Viele Menschen reden über Inklusion, als wäre sie bereits erreicht – ein Haken auf einer Checkliste. Doch die Realität sieht für viele Autistinnen und Autisten, besonders für jene mit hohem Unterstützungsbedarf, ganz anders aus. Für sie bleibt die Welt oft verschlossen hinter dicken, undurchdringlichen Türen. Diese Türen öffnen sich nicht durch Willensbekundungen oder theoretische Inklusionskonzepte, sondern durch konkrete, auf die jeweilige Person abgestimmte Unterstützung. Und genau diese fehlt zunehmend.
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Wo bleibt die individuelle Unterstützung?
Viele Autistinnen und Autisten haben nur eingeschränkten Zugang zu Bildungs-, Freizeit- und anderen Angeboten. Die Hürden sind hoch, die Barrieren vielfältig – und für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf scheinen sie fast unüberwindbar. Während einige mit Hilfsmitteln wie Kopfhörern oder durch das Angebot beruhigter Zonen eine Teilnahme möglich machen können, ist das für AutistInnen mit hohem Unterstützungsbedarf oft nicht einmal ein Anfang. Es fehlt an geschultem Personal, an passender Begleitung und an einer Struktur, die auf ihre ganz individuellen Bedürfnisse eingeht.
Gerade in letzter Zeit verschärft sich die Situation immer mehr durch den Mangel an Mitarbeitenden und Fachkräften. Dieser Mangel hat direkten Einfluss auf die Teilhabe – oder besser gesagt: auf die Nicht-Teilhabe. Ohne ausreichend Personal, das sich individuell auf die Person einstellen kann, bleibt Teilhabe leider oft nur ein nettes Wort auf dem Papier.
Teilhabe darf nicht vom Geldbeutel der Familie abhängen.
Und hier kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel: Das liebe Geld. Es ist erschreckend, wie oft die Möglichkeit zur Teilhabe daran scheitert, dass Anträge abgelehnt werden, geltendes Recht nicht umgesetzt wird und die Familien nicht genug finanzielle Mittel haben, um dies selbst auszugleichen oder vorzufinanzieren bis ggf. einem Widerspruch stattgegeben wurde.
Unterstützung wird damit häufig zur Frage des Geldbeutels – und das ist schlichtweg inakzeptabel. Es kann und darf nicht sein, dass Eltern, die für die Unterstützung ihrer Kinder kämpfen, wie Bittsteller behandelt werden, als würden sie versuchen, sich etwas zu erschleichen.
Diese Unterstützung z.B. in Form von Eingliederungshilfe, ist ein Recht, kein Luxus, den sich nur wenige leisten können sollten. Familien werden durch die Mühlen der Bürokratie geschickt, Anträge gestellt, Formulare ausgefüllt, Widersprüche eingelegt. Und allzu oft stoßen sie auf Misstrauen und Widerstand – als würden sie zu Unrecht Forderungen stellen. Das ist untragbar und stellt den Wert unserer Gesellschaft in Frage.
Denn der Wert einer Gesellschaft sollte sich doch daran bemessen, wie sie mit denjenigen umgeht, die am meisten Unterstützung benötigen. Und was sehen wir? Statt Fürsorge und Respekt erleben Familien oft das Gegenteil: ein endloses Ringen um das, was eigentlich selbstverständlich sein sollte.
Es braucht klare finanzielle Unterstützung durch den Staat.
Es ist an der Zeit, dass hier ein Umdenken stattfindet. Teilhabe darf nicht davon abhängen, wie viel die Familie an finanziellen Mitteln hat. Die nötige Unterstützung muss vom Staat kommen, ohne dass jedes Mal aufs Neue gefeilscht wird, als ginge es um einen unangemessenen Wunsch oder gar eine Last. Diese Menschen, diese Familien, brauchen Unterstützung – nicht als Almosen, sondern als selbstverständlichen Teil einer inklusiven Gesellschaft.
Das Paradoxe daran ist ja, dass es viele gute Gesetze gibt, die die Grundlage für diese Unterstützung geben, aber dass die Umsetzung verweigert wird. Eine Chance haben häufig nur die, die Kraft, Nerven, Geld und weitere Ressourcen aufbringen können, um ihr Recht einzuklagen.
Es geht um mehr als „Erfolgsbeispiele“.
Ein weiteres Problem: Viel zu oft sehen wir Berichte über Menschen, bei denen Inklusion scheinbar mühelos gelingt. Man präsentiert uns „Erfolgsgeschichten“, Menschen, die mit etwas Unterstützung gut durch den Alltag kommen, die als sogenannte Vorzeige-Beispiele dienen sollen. Aber diese Erfolgsgeschichten, so inspirierend sie auch sein mögen, sind nicht die Realität für alle.
Es kann nicht darum gehen, nur die Menschen mit Autismus oder Behinderungen zu zeigen, bei denen Inklusion mit einem gewissen Aufwand klappt. Die Realität ist, dass das ermöglichen von Teilhabe bei manchen Menschen aufwändiger ist – und gerade diese Menschen dürfen wir nicht vergessen. Hier wird es besonders anspruchsvoll, hier müssen die Systeme greifen, hier müssen die Strukturen flexibel sein. Aber genau da bricht es immer mehr weg.
Teilhabe muss auch dann ermöglicht werden, wenn es komplizierter und kostenintensiver ist. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, „einfachere Fälle“ zu fördern, weil sie weniger Aufwand bedeuten. Die wahren Werte einer inklusiven Gesellschaft zeigen sich darin, wie wir mit denjenigen umgehen, deren Inklusion mehr Ressourcen, mehr Zeit, mehr Engagement erfordert. Gerade sie brauchen unsere Unterstützung.
