In der Autismusszene ist in letzter Zeit eine spannende Entwicklung zu beobachten: Immer öfter wird gefordert, dass nur noch Autistinnen und Autisten aufklären sollen. Auf den ersten Blick klingt das völlig nachvollziehbar – wer könnte besser über das Autismus-Spektrum sensibilisieren als diejenigen, die selbst autistisch sind? Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird, dass auf diese Weise viele wichtige Stimmen ungehört bleiben.
Natürlich ist es absolut wertvoll und notwendig, dass autistische Menschen gehört werden. Es ist ein Muss. Ihre Erfahrungen und Perspektiven bringen eine Authentizität in die Diskussionen, die durch nichts zu ersetzen ist. Aber wenn wir den Dialog auf diese Perspektive beschränken, laufen wir Gefahr, andere wichtige Stimmen zu übersehen – darunter die von Fachleuten, Angehörigen und, nicht zu vergessen, denjenigen, die sich selbst nicht vertreten können.
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Ein berechtigter Wunsch nach Eigenvertretung – und seine Grenzen
Der Wunsch nach Eigenvertretung ist absolut nachvollziehbar. Ich verstehe gut, dass viele Autistinnen und Autisten endlich ihren eigenen Raum einnehmen möchten, nachdem lange Zeit über sie gesprochen wurde, ohne dass sie selbst zu Wort kamen. Dieser Raum muss geschaffen werden – keine Frage. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass das Autismus-Spektrum unglaublich vielfältig ist. Diejenigen, die heute als Sprecherinnen und Sprecher auftreten, sind oft die, die dazu in der Lage sind – in der Regel Menschen, die verbal kommunizieren können und sich gut in sozialen Medien oder auf Bühnen ausdrücken können.
Aber was ist mit denen, die das nicht können? Was ist mit den nonverbalen Autistinnen und Autisten, mit denjenigen, die andere Kommunikationsformen nutzen oder sich nicht so einfach mitteilen können? Wer spricht für sie, wenn die Bühne nur für selbstvertretende Stimmen reserviert ist?
Die Expertise der Fachleute und Angehörigen – und was ich daraus gelernt habe
Neben den Stimmen der Autistinnen und Autisten gibt es noch eine weitere, ebenso bedeutende Perspektive: die der Fachleute. Ihr Input ist für mich ungemein wertvoll, denn ihre Einsichten und ihr Wissen bieten nicht nur Orientierung, sondern helfen auch dabei, meine eigenen Ansichten zu hinterfragen, zu ergänzen und aus einem neuen Blickwinkel zu reflektieren. Gerade durch diesen Austausch konnte ich immer wieder wertvolle Anregungen gewinnen, die mir halfen, meinen eigenen Weg klarer zu sehen und neue Ansätze in meinen Alltag zu integrieren.
Und dann sind da die anderen Eltern, die wie ich selbst mitten im Leben mit autistischen Kindern stehen. Von ihnen habe ich genauso viel lernen dürfen – sei es durch geteilte Erlebnisse, durch Tipps und Ratschläge, die man nicht in Büchern findet, oder einfach durch das Gefühl, verstanden zu werden. Es ist ein Netzwerk an Wissen und Erfahrung, das mich immer wieder aufs Neue überrascht und inspiriert. Dabei habe ich festgestellt, dass auch wir Eltern neben unserer eigenen Innensicht als Mutter oder Vater eine Außensicht brauchen, um unser subjektives Erleben einordnen und damit umgehen zu können. Es hilft ungemein, die Erfahrungen anderer Eltern zu hören, die von ähnlichen Kämpfen berichten, und zu merken, dass man nicht allein ist. Oder auch von Fachleuten, die unsere Erlebnisse in einen größeren Kontext setzen und dadurch oft eine Erleichterung und ein besseres Verständnis schaffen.
Warum es alle Perspektiven braucht
Ich glaube deshalb fest daran, dass wir uns nicht auf eine einzige Perspektive beschränken sollten. Die Welt des Autismus ist groß und vielfältig, und genau das sollte auf Fachtagen und in Diskussionen sowie beim Austausch zum Ausdruck kommen – eine bunte Mischung aus Stimmen, die sich gegenseitig bereichern.
Nur so können wir einen Dialog führen, der wirklich inklusiv ist – einen Dialog, der Platz für alle Perspektiven lässt und dafür sorgt, dass auch die gehört werden, die selbst nicht sprechen können. Denn es geht nicht nur darum, wer spricht, sondern auch darum, wer zuhört und für wen gesprochen wird.
