Sichtbar oder unsichtbar? Wie Autismus im Alltag erlebt wird (Newsletter-Umfrage)

veröffentlicht im Juli 2025


In einem meiner letzten Newsletter hatte ich eine einfache, aber tiefgehende Frage gestellt: Ist Autismus für dich eher eine sichtbare oder eine unsichtbare Behinderung? Die Reaktionen darauf waren zahlreich, sehr persönlich – und vor allem: vielschichtig.

Ich danke allen, die sich die Zeit genommen haben, mir zu schreiben. Aus euren Antworten ist ein beeindruckendes Mosaik entstanden. Es zeigt, wie unterschiedlich Autismus erlebt, beschrieben und sichtbar gemacht wird und dass sich einfache Antworten kaum finden lassen.
Im Folgenden lasse ich euch (mit Einverständnis und anonymisiert) zu Wort kommen, mit ausgewählten Zitaten, persönlichen Kommentaren und meinen eigenen Gedanken dazwischen. Dieser Beitrag ist keine vollständige Analyse, sondern ein Gespräch in Schriftform. Und vielleicht auch eine Einladung zum Weiterdenken.

Transparenz: Dieses Bild wurde mit dem KI-Tool DALL·E (OpenAI) erstellt und anschließend nachbearbeitet. Erstellt im Juli 2025

Sichtbar durch Verhalten und doch nicht erkannt

Viele haben geschrieben, dass Autismus für sie durchaus sichtbar ist, vor allem im Verhalten – aber nicht immer als solcher erkannt wird. Das ist ein spannender Gedanke: Sichtbar ja, aber nicht verständlich. Und das verändert alles.

„Mein Sohn ist 13 und hat neben Autismus auch eine körperliche Behinderung. Mit Rolli oder Rollator wird die Behinderung sichtbar. Und trotzdem fühlt es sich an, als hätten wir ein Kostüm an – man sieht es, aber erkennt uns nicht wirklich.“ (M.)

Ich konnte das sehr gut nachempfinden. Auch bei uns hat sich vieles verändert, als wir mit Niklas den großen Rehabuggy dabei hatten. Auf einmal war da Verständnis, wo vorher nur Stirnrunzeln war. Und gleichzeitig bleibt das Gefühl, dass wir gesehen werden, aber eben nicht wirklich erkannt.

„Bei meinem Sohn ist der Autismus für Außenstehende unsichtbar, weil er gut maskiert. Sichtbar wird er aber, wenn er erschöpft aus der Schule kommt – dann ist er nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar.“ (H.)

„Ob etwas sichtbar ist, liegt absolut an den Möglichkeiten desjenigen, der betrachtet. Ob man hinsieht oder nicht, ob man hören kann oder will – das entscheidet, ob eine Behinderung sichtbar wird oder nicht.“ (S.)

Diese Aussage hat mich besonders berührt, weil sie auf den Punkt bringt, wie sehr Sichtbarkeit auch mit Bereitschaft zum Hinsehen zu tun hat – mit Perspektive, Offenheit und Wissen.

„Autismus ist nicht unsichtbar. Autismus ist eine andere Art zu sein. Und das kann man sehen – wenn man sich dem öffnet.“ (Bi.)

Aber genau das ist die Herausforderung: Nicht alle können – oder wollen – sich dem öffnen. Und dann bleibt das, was eigentlich sichtbar ist, doch unsichtbar. Oder wird fehlinterpretiert.

„Ich kann ziemlich zielsicher neurodivergente Menschen erkennen – nicht wegen Stereotypen, sondern weil man in bestimmten sozialen Schwierigkeiten oft ähnliche Muster wiederfindet.“ (Bi.)

„Ich sehe Autismus ganz und gar nicht als unsichtbare Behinderung. Denn es kommen ja meistens noch viele Begleitsymptome dazu. Sensorische Überforderungen, Meltdowns, das Bedürfnis nach Struktur – das alles ist sichtbar für ein wachsames Auge.“ (Se.)

Diese Beobachtungen bestätigen, was auch ich oft erlebe: Wer mit bestimmten Ausprägungen vertraut ist, erkennt sie schneller – aber das macht sie nicht automatisch für alle sichtbar. Und gleichzeitig ist es ein schmaler Grat zwischen einfühlsamem Verstehen und vorschnellem Schubladendenken.

