Selbstbestimmung ist ein zentrales Thema, das für alle Menschen von großer Bedeutung ist. Selbstbestimmung bedeutet, die Freiheit und das Recht zu haben, Entscheidungen über das eigene Leben zu treffen und die Richtung zu wählen, in die man gehen möchte. Für Autistinnen und Autisten ist dies nicht nur eine Frage der persönlichen Freiheit, sondern auch ein entscheidender Faktor für das Wohlbefinden und die Lebensqualität.
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Warum Selbstbestimmung so wichtig ist
Oft erleben Autistinnen und Autisten, dass Entscheidungen über ihren Alltag und ihr Leben ohne ihre Beteiligung getroffen werden. Das ist frustrierend, macht hilflos und schwächt das Selbstvertrauen. Selbstbestimmung hingegen stärkt das Selbstbewusstsein, fördert die Unabhängigkeit und ermöglicht es, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse klarer auszudrücken. Sie ist der Schlüssel dazu, sich als wertvoller und kompetenter Teil der Gesellschaft zu fühlen.
Vor allem auch für Autistinnen und Autisten mit hohem Unterstützungsbedarf ist es enorm wichtig, sie nicht wegen eingeschränkter Selbständigkeit ihrer Selbstbestimmung zu berauben. Es ist oft aufwändiger, den Prozess mit Instrumenten für Selbstbestimmung zu gehen, aber unerlässlich, um die Lebensqualität und Zufriedenheit aller Beteiligten zu fördern.
In einer Welt, die für Autistinnen und Autisten oft als überwältigend und unberechenbar empfunden wird, kann die Möglichkeit, selbst Entscheidungen zu treffen, erheblich dazu beitragen, Ängste zu reduzieren und Sicherheit zu gewinnen. Selbstbestimmung gibt Kontrolle über das eigene Leben zurück – ein Leben, das durch kleine, alltägliche Entscheidungen genauso geprägt wird wie durch größere Weichenstellungen.
In diesem Beitrag möchte ich dir einige praxisnahe Tipps an die Hand geben, wie du die Selbstbestimmung deines Kindes oder Angehörigen im Alltag gezielt fördern kannst.
Kommunikation unterstützen
Selbstbestimmung hängt eng mit der Fähigkeit zusammen, Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken.
Denn nur wer sich verständlich machen kann, hat die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen und diese auch mitzuteilen. Für Autistinnen und Autisten kann Kommunikation eine besondere Herausforderung darstellen.
Deshalb ist es wichtig, die Kommunikationsmöglichkeiten deines Kindes oder Angehörigen zu erweitern und zu unterstützen – sei es durch Gebärdensprache, Bildkarten oder andere Formen der Unterstützten Kommunikation (UK). Diese Werkzeuge geben die Möglichkeit, klar(er) zu signalisieren, was sie möchten oder brauchen, und ermöglichen es dir, entsprechend darauf zu reagieren.
Auch sprechende Autistinnen und Autisten können von alternativen Kommunikationsmethoden profitieren. In stressigen oder überwältigenden Situationen kann es vorkommen, dass sie Schwierigkeiten haben, Sprache zu nutzen oder ihre Gedanken verbal auszudrücken. Hier können alternative Kommunikationswege, wie Gebärden, Bildkarten oder technische Hilfsmittel ebenfalls eine große Hilfe sein. Diese Methoden bieten einen (Aus-)Weg, um sich mitzuteilen, wenn Sprache vorübergehend nicht verfügbar ist.
Zusätzlich ist es sinnvoll, die Kommunikationsfähigkeiten spielerisch und stressfrei im Alltag zu fördern. Gemeinsame Spiele, bei denen es darum geht, Wünsche zu äußern und zu verstehen, sind eine unterhaltsame Möglichkeit, Kommunikation zu üben. Beispielsweise könnt ihr zusammen Bilder betrachten und darüber sprechen, was auf den Bildern zu sehen ist und welche Bedeutung sie haben. Auch Rollenspiele, in denen bestimmte Alltagssituationen nachgestellt werden, können helfen, die Kommunikationsfähigkeiten zu erweitern. Falls dein Kind oder Angehöriger Gebärdensprache nutzt, kann der tägliche Gebrauch im Alltag oder das gemeinsame Erlernen neuer Gebärden die Kommunikation verbessern und flüssiger gestalten.
Das alles trägt wesentlich dazu bei, Selbstbestimmung im Alltag zu unterstützen und zu erweitern.
