Immer wieder passiert es: der Begriff „Autismus“ wird aus seinem eigentlichen Kontext herausgelöst und als negativ besetztes Synonym oder Attribut in der Presse verwendet.
Das ist unangebracht, unangemessen, irreführend und in höchstem Grade anmaßend und diskriminierend gegenüber AutistInnen!
Wir sind es ja fast schon gewöhnt nach all den Schlagzeilen, die Amokläufer in den meisten Fällen mal gleich unter den Generalverdacht stellen, Autisten zu sein – nach Meldungen, ein Politiker wie Putin sei autistisch, da egozentrisch – und kürzlich war für eine Politikerin gleich die ganze EU ein einziger Autismus. Eine EU-Kommission wird als „fast schon autistisch“ bezeichnet, da sie angeblich „macht, was sie will“ und in einem besonders geschmacklosen Beispiel wird Adolf Hitler als „sozialer Autist“ bezeichnet. (!!)
Da wird mit „autistischer Selbstzuwendung“, „Kontrollzwang“, „nicht nachvollziehbaren Entscheidungen“ und der Unfähigkeit, die Gefühle anderer zu erkennen, geschweige denn diese beherzigen zu können, argumentiert, um das Label „Autismus“ zu rechtfertigen.
Besonders grotesk war die Passage in der Online-Presse: „der Harlem Shake [sei] keine haltlose Autistenparty, sondern eine kollektive Antwort auf den sexuellen Autismus“.
Wie bitte? Was soll das denn sein?
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Liebe Journalisten, was soll das? Warum wird in den Berichten nicht direkt das ausgedrückt, was gemeint ist?
Nämlich, dass die Entscheidungen mancher Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, nicht nachvollziehbar sind, nicht weitsichtig genug erscheinen und auf eine Argumentationslinie begrenzt sind.
Was hat das mit Autismus zu tun? Nichts!
Nämlich, dass manche Menschen zu Gewalt neigen, Morde verüben und in Schulen unschuldige Menschen erschießen.
Was hat das mit Autismus zu tun? Nichts!
Nämlich, dass manche Menschen egoistisch und egozentrisch agieren und versäumen, sich auch in die Lage anderer Menschen hineinzuversetzen.
Was hat das mit Autismus zu tun? Nichts!
Nämlich, dass ein Mensch wir Adolf Hitler aus einer antisemitischen und rassistischen Haltung heraus zu einem der grausamsten Massenmörder aller Zeiten wurde.
Was hat das mit Autismus zu tun? Überhaupt nichts!
Sie können dem nicht zustimmen?
Dann möchte ich Sie sehr bitten, die mittlerweile vielfältig verfügbaren Aufklärungsmaterialien zum Thema durchzulesen, sich darüber zu informieren, welche Klischees überholt sind und welche Mythen rund um das Thema „Autismus“ existieren (z.B. HIER).
Und dann erwarte (nicht nur) ich, dass es in Zukunft unterbleibt, dass der Begriff „Autismus“ sinnverfremdet und damit diskriminierend verwendet wird.
Das mag schon sein, aber die Aufregung ist übertrieben?
Keineswegs.
Es mag schick sein und soll mancher Berichterstattung offenbar einen besonders intellektuellen Anstrich verleihen, wenn das Wort „autistisch“ eingebaut wird. Aber – liebe Journalisten – Ihr enttarnt damit nur Eure Unwissenheit, was das Thema „Autismus“ angeht, und Ihr diskriminiert und beleidigt die Menschen, die mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum leben.
Außerdem beschädigt Ihr die Arbeit all derjenigen Menschen, die sich täglich beruflich oder ehrenamtlich dafür einsetzen, dass über das Thema Autismus aufgeklärt wird und dass Autisten in die Gesellschaft inkludiert werden.
Nicht zuletzt macht Ihr Autisten und Familien mit autistischen Kindern das Leben noch schwerer, da die ständige negative Besetzung des Begriffs „Autismus“/“autistisch“ zu Mobbing und Ausgrenzung führt und immer wieder Erklärungsbedarf nach sich zieht: Aufklärung, Erklärung, Zurechtrücken und zwar zusätzlich zu den Herausforderungen und Anforderungen, die das Leben mit Autismus ohnehin mit sich bringt.
In diesem Zusammenhang weise ich auf den Pressekodex, und hier insbesondere auf die Unterpunkte „Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde“ (Ziffer 1), „Sorgfalt“ (Ziffer 2) „Diskriminierungen“ (Ziffer 12), hin.
Als Hintergrundwissen für zukünftige Berichterstattungen möchte ich einige Stärken autistischer Wahrnehmung hervorheben.
Ja, die gibt es tatsächlich. Aufgepasst!
Viele Autisten sind zuverlässig und äußerst loyal. Die meisten sind geradlinig, ehrlich und haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Außerdem haben sie im Gegensatz zu uns neurotypischen Menschen (zu denen ich auch gehöre) einen wertvollen Blick auf Details, der uns nicht vergönnt ist. Und last but not least: Autisten pflegen in der Regel keine Doppeldeutigkeiten, sondern drücken sich eindeutig aus.
Diese Empfehlung gebe ich hiermit ausdrücklich an die Vertreter der Presse weiter.