Innensicht versus Außensicht: Ein Zusammenspiel, das es braucht
Hier stellt sich die Frage: Reicht die Innensicht allein wirklich aus, um Verständnis für das Autismus-Spektrum zu schaffen? Oder braucht es nicht auch die Außensicht, um dem Thema gerecht zu werden?
Die Innensicht ist natürlich unverzichtbar. Sie vermittelt uns die unmittelbaren Erfahrungen, Bedürfnisse und Herausforderungen, mit denen autistische Menschen im Alltag konfrontiert sind. Sie bringt uns die gelebte Realität näher, so wie sie von innen heraus empfunden wird und vermittelt Strategien direkt aus der Praxis, um mit der neurotypisch geprägten Welt zurechtzukommen. Aber ich habe oft erlebt, dass diese Perspektive allein manchmal nicht alle Zusammenhänge oder Details erschließen kann.
Die Außensicht ergänzt und erweitert dieses Bild. Sie hilft dabei, Dinge zu verstehen, die von innen heraus schwer greifbar sein können. Manchmal braucht es diese Außensicht, um Brücken zu bauen oder als enge Bezugsperson das weiterzugeben, was nichtsprechende Autistinnen und Autisten betrifft – gerade in einer Welt, die oft von neurotypischen Normen geprägt ist. Sie kann erklären, was für Außenstehende schwer nachvollziehbar ist, und fördert den Dialog zwischen verschiedenen Sichtweisen.
Die Notwendigkeit unterschiedlicher Perspektiven für ein vollständiges Bild
Diese Überlegungen gelten nicht nur für das Thema Autismus, sondern für viele andere Bereiche des Lebens. Ob es nun um das Erleben einer chronischen Krankheit geht, um den Umgang mit einer Behinderung oder um die Erfahrungen von Menschen in ganz anderen sozialen und kulturellen Kontexten – oft erschließt sich der vollständige Zugang zu einem Thema erst, wenn wir bereit sind, verschiedene Perspektiven zuzulassen.
Die Innensicht bringt die persönliche Dimension und das subjektive Erleben ein. Die Außensicht, so habe ich gelernt, ermöglicht eine breitere Betrachtung, die auch mal die Nuancen hervorhebt, die von innen heraus nicht immer sichtbar sind. Beide Perspektiven sind wichtig und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Verständnis durch Zusammenspiel – und Respekt für alle Perspektiven
Es gibt natürlich in jeder der erwähnten Gruppen Menschen – seien es Autistinnen und Autisten, Fachleute oder Angehörige – deren Verhalten oder Ansichten nicht akzeptabel erscheinen. Wir alle haben wohl schon Begegnungen erlebt, die uns irritiert oder enttäuscht haben. Doch solche Erfahrungen sollten nicht dazu führen, dass wir ganze Gruppen pauschal abwerten oder als nicht tragbar einstufen. Jede Gruppe hat ihre Vielfalt, und es wäre ungerecht und unklug, die Handlungen Einzelner auf alle zu übertragen. Denn überall gibt es Menschen, die wertvolle Beiträge leisten, die bereichern und den Dialog voranbringen.
Für mich geht es also nicht darum, die eine Perspektive über die andere zu stellen. Es geht darum, beide zuzulassen und wertzuschätzen. Denn nur so können wir ein wirklich vollständiges Bild zeichnen. Gerade im Bereich Autismus, der so unglaublich facettenreich ist, braucht es die Stimmen der Autistinnen und Autisten genauso wie die der Fachleute, Angehörigen und Beobachter, um dem Thema gerecht zu werden.
Ich bin zutiefst dankbar für all das, was ich von so vielen verschiedenen Menschen lernen durfte. Jeder, der bereit ist, zuzuhören und seine Perspektive zu teilen, hat etwas Wertvolles beizutragen. Am Ende geht es darum, einen Dialog zu führen, der offen ist für alle Stimmen und uns alle ein Stück weiterbringt – im Verstehen, was es bedeutet, autistisch zu sein, und im Verständnis füreinander.
Die Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen sind übrigens oft gar nicht so klar zu ziehen. Autistinnen und Autisten können selbst Eltern oder als Fachleute in der Autismusarbeit tätig sein. Fachleute wiederum stehen plötzlich vor der Situation, selbst Eltern eines autistischen Kindes zu werden, und viele Eltern arbeiten in Einrichtungen oder engagieren sich als Fachkräfte. Ich habe oft erlebt, wie diese Rollen ineinanderfließen und wie wertvoll der Austausch ist, wenn wir die Perspektive des anderen einnehmen. Umso wichtiger ist es, miteinander zu sprechen, einander zuzuhören und voneinander zu lernen.