Inzwischen wird auch zunehmend anerkannt, dass Autismus nicht mehr ausschließlich als unsichtbare Behinderung gilt. Immer mehr Fachkreise und Betroffenenberichte bestätigen, dass es sehr wohl sichtbare Verhaltensweisen gibt – etwa bestimmte Bewegungsmuster, intensive Reaktionen auf Reize oder das Bedürfnis nach Rückzug. Das alles ist Ausdruck autistischer Wahrnehmung, auch wenn die Ursache im Inneren liegt und oft nicht als solche erkannt wird. Genau das erschwert es vielen, Verhalten einzuordnen und anzunehmen. Sichtbarkeit allein reicht also nicht. Was wir brauchen, ist Verstehbarkeit.

„Unser Sohn konnte sich früher gut anpassen – da galt der Autismus als unsichtbar. Je älter er wird, desto sichtbarer wird er. Man sieht es seinem Verhalten an – und manchmal sogar seinem Gesicht.“ (M.)

Entlastung durch Sichtbarkeit – aber auch neue Zuschreibungen

Viele Eltern erleben, dass die Sichtbarkeit des Autismus ihres Kindes im Alltag hilft weil damit auch das ständige Rechtfertigen abnimmt.

„Früher mussten wir immer erklären, warum unsere Tochter sich so verhält. Seit ihre Behinderung sichtbarer ist, ist es einfacher. Die Leute reagieren wohlwollender, wenn sie sieht, dass sie ‚anders‘ ist. Ich kann das gut verstehen – auch wenn es manchmal traurig stimmt.“ (S.)

„Es war fast eine Erleichterung, als durch eine Nasensonde aus der nicht unbedingt sichtbaren Behinderung eine für jeden sichtbare wurde. Die ewigen Blicke und Ratschläge hörten auf.“ (A.)

Ich finde das bemerkenswert – einerseits diese große Erleichterung, nicht mehr ständig kämpfen zu müssen, andererseits bleibt das mulmige Gefühl, dass Akzeptanz oft an Äußerlichkeiten hängt. Was, wenn diese Äußerlichkeiten fehlen – ist dann auch das Verständnis weg?
Auch wir haben das erlebt. Mit Niklas im Rolli kam seltener die Frage, ob „der mal wieder nicht will“ – der Kontext war plötzlich ein anderer.

„Der Alltag wird leichter, wenn Menschen sehen, dass mein Kind Unterstützung braucht. Ohne sichtbare Hinweise müssen wir ständig erklären, verteidigen, rechtfertigen.“ (Su.)

Aber Sichtbarkeit bringt nicht nur Erleichterung. Sie bringt auch neue Etiketten mit sich. Und nicht jede Zuwendung ist willkommen. Manchmal wird man bewundert, manchmal bemitleidet, aber selten einfach angenommen.

„Man wird beäugt und gleichzeitig nicht wirklich erkannt. Es fühlt sich an wie ein Maskottchenkostüm, das auffällig ist, aber nicht durchlässig. Man sieht uns – aber eben nicht wirklich uns.“ (M.)

Dieses Bild vom Maskottchenkostüm hat mich sehr beschäftigt. Weil es so treffend beschreibt, wie sehr Sichtbarkeit von außen oft nur eine Hülle ist und keine echte Verbindung entstehen lässt.

Masking, Anpassung und das, was bleibt

Gerade bei Autistinnen und Autisten, die stark angepasst wirken, ist die Unsichtbarkeit eine eigene Herausforderung – besonders dann, wenn sie mühsam erlernt wurde.

„Sie hat Strategien entwickelt, wie es nicht auffällt, dass sie keinen Blickkontakt hält. Sie fordert dich zum Spazierengehen auf – dann muss sie keinen halten. Aber der Preis dafür ist hoch.“ (B.)

„Unser Sohn war lange nicht als Autist erkennbar – bis er nicht mehr konnte. Dann kam das Burnout. Plötzlich war alles sichtbar, aber nicht mehr kontrollierbar.“ (L.)

Auch das erlebe ich oft bei anderen Familien: Der Schein der Anpassung wird lange aufrechterhalten bis es nicht mehr geht. Und dann kommen Erschöpfung, Rückzug, vielleicht auch Zusammenbruch. Sichtbar wird dann nur der Kollaps, nicht der jahrelange Kraftakt davor.

„Sie schaut einen an, wenn man mit ihr spricht – aber nur, weil sie das jahrelang geübt hat. Heute ist das nicht mehr so anstrengend wie früher, aber es ist immer noch nicht selbstverständlich.“ (B.)

