die Ängste genommen und machte es mir leichter, manche Situationen zu verstehen, denn abends gab es oft genau an solchen Tagen einen neuen, passenden Beitrag.

Es gab Situationen, vor allem in der ersten Zeit, in denen ich mich fragte: Wie soll ich es schaffen, Fabian zum Essen zu bringen, wenn das Essen verweigert oder wieder ausgespuckt wird? Wie soll ich mit den Tränen umgehen? Wie soll ich mit meiner Empathie umgehen? Was soll ich tun, wenn die Krämpfe einsetzen? Was soll ich tun, wenn ein Wutanfall Einzug hält? Wenn Gefühlschaos in Tränen und Unverständnis endet?
Was ich gelernt habe ist, dass mit Lachen leichter umzugehen ist als mit Tränen, Angst, Wut, Gefühlschaos und Gedankenstrudel, die nicht in Worte gefasst werden können.

Aber es gab auch viele tolle Erlebnisse. Mein persönliches Highlight des FSJ?
Weder die Seminare noch die Abschlusswoche konnten das Zirkusprojekt toppen! Eigentlich sollten unsere Schüler die Stars der Manege sein, doch auch wir wurden als Unterstützer der Schüler mit eingespannt. So stand ich zum Schluss als Clown mit meinen Schülern zusammen in der Manege.
An meinem Geburtstag war ich 15 Minuten unten an der Tür, um die Schüler zu begrüßen und als ich in den Raum hoch kam, wurde ich mit einem Ständchen begrüßt. Und umarmt wurde ich auch ganz oft an diesem Tag. Sie waren so glücklich, dass sie jedem Pädagogen sagen mussten, dass ich Geburtstag habe.

Im Laufe des Jahres gab es bei den Schülern natürlich auch Tränen, Wutausbrüche, Lachen und Freudenträne, aber auch Abschiedsschmerz war dabei. Als ich mich am letzten Schultag verabschieden musste, habe nicht nur ich geweint, auch die Schüler haben mit geweint. Viele Erinnerungen nehme ich mit aus diesem tollen Jahr.

Fazit: Jetzt habe ich einen Plan für die Zukunft:
Ich habe mit dem neuen Schuljahr eine Ausbildung zur Sozialassistentin angefangen, um dann die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin machen zu können. Das ist Voraussetzung für die Arbeit mit behinderten Kinder und Jugendlichen. Das FSJ und Ellas Blog haben mir geholfen, mir über meine Zukunft klar zu werden.

Und es stimmt: Die Arbeit mit behinderten Menschen, egal welche Form der Behinderung oder dem Stand der geistigen Entwicklung, ist „eine Reise zu sich selbst.“

Saskia

Vielen Dank, liebe Saskia, ich bin zutiefst gerührt und wünsche Dir alles, alles Gute, noch viele Geburtstage wie Du sie beschrieben hast und etliche glückliche Clownsnasen.
Danke, dass Du Kinder wie unsere begleitest.

Silke, alias Ella

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KOMMENTARE

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  1. Ein sehr schöner Beitrag,der auch mich sehr zutiefst gerührt hat.Danke,dass du diese tollen Erfahrungen mit uns teilst.
    Ich habe selber vor 20 Jahren ein Soziales Jahr mit 2frühkindlichen Autisten gemacht und habe in dieser Zeit viele tolle Erfahrungen gemacht.Damals gab es leider noch nicht Ellas Blog.Aber diese Erfahrungen begleiten einen ein ganzes Leben und prägen einen für seinen Weg,den man geht.
    Alles Liebe für dich liebe Saskia und ich hoffe,dass mein Sohn später auch so ein Glück hat,eine Begleitung wie dich zu haben.

  2. Ich habe ähnliche Erfahrungen wie Saskia gemacht.
    Ich wusste nach meinem Abitur auch nicht so genau, was ich machen wollte. Also entschied ich mich letztendlich auch für ein FsJ in einer Kurzzeiteinrichtung für geistig und schwermehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche. Leider habe ich sehr gemischt Erfahrungen gemacht, was vor allem daran lag, dass das Team uns FsJler nicht richtig eingearbeitet hat und ich zum Beispiel in meiner ersten Woche direkt ein sehr pflegebedürftiges Rollstuhlkind und einen Autisten mit starker Weglauftendenz betreuen musste und das obwohl ich keinerlei Erfahrungen in Sachen Pflege und Behinderung hatte. Aber trotzdem konnte ich gerade mit den Kindern sehr viele positive Erfahrungen machen und das FsJ hat mich ziemlich geprägt. Und zu meinem Glück habe ich meinen besten Freund auf einem der FsJ Seminare kennen gelernt
    Mittlerweile studiere ich auch im sozialen Bereich, vielleicht wird meine Bachelorarbeit sogar das Thema Autismus behandeln

    Ich kann jedem vor einer sozialen Ausbildung bzw Studium nur empfehlen ein FsJ zu machen, um mal in die Arbeitswelt herein zu schauen.
    Allerdings bin ich auch der Meinung, dass FsJler leider sehr ausgebeutet werden (Vollzeitstelle, am Wochenende und Feiertage arbeiten, unter 450 Euro Verdienst im Monat), weswegen man auch ruhig öfter mal nein sagen sollte, wenn es beispielsweise darum geht, Aufgaben zu übernehmen für die eigentlich die Festangestellten zuständig sind, wie Medikamente stellen.

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