Einige ausgewählte Quellen:
www.zeit.de/2016/32/adolf-hitler-familie-wagner-bayreuth-film/komplettansicht
www.zeit.de/politik/ausland/2016-04/asylrecht-eu-kommission-dublin-system-fluechtlinge
www.bild.de/politik/ausland/wladimir-putin/ist-ein-autist-39657238.bild.html
Vielen herzlichen Dank für diesen tollen Text!
Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich mich schon darüber aufgeregt habe, wie mit dem Begriff Autismus umgegangen wird. So oft ich die Möglichkeit habe, mache ich die Menschen in meinem Umfeld auf ihren Fehler aufmerksam, meistens sind sie anschließend peinlich berührt und entschuldigen sich.
Autisten haben so unendlich viele tolle Eigenschaften, mein Sohn zeigt es mir jeden Tag.
Liebe Grüße, Swantje.
Immer und immer wieder wird scheinbar Autismus für Alles die Schuld gegeben….einfach grausam .
Danke das du Stellung bezogen hast ! Ich schließe mich deinen Worten an!
Liebe Grüße
Von Konik von Autistenfamilie : wir sind wie wir sind
Hallo.ja sehr gut geschrieben,wer sowas verbreitet,wer Amokläufer,den harlem shake,adolf hitler u.ä.mit Autismus in Verbindung bringt….also da fehlen einem wirklich die worte.ich muss auch fast jeden tag den Leuten erklären warum mein sohn eben,,anders“ist
(Meine persönliche Ansicht zu dieser Sache.)
„Liebe Journalisten, was soll das? Warum wird in den Berichten nicht direkt das ausgedrückt, was gemeint ist?“
Weil man ihnen dann anscheinend wohl von andrer Seite sofort, ebenfalls „den Autismus“ „um die Ohren hauen“ würde (RW)…doch davon möchte man sich ja schließlich distanzieren…daher werden sie sich hüten in ihren Berichten direkt auszudrücken, was sie meinen.
„Auffällige Eigenschaften von Etwas“ möchten Journalisten (und nicht nur diese) anscheinend immer wieder all zu gern in einer Art „hübsch verpacktem Paket“ zum Ausdruck bringen…zumal sie ja in erster Linie negative Eigenschaften benennen möchten.
Da man jedoch besonders GEBILDET herüberkommen und nicht unhöflich sein möchte (denn es gehört sich ja schließlich nicht Anderen direkt ins Gesicht zu sagen was man über sie denkt oder was man von ihnen hält) meinen sie anscheinend wohl mit dem Wort „Autismus“ sich hier in besonders gehobener Sprache gewählt auszudrücken.
Solche Leute merken anscheinend jedoch nicht dass sie letztendlich: Alles andere als gebildet und höflich sind…sie beweisen eigentlich nur dass sie ungebildet und überaus unhöflich sind.
Unhöflich (jetzt mal höflich ausgedrückt) Autisten gegenüber!
Aber dies scheint man dann wohl gerne in Kauf zu nehmen. Einer Minderheit gegenüber darf man sich anscheinend immer und immer wieder unhöflich benehmen, das „gehört wohl schon zum guten Ton“.
Liebe Zarinka, das ist gut auf den Punkt gebracht (rw). Hinzu kommt noch, dass Journalisten (ich meine damit ganz explizit nicht alle – auch das wäre pauschalisierend) ganz einfach Textzeilen sparen können, wenn sie alles, was sie assoziativ hervorrufen wollen (da im Klischee verhaftet und dadurch schnell abrufbar) vermeintlich in ein einziges Wort pressen können. Als Journalist schreibt man dann einfach: …“autistisch“ und kann sich damit etliche Umschreibungen sparen. Auch das mag Grund für die häufige Verwendung dieses „Begriffs“ in solchen Texten sein. Hier ist weniger sicher nicht mehr. Und auf jeden Fall nicht das Richtige!
Ich habe bei all den Beispielen überhaupt nicht verstanden, was es mit Autismus zu tun haben soll. Also ich verstehe bei den genannten Artikeln den Einsatz des Wortes Autismus gar nicht, es entsteht für mich kein Zusammenhang. Erst deine Erklärung, daß es um „nicht nachvollziehbare Entscheidungen“ geht, hat mir klar gemacht, was das soll.
War es nicht sogar auf dieser Seite, wo mal ein Artikel (oder eine Twitternachricht?) von Stefan Niggemeier kritisiert wurde, die auch das Wort Autismus zweckentfremdet hat? Jedenfalls hatte er darauf reagiert, drüber nachgedacht und sich dann entschuldigt, wie man es von einem anständigen Journalisten wohl auch erwarten darf. Fehler macht jeder und wenn die eingestanden werden, dann verzeiht man doch auch gerne.
Schon seltsam, kein Journalist würde „spastisch“ als abwertendes Verb nutzen, denn dann wäre die Karriere wohl beendet, aber „autistisch“ scheint akzeptabel zu sein…
Liebe Silke,
eine Sysiphos-Arbeit wie es scheint. Aber bekanntlich beginnt jede Wanderung mit dem ersten Schritt. Toll, dass Du Dich immer wieder auf den Weg machst. Damit machst Du Mut, sich selbst zu engagieren, bist Vorbild und kannst für Dich selbst, wie ich hoffe, etwas Kraft daraus ziehen, auch im Kleinen etwas zu bewegen!
ich kann mich da nur anschliessen und danken, dass Du das mal angesprochen hast. GEnauso oft wird auch das Wort die sind ja behindert benzuz, wo sich dann auch keienr mehr GEdanken macht, was das heisst. Vielen Dank jedenfalls.