Vertiefende Beiträge auf Ellas Blog:
Tipps für das Fördern von Gebärdensprache im Alltag
Jemand, der nicht spricht, kann trotzdem richtig kommunizieren
Strukturen schaffen
Viele Autistinnen und Autisten fühlen sich in einem strukturierten Umfeld wohler, da klare Tagesabläufe und Routinen Sicherheit und Orientierung geben. Ein fester Rahmen, der verlässlich ist, kann dazu beitragen, Stress und Unsicherheit zu reduzieren, indem er Vorhersehbarkeit schafft. Innerhalb dieser festen Strukturen ist es aber genauso wichtig, Freiräume zu schaffen, in denen selbstbestimmtes Handeln möglich wird. Diese Balance zwischen Struktur und Flexibilität unterstützt nicht nur das Wohlbefinden, sondern fördert auch die Selbstbestimmung.
Hilfreich, um solche Strukturen zu schaffen, ist der TEACCH-Ansatz (Treatment and Education of Autistic and Communication Handicapped Children). Dieses Konzept legt besonderen Wert auf eine klar strukturierte Umgebung, die visuell unterstützt wird. Wesentlich dabei ist die Visualisierung von Abläufen, um den Alltag vorhersehbar und verständlich zu gestalten. Dabei wird zum Beispiel der Tag (oder auch einzelne Tätigkeiten) in klar erkennbare und leicht nachvollziehbare Schritte unterteilt, was Autistinnen und Autisten hilft, sich besser zu orientieren und die Kontrolle über ihre Umwelt zu behalten.
Auch innerhalb fester Strukturen kann es hilfreich sein, Flexibilität zu üben. Das bedeutet, dass du deinem Kind oder Angehörigen die Möglichkeit gibst, kleine Veränderungen vorzunehmen. So könntest du zum Beispiel anbieten, die Reihenfolge von Aktivitäten zu variieren oder darüber entscheiden zu lassen, wann eine Pause eingelegt wird. Diese kleinen Anpassungen können helfen, die Fähigkeit zur Flexibilität zu entwickeln, was wiederum die Selbstbestimmung stärkt.
Um die Tagesstruktur noch greifbarer und verständlicher zu machen, könntest du den Tagesablauf visuell unterstützen. Ein Plan, der mit Bildern oder Symbolen arbeitet, zeigt deinem Kind oder Angehörigen, was als Nächstes kommt. Solche Pläne geben nicht nur Sicherheit, sondern unterstützen auch das Verständnis für den Ablauf des Tages und erleichtern die Entscheidungsfindung. Wenn die Reihenfolge der Aktivitäten klar und sichtbar ist, kann man besser nachvollziehen, wo Freiräume liegen und wann Entscheidungen gefragt sind, was wiederum Selbstbestimmung ermöglicht.
Vertiefender Beitrag auf Ellas Blog:
TEACCH bedeutet das Nutzen von visuellen Hilfsmitteln und Struktur
Entscheidungen ermöglichen
Selbstbestimmung beginnt oft im Kleinen, und gerade alltägliche Entscheidungen können einen großen Unterschied machen. Indem du deinem Kind oder Angehörigen die Möglichkeit gibst, einfache Entscheidungen im Alltag selbst zu treffen – wie die Wahl der Kleidung, welches Spiel gespielt wird oder was zum Frühstück gegessen wird – stärkst du nicht nur die Eigenverantwortung, sondern auch das Selbstbewusstsein.
Viele von euch wissen, dass es dafür manchmal Zeit und Geduld braucht, bis eine Entscheidung getroffen wird. Autistinnen und Autisten benötigen oft mehr Zeit, um Optionen abzuwägen. In solchen Momenten lohnt es sich, geduldig zu warten und innerlich zum Beispiel bis zehn zu zählen, bevor man die Geduld verliert oder die Entscheidung für sie trifft. Diese Geduld gibt ihnen die notwendige Zeit, in Ruhe eine Wahl zu treffen.
Setz dich aber bitte nicht zu sehr unter Druck, was die Wahlmöglichkeiten betrifft. Manchmal muss es im Alltag schnell gehen und die Zeit ist nicht vorhanden, um zu warten. Dann ist es völlig ok, wenn die Wahlmöglichkeiten auf später verschoben werden. Wenn zu viele Optionen überfordernd sind, kann es hilfreich sein, die Auswahl auf zwei oder drei Möglichkeiten zu begrenzen. Das macht den Entscheidungsprozess einfacher und weniger stressig.
Auch hierbei können Visualisierungen helfen, besonders wenn verbale Kommunikation schwierig ist. Bilder, Fotos, Objekte oder Symbole können die möglichen Entscheidungen veranschaulichen und greifbarer machen. Bei wichtigen Entscheidungen ist es ratsam, sich nochmals zu vergewissern, dass die getroffene Wahl wirklich dem entspricht, was dein Kind oder Angehöriger möchte.