Eine bessere Lobby für die Menschen, die die Unterstützung leisten.
Es geht nicht nur um die Familien, die kämpfen, sondern auch um die Menschen, die Tag für Tag in diesen Berufen arbeiten – in Kitas, Schulen, Wohneinrichtungen und sozialen Diensten. Wir brauchen eine viel stärkere, wertschätzende Lobby für die Mitarbeitenden in diesen Bereichen. Denn es geht nicht ohne sie, ohne ihre Zeit, ihre Empathie, ihr Wissen und ihre Bereitschaft, sich auf jede individuelle Person einzulassen.
Wenn die Bedingungen so sind, dass viele lieber aussteigen, weil sie überlastet und unterbezahlt sind und zu wenig Wertschätzung für ihre Arbeit erhalten, wie soll dann wirkliche Inklusion gelingen? Die Menschen, die in diesen Berufen arbeiten, brauchen bessere Arbeitsbedingungen, gerechte Löhne und vor allem Wertschätzung – gesellschaftlich und politisch. Sie müssen spüren, dass ihre Arbeit wichtig ist, dass sie gebraucht werden und dass ihre Expertise zählt. Denn ohne motivierte, qualifizierte Fachkräfte bleibt der Ruf nach Inklusion ein leeres Versprechen.
Für diejenigen sprechen, die keine eigene Stimme haben.
Hier geht es mir vor allem um eine Gruppe von Menschen, die oft nicht in der Lage ist, sich selbst Gehör zu verschaffen. Autistinnen und Autisten mit hohem Unterstützungsbedarf können keine Traktoren für große Demos mobilisieren, keine Petitionen im Netz starten oder ihre Themen auf Social Media platzieren. Ihre Anliegen bleiben oft ungehört, ihr Schweigen unbemerkt.
Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir dieses unfreiwillige Stillsein nicht ignorieren, sondern bewusst darauf reagieren.
Was muss sich ändern?
Es braucht mehr als gute Absichten und theoretische Konzepte. Wir brauchen konkrete Maßnahmen:
- Mehr geschultes Personal: Fachkräfte, die nicht nur da sind, sondern auch wirklich wissen, was sie tun. Die Bedürfnisse von Autistinnen und Autisten mit hohem Unterstützungsbedarf sind komplex, und es braucht Menschen, die wissen, wie sie darauf eingehen können.
- Individuelle Unterstützungsangebote: Pauschallösungen (Kita, Schule, Wohnen, Arbeit, Beschäftigung,…) helfen niemandem weiter. Es geht darum, die individuellen Stärken und Bedürfnisse jeder Person zu erkennen und gezielt darauf einzugehen.
- Ressourcen und Flexibilität: Einrichtungen müssen die nötigen Mittel und die Flexibilität haben, um sich den tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen. Starre Strukturen und „Einheitslösungen“ bringen uns nicht weiter. Wir brauchen das Fördern kleinerer Einheiten.
- Finanzielle Absicherung für Teilhabe durch den Staat: Der Staat muss für ausreichende finanzielle Ausstattung sorgen, damit Teilhabe nicht daran scheitert, ob jemand die Assistenz in besonderen Wohnformen oder über das Persönliche Budget finanzieren kann. Es darf nicht sein, dass Personen aufgrund fehlender finanzieller Mittel von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden.
- Mehr Anerkennung und Unterstützung für Fachkräfte: Wir brauchen eine starke Lobby für die Mitarbeitenden in sozialen Berufen. Sie müssen unter besseren Bedingungen arbeiten können, mit fairer Bezahlung und echter Anerkennung ihrer wertvollen Arbeit. Nur so können wir sicherstellen, dass die Unterstützung auch weiterhin gewährleistet ist.
- Umfassende Aufklärung: Alle, die aufkären, sollten auch die Gruppen nicht außen vor lassen, die mehr Unterstützung brauchen, um Teilhabe zu ermöglichen. Gerade das Autismus-Spektrum ist groß und vielfältig.
Lasst uns gemeinsam gegen Exklusion vorgehen!
Teilhabe stellt sich nicht von alleine ein, wenn wir nur genug darüber sprechen. Sie erfordert tägliche Arbeit, Mut, Engagement und den Willen, Dinge anders zu machen. Vor allem aber braucht es Menschen, die sich trauen, nicht wegzuschauen und sich für jene einzusetzen, die in unserer Gesellschaft viel zu oft übersehen werden.
Inklusion ist kein Zustand, sondern ein Prozess – ein Prozess, der uns alle einbezieht. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Teilhabe für alle, dann dürfen diejenigen mit hohem Unterstützungsbedarf nicht außen vor gelassen werden. Ihre Teilhabe darf kein Luxus sein – sie ist ihr Recht und zwar nicht nur für diejenigen, bei denen es kostengünstig ist.
Und vor allem: für die Menschen, die jeden Tag für dieses Ziel arbeiten, müssen wir die Rahmenbedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, ihre wichtige Arbeit gerne und mit voller Kraft zu tun. Ihnen bin ich auch persönlich zutiefst dankbar.
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Du sprichst mir mit deinem Beitrag mal wieder aus der Seele liebe Silke, danke dafür ❤️
Liebe Grüße, Tamara
Sehr gerne, liebe Tamara ♥