Sarah ist Mutter einer autistischen Tochter. Ihr Gastbeitrag über „Das A-Wort“

veröffentlicht im Oktober 2019


Gastbeitrag von Sarah: „Das A-Wort“

Es gibt Worte, die gehen einem schwer über die Lippen. Dinge, die möchte/darf /soll man nicht aussprechen. Vielleicht denkst du jetzt an ein bestimmtes Schimpfwort, das mit „A“ beginnt. Vielleicht (das läge ja nur nahe beim Thema dieses Blogs) denkst du auch an Autismus. Mein persönliches, schwer auszusprechendes Wort mit „A“ war für lange Zeit jedoch „Akzeptanz“.

Es gibt Menschen, die haben die großartige Fähigkeit, Dinge so anzunehmen wie sie sind. Für diese Menschen ist auch nicht alles Sonnenschein, aber sie schaffen es, im Hier und Jetzt zu bleiben und können damit ihre Herausforderungen gut annehmen.

Andere Menschen, und dazu zähle ich, tun sich damit schwer. Bevor ich eine Ungerechtigkeit akzeptiere, muss ich erst mal alle Lösungswege und Möglichkeiten ausloten. Mit voller Energie werfe ich mich auf ein Problem, versuche es mit allen Mitteln und Möglichkeiten zu lösen. Ich empfand diese Eigenschaft immer als hilfreich, denn sie versprach mir Kontrolle über viele Bereiche meines Lebens.

Bild von Sarah am Strand
©Bild von Sarah

Ich bewundere Eltern autistischer Kinder, die auf Anhieb sagen können „Ich liebe mein Kind über alles und alles ist ok, so wie es ist.“ Die vielleicht sogar noch hinterher schieben „Wird schon alles werden.“ Wenn man dies aus tiefstem Herzen (und nicht nur als daher gesagte Phrase) aussprechen kann, ist das königlich.

Ich finde es aber auch ok, wenn Eltern sagen: „Ich liebe mein Kind über alles und dachte, unser Leben würde einfacher ablaufen.“ Die sich erst mit ihrer neuen Rolle vertraut machen müssen. Denen erst bewusst werden muss, dass man ein kindliches Verhalten wirklich ätzend finden kann, dies aber nichts an der riesigen Liebe zum eigenen Kind ändert. Die ihre (möglicherweise naiven) Vorstellungen und Erwartungen betrauern müssen, um neue realistische Ideen über ihr Leben entwickeln.

Meine Vorstellung über das Mama-Sein
Das, was mir am schwersten fiel zu akzeptieren, hat eigentlich gar nicht so viel mit Marie zu tun. Vielmehr ging es um mich und meine Idee von Muttersein.
In Maries erstem Lebensjahr, als alles noch so unspektakulär einfach war, waren Tim und ich ziemlich stolz darauf, wie wir uns als Eltern verhielten. Wir verzichteten auf Erziehungsratgeber und Blogs, überhörten manch einen mehr oder weniger gut gemeinten Rat und glaubten fest an unsere elterliche Intuition. Frei nach dem Motto „Aus der Hüfte mitten ins Herz“ machten wir all das, was uns richtig erschien. Und der Erfolg gab uns recht: Marie war fröhlich, entspannt, jeder schloss sie sofort ins Herz. Sie machte es uns auch einfach: Solange wir in ihrer Nähe waren, war sie glücklich. Sie interessierte sich für all das, was in ihrer nächsten Umgebung war und konnte sich damit ausgiebig, achtsam und durch und durch zufrieden beschäftigten. Schenkte ihr dann noch jemand Aufmerksamkeit, wurde dies mit freudigem Glucksen und Strahlen belohnt. Elternsein, so schien uns, war zwar durchaus anstrengend, aber insgesamt ziemlich easy.