Vertiefender Beitrag auf Ellas Blog:
Autismus und Geduld – einfach mal öfter bis zehn zählen
Selbstvertrauen stärken
Lob und positive Verstärkung sind kraftvolle Werkzeuge, um das Selbstvertrauen zu stärken und damit auch die Selbstbestimmung zu fördern.
Wenn eine Entscheidung getroffen oder etwas Neues ausprobiert wurde, ist es wichtig, diese Handlung positiv zu bestärken. Indem du zeigst, dass die getroffenen Entscheidungen respektiert und geschätzt werden, vermittelst du deinem Kind oder Angehörigen das Gefühl, dass seine oder ihre Wünsche und Bedürfnisse zählen. Das ist ein wichtiger Schritt, um das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken und die Bereitschaft zu fördern, eigenständig Entscheidungen zu treffen.
Und bitte feiert Erfolge – und seien sie noch so klein. Jedes Mal, wenn dein Kind eine Entscheidung trifft oder eine neue Herausforderung meistert, sollte dies anerkannt werden. Ein einfaches Lob, ein High-Five oder eine kleine Belohnung können Wunder wirken. Diese positiven Rückmeldungen geben das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben, und motivieren dazu, auch in Zukunft mutig Entscheidungen zu treffen.
Ebenso wichtig ist es, den Umgang mit Fehlern zu lernen. Zeige, dass Fehler nicht das Ende der Welt sind, sondern wertvolle Lernchancen bieten. Es ist wichtig, dass sie verstehen, dass jeder Versuch – auch wenn er nicht sofort erfolgreich ist – eine Gelegenheit ist, zu wachsen und etwas Neues zu lernen. Diese Perspektive nimmt den Druck, immer „richtig“ handeln zu müssen, und ermutigt dazu, weiterhin selbstbestimmt und mutig Entscheidungen zu treffen.
Zugang zu Information und Wissen
Wissen ist Macht – und das gilt besonders, wenn es um Selbstbestimmung geht.
Um eigene Entscheidungen treffen zu können, ist es wichtig, dass dein Kind Zugang zu den Informationen hat, die notwendig sind, um informierte Entscheidungen zu treffen. Nur wer versteht, worum es geht, kann auch wirklich eigenständig wählen, was für ihn oder sie das Beste ist.
Ein entscheidender Schritt dabei ist, sicherzustellen, dass alle notwendigen Informationen in einer Form zugänglich sind, die dein Kind, Angehöriger oder Betreuter auch verstehen kann. Das bedeutet oft, dass komplexe Sachverhalte in einfache und klare Sprache übersetzt werden müssen. Visuelle Hilfsmittel wie Bilder, Symbole oder Diagramme können ebenfalls sehr hilfreich sein, um Informationen greifbarer und leichter verständlich zu machen.
Schließlich ist es wichtig, den Zugang zu Bildung und Weiterbildung zu fördern. Lernen ist zentraler Bestandteile von Selbstbestimmung und auch das Recht unserer Kinder.
Leider gibt es häufig Probleme bei der Beschulung autistischer Kinder, da die Bildungsangebote oft nicht ausreichend auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind.
Um Eltern und auch Lehrkräfte und Mitarbeitende in diesem Bereich zu unterstützen, habe ich einige hilfreiche Ressourcen geschaffen, die speziell darauf abzielen, die Beschulung autistischer Kinder zu verbessern.
Vertiefender Beitrag auf Ellas Blog:
Aus der Praxis: Probleme und Lösungsansätze für die Beschulung autistischer Kinder
Onlinekurs: Autismus und Schule
Unterstützung individuell anpassen
Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf benötigen oft Hilfe bei der Umsetzung ihrer Entscheidungen. Dabei ist es entscheidend, diese Unterstützung so zu gestalten, dass sie die Selbstbestimmung fördert, anstatt sie zu unterdrücken.
Das bedeutet, dass du deinem Sohn oder deiner Tochter, deinem Familienmitglied oder Betreuten die Unterstützung anbietest, die tatsächlich nötig ist, aber gleichzeitig so viel Eigenständigkeit wie möglich lässt. Indem du darauf achtest, dass die Person weiterhin das Gefühl hat, die Kontrolle über die eigenen Entscheidungen zu behalten, trägst du dazu bei, das Selbstvertrauen und die Selbstbestimmung zu stärken.
Es ist sinnvoll, immer wieder zu prüfen, ob die Entwicklung den Eindruck vermittelt, dass weniger Unterstützung möglich ist. Eine schrittweise Reduzierung von Hilfestellung kann das Selbstbewusstsein erheblich stärken, da sie zeigt, dass du zutraust, die Aufgabe alleine zu meistern.