„Ich denke, dass Autismus beides sein kann – sichtbar und unsichtbar. Man erkennt es manchmal am Verhalten, etwa durch Rückzugsbedarf oder Stimming. Aber es gibt eben auch viele Kinder, bei denen es auf den ersten Blick nicht auffällt.“ (R.)

„Bei unserem Sohn hat sich das über die Jahre verändert. Anfangs war es unsichtbar, heute fällt es durch sein Verhalten und seine Körpersprache mehr auf.“ (Mi.)

Gesellschaftlicher Umgang – wer darf sichtbar sein?

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der gesellschaftliche Umgang mit Autismus. Wer gilt als behindert? Wem wird Hilfe zugestanden und wem nicht?

„Ich finde, dass der Begriff ‚Neurodiversität‘ und auch der neue ICD-11-Begriff ‚Autismus-Spektrum-Störung‘ meinen Sohn eher noch unsichtbarer machen. Ich sage bewusst, dass er eine schwere Form von Autismus hat – sonst kommt gleich die Frage nach der Spezialbegabung.“ (Su.)

Diese Beobachtung teile ich. Auch ich formuliere oft bewusst differenziert, weil ich weiß: Viele haben nur eine begrenzte Vorstellung von Autismus im Kopf – meist eine, die mit hoher Intelligenz und verbaler Ausdrucksfähigkeit verbunden ist. Alles, was davon abweicht, fällt durch.

„Es ist ein Skandal, wie schwer es inzwischen ist, Leistungen zu bekommen. Der Pflegeaufwand ist gleich geblieben – aber das Gesetz stuft unsere Kinder abstrakt als weniger beeinträchtigt ein. Unsichtbarkeit hat System.“ (A.)

„Ich habe selbst zwei autistische Jungs. Bei einem ist es rein unsichtbar, beim anderen sichtbar und unsichtbar zugleich – je nachdem, wie aufmerksam man hinsieht.“ (K.)

„Bei meiner Tochter ist der Autismus auf den ersten Blick unsichtbar. Ihr Verhalten wird oft nicht verstanden. Erst bei genauerem Hinsehen merkt man, dass da etwas anders ist – doch das passiert selten.“ (M.)

„Mein Sohn kann sich nicht verbal äußern. Seine Bewegungen, sein Gang, seine Körpersprache – all das zeigt deutlich, dass er anders wahrnimmt. Aber ernst genommen wird das oft nicht. Er wird reduziert auf das, was fehlt.“ (I.)

Diese strukturelle Unsichtbarkeit ist besonders schwer zu fassen – und noch schwerer zu verändern. Aber genau da beginnt gesellschaftliche Verantwortung: bei der Bereitschaft, auch das Nicht-Offensichtliche ernst zu nehmen.

Vielleicht ist genau das ein erster gemeinsamer Nenner: Dass Sichtbarkeit nicht bedeutet, automatisch verstanden zu werden – und dass Unsichtbarkeit nicht bedeutet, dass nichts da ist. Ich wünsche mir mehr Neugier auf das, was nicht sofort ins Auge fällt. Und mehr Anerkennung für das, was sichtbar ist – selbst wenn es unbequem wirkt.

Was nehmen wir mit?

Ich glaube, dieser Beitrag zeigt: Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage nach der Sichtbarkeit von Autismus.
Autismus ist oft sichtbar – aber wird nicht erkannt. Er ist manchmal unsichtbar – aber keineswegs bedeutungslos. Und er ist immer komplex. Genau deshalb braucht es Räume, in denen wir all diese Perspektiven nebeneinander stehen lassen können.

„Behinderung – egal welcher Art – sollte in unserer Gesellschaft sichtbar sein, wahrgenommen werden und ernst genommen werden. Das ist es, was uns wirklich weiterbringen würde.“ (L.)

Ich danke allen, die sich beteiligt haben. Bitte habt Verständnis, dass ich nicht alle Zuschriften berücksichtigen konnte, aber die vielen Wortmeldungen haben gezeigt, wie sehr auch euch das Thema am Herzen liegt.
Danke daher für die offenen Worte, das Vertrauen, die Vielfalt an Gedanken. Ihr habt diesen Beitrag möglich gemacht.

Wenn du magst, teile ihn gerne – vielleicht regt er auch anderswo zum Nachdenken an. Oder zum Zuhören.


Zum Weiterlesen:

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