Und genau diese Unbeschwertheit, die vermisste ich nun am meisten.
Denn als sich in Maries zweitem Lebensjahr die Auffälligkeiten mehrten, bemerkte ich, wie meine Selbstsicherheit und Gelassenheit schwand. Aus „Jedes Kind entwickelt sich in seinem Tempo“ wurde „Ist das noch normal?“ und endete in „Wann schafft sie das denn endlich?!?“. Ich merkte, wie ich Anforderungen an mein Kind stellte, wie ich nachdenklicher wurde und plötzlich doch in Internetforen landete. Ehe ich mich versah, war die Leichtigkeit verschwunden. Sorgen und Ängste schoben sich in unser Leben und ich war nicht mehr die Mutter, die ihr Kind die Welt entdecken ließ, sondern die ihrem Kind versuchte ihre Welt zu erklären. Das ist sicher nicht per se falsch – es entsprach nur einfach nicht meiner Idee von Muttersein.

In meiner Vorstellung sah ich mich eher auf Spielplätzen auf der Bank sitzen – nicht, weil ich nicht mit meinen Kindern spielen wollte, sondern, weil ich ihnen den Raum geben wollte, die Welt selbst zu entdecken. Klar, ich wollte auch mit ihnen Höhlen bauen und darin Abenteuergeschichten vorlesen, ich wollte Schnecken sammeln und Blumen pressen. Aber das alles eher angesteckt von der Neugierde meiner Kinder und nicht als Helikopter-Förder-Mutti, die ihren Kindern versucht die Welt besonders pädagogisch wertvoll zu erläutern

Eine Reise zu sich selbst
Tja. Nun sitze ich hier, zwei Jahre später. Ein Bücherregal voll mit Ratgebern, Biografien, und Fördertipps. Ich gebärde, selbst wenn keiner hinschaut (oder auch gerne mit Erwachsenen, was durchaus zu Irritationen führen kann ?).
Maries Neugierde führt mich nicht in die Puppenküche, aber wir nehmen das, was kommt, und auch mit Kabeln kann man auf unsere Art und Weise gemeinsam spielen. Diese Rolle ist ok für mich. Sie ist anders, als ich mich noch vor zwei Jahren gesehen hätte, aber sie ist für unsere Familie die bessere.

Silke hat ein Buch geschrieben, das da heißt Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst“. Und mir wird jetzt erst klar, wie sehr sie mit diesem Titel Recht hat: Meine Tochter ist wunderbar, so wie sie ist. Das weiß ich und das spüre ich aus tiefstem Herzen.
Akzeptanz bedeutet für mich daher weniger, mein Kind anzunehmen wie es ist – das tue ich schon immer. Stattdessen möchte ich weiter lernen, unser Leben nicht im Vergleich zu der Vorstellung, die ich mal als Mitte Zwanzigjährige vom Muttersein hatte, zu führen, sondern im Hier und Jetzt zu bleiben.

Schaue ich heute auf das vergangene Jahr, bin ich fast ein wenig überrascht über mich. Ich will nicht schreiben, dass ich nun den ersten Platz im Akzeptanz-Denken gewinnen würde, aber doch bin ich an vielen Stellen meines Lebens über mich selbst hinausgewachsen. Ich habe gelernt zu unterscheiden zwischen Aufgaben, bei denen es sich lohnt zu kämpfen und Dingen, die ich annehmen möchte, so wie sie sind. Dieser Prozess ist nicht immer einfach. Durch das Blogschreiben und den Austausch mit anderen Eltern (ein riesiges Hurra auf all die tollen #autismushelden von Instagram & Co), bin ich heute viel klarer und bewusster, was meine Haltung und Gefühle betrifft. Ich bin gespannt, wie unsere (und meine!) Reise weitergeht.

Sarah schreibt in ihrem eigenen Blog noch viel mehr über ihr Muttersein und den Alltag mit ihrer autistischen Tochter. Es lohnt sich, dort mal vorbei zu schauen.
–> A Variation of Normal – ein Blog über Autismus

Zum Weiterlesen:

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