Allerdings ist es auch vollkommen in Ordnung, die Unterstützung beizubehalten, wenn es notwendig ist. Nicht immer muss die Unterstützung ausblendet werden. Manchmal ist es besser, die Hilfestellung weiterhin zu geben, um Sicherheit und Vertrauen zu gewährleisten. Unterstützung zu belassen, bedeutet nicht, dass die Selbstbestimmung eingeschränkt wird – vielmehr kann sie eine wichtige Grundlage dafür sein, dass sich dein Kind, dein Angehöriger oder dein Betreuter sicher und wohl fühlt, um eigenständige Entscheidungen treffen zu können. Lass dich in dieser Hinsicht nicht von außen unter Druck setzen.
mehr Selbstbestimmung durch Assistenz
Assistenz kann ein entscheidender Schlüssel zur Förderung der Selbstbestimmung sein, wenn sie gezielt dort eingesetzt wird, wo Unterstützung wirklich gebraucht wird, ohne dabei die Eigenständigkeit zu beeinträchtigen.
Eine gut abgestimmte Assistenz kann Autistinnen und Autisten dabei helfen, eigene Entscheidungen zu treffen und diese auch in die Tat umzusetzen. Wichtig ist dabei, dass die Assistenz nicht als Ersatz für Selbstbestimmung dient, sondern genau dort hilft, wo es notwendig ist.
Es ist wichtig, dass die Unterstützung genau dort ansetzt, wo sie gebraucht wird – sei es bei alltäglichen Aufgaben wie der Körperpflege, beim Essen, bei Freizeitaktivitäten, Strukturierung des Tages, bei der Gestaltung sozialer Kontakte oder bei der Kommunikation. Eine gut abgestimmte Assistenz sollte Fähigkeiten und Bedürfnisse berücksichtigen und darauf abgestimmt werden.
Das Ziel ist es, Unterstützung zu bieten, ohne unnötig in Bereiche einzugreifen, in denen bereits Selbstständigkeit besteht.
Wenn dein Kind oder Angehöriger sich mit der Assistenzperson wohlfühlt und Vertrauen aufgebaut werden kann, wird dies die Zusammenarbeit erleichtern und die Selbstbestimmung stärken. Deshalb ist es auch sehr wichtig, Assistentinnen und Assistenten gemeinsam auszuwählen.
Zudem sollte die Rolle der Assistenz klar definiert sein: Assistenz bedeutet Unterstützung, nicht Führung. Es ist wichtig, der Assistenzperson zu erklären, dass ihr Ziel darin besteht, die Selbstbestimmung zu fördern, anstatt Entscheidungen für dein Kind oder deinen Angehörigen zu treffen. Eine Möglichkeit, Assistenz in euer Leben zu holen, bietet das Persönliche Budget.
Vertiefender Beitrag auf Ellas Blog:
Das Bundesteilhabegesetz und das Persönliche Budget – Dein Weg zu mehr Unterstützung und Selbstbestimmung
Selbstbestimmung Schritt für Schritt – bleib dran
Selbstbestimmung zu fördern ist ein Weg, der Geduld, Einfühlungsvermögen und Verständnis erfordert – aber er ist es absolut wert. Es ist nicht immer einfach, die richtige Balance zwischen Unterstützung und Eigenverantwortung zu finden. Manchmal braucht es dafür viel Fingerspitzengefühl. Doch jeder kleine Schritt, den dein Kind oder Angehöriger in Richtung mehr Selbstbestimmung macht, ist ein riesiger Erfolg.
Diese kleinen Erfolge – sei es die Entscheidung, welches Frühstück gegessen wird, oder der Mut, etwas Neues auszuprobieren – sind unglaublich wertvoll. Sie tragen dazu bei, dass mehr Sicherheit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewonnen werden. Mit jedem dieser Schritte wächst die Lebensqualität.
Ich weiß, dass dieser Prozess nicht immer einfach ist. Es wird Tage geben, an denen es schwieriger scheint, und Momente, in denen man sich fragt, ob es wirklich Fortschritte gibt. Aber genau in diesen Momenten ist es wichtig, dran zu bleiben. Du bist mit diesen Erfahrungen und damit verbundenen Gefühlen nicht alleine.
Erinnere dich daran, dass du mit deinem Engagement und deiner Unterstützung einen entscheidenden Unterschied machst. Bleib dran – nicht nur für dein Kind sondern auch für dich selbst. Die Reise mag manchmal herausfordernd sein, aber die positiven Veränderungen, die du bewirkst, sind von unschätzbarem Wert. Du leistest großartige Arbeit, und die Fortschritte, die ihr gemeinsam macht, sind der beste Beweis dafür.
Für mehr Selbstbestimmung mit Assistenz: