Interview mit Tobias Schüppen, Marte Meo-Supervisor: „Durch das Erkennen und Weiterentwickeln von Stärken kann kontinuierliches Wachstum entstehen.“

veröffentlicht im April 2018


Tobias Schüppen und Kollegin
©Tobias Schüppen und seine Kollegin Birgit Seeger

Lieber Tobias, Du bist Marte Meo-Supervisor. Was bedeutet das und wie erwirbt man diese Qualifikation?

Als Marte Meo Supervisor hat man erst einmal eine relativ lange Ausbildung hinter sich! ;-) Die Zeit der Ausbildung verging jedoch wie im Schlaf, da es für mich persönlich ein absoluter Gewinn war, Marte Meo kennengelernt und erlernt zu haben.
Meine Grundhaltung in der pädagogischen Arbeit hat sich dadurch definitiv noch einmal geschärft.

Marte Meo bedeutet sinngemäß „etwas aus eigener Kraft schaffen“. Hieraus wird schon deutlich, auf welcher Idee die Methode basiert, die von der Niederländerin Maria Aarts entwickelt wurde. Eltern oder Fachkräfte sollen sich der eigenen Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Stärken bewusst werden. Mit dem Wissen um die eigene Wirkung auf die ihnen anvertrauten Personen haben sie die Möglichkeit, diese bestmöglichst in deren sozialen und emotionalen Entwicklung zu begleiten oder Prozesse anzustoßen.

In welchen Bereichen wird Marte Meo eingesetzt?

Neben der Begleitung in Familien wird mit Marte Meo professionell in allen psychosozialen Bereichen gearbeitet, in denen es um die Begleitung, Aktivierung und Förderung von Entwicklungs- und Lernprozessen geht.
Allerdings wird Marte Meo in den letzten Jahren auch vermehrt als gezielte Hilfestellung für unterstützende und substitutive Kommunikation genutzt: z.B. im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, Demenz oder auch mit Psychosen.

Marte Meo arbeitet mit Videoaufnahmen und möchte damit die Entwicklung unterstützen. Wie kann man sich das konkret vorstellen? Wie läuft eine Therapiestunde ab?

Die erste Videoaufnahme von ca. 3-5 Minuten erfolgt in einer Alltagssituation (z.B. bei einem Spiel, beim Essen, etc). Darauf folgt eine eingehende Analyse (Interaktionsanalyse) des Therapeuten, in der er feststellt, welche Kommunikationsstrukturen / Potentiale bereits vorhanden sind, welches Potential noch unter der Oberfläche schlummert.

Das nachfolgende Auswertungsgespräch dient dem Klienten und eventuell seinen Angehörigen als Einsicht und Hilfestellung. In der Regel finden daraufhin Videoaufnahme und Auswertungsgespräch im wöchentlichen Wechsel statt. Die Dauer des Prozesses ist variabel und orientiert sich am individuellen Hilfsbedarf.

Bezogen auf die Autismustherapie, verbringt man nie die eigentliche Therapiestunde komplett mit Marte Meo. Marte Meo nimmt einen Teil der Therapiestunde ein.
In der Woche, in der die Videoaufnahme gemacht wird, etwa 10 Minuten und in der Woche, in der das Auswertungsgespräch stattfindet, variiert es sehr stark. Das ist von Klient zu Klient und Auswertung zu Auswertung unterschiedlich und wird an
den individuellen Bedarf angepasst.

Wissen die Kinder, dass sie gefilmt werden?

Egal, ob mit den Kindern selbst oder mit den Eltern / Angehörigen ausgewertet wird, ist es wichtig, dass alle von der Aufnahme wissen und niemand gegen seinen Willen gefilmt wird. Marte Meo funktioniert nur, wenn alle einer Videoaufnahme „zustimmen“ bzw. davon wissen.

Versteht man unter Marte Meo „nur“ die Technik, mit Videoaufnahmen zu arbeiten, oder verbirgt sich dahinter auch eine bestimmte pädagogische Haltung?

Marte Meo lenkt den Blick auf die positiven Seiten und vielfältigen Möglichkeiten des Alltags. Schwierigkeiten und Probleme werden als Gelegenheiten zur Entwicklung verstanden. Mit Marte Meo lassen sich menschliche Entwicklungsprozesse unterstützen und voranbringen. Die Methode gibt hilfreiche und konkrete Informationen an die Hand, die im Alltag leicht verständlich und ebenso leicht umsetzbar sind.

Wenn die Frage konkret darauf abzielt, ob ich meine pädagogische Haltung durch Marte Meo verändert habe, kann ich nur sagen, dass ich auf jeden Fall meinen Blick verändert habe. Egal ob in Hilfeplangesprächen, Elterngesprächen oder mit den Klienten direkt, versuche ich vermehrt den Blick auf das Positive zu lenken.
Es ist klar und auch wichtig, dass auch Dinge, die nicht funktionieren angesprochen werden, denn wenn alles total super läuft, braucht ein Mensch ja in der Regel auch keine Unterstützung. Wichtig ist mir persönlich jedoch, dass in Gesprächen immer wieder deutlich wird, was alles an positiven Entwicklungen schon passiert bzw. vorhanden ist, denn genau da sollte man ansetzen und damit arbeiten. In einer positiven Atmosphäre arbeitet man meist am produktivsten und zielführendsten.

Wie unterscheidet sich Marte Meo von anderen therapeutischen Angeboten?

Bei Marte Meo geht es darum, dass Menschen mit Benachteiligung sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden und ihre Ressourcen nutzen lernen. Durch das Erkennen und
Weiterentwickeln von Stärken kann kontinuierliches Wachstum entstehen. Eine Konzentration auf Probleme hingegen schwächt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und verhindert, sich auf selbstreflektierende Weise entwickeln zu können.
Wenn man z. B. direkt mit einem Klienten/in an einer Fragestellung arbeitet, wie z.B. „Ich würde gerne Freunde finden, ich weiß nicht, wie das geht.“, dann schaut man mit ihnen gemeinsam durch die Videos auch auf ihr Verhalten. Es geht jedoch nicht
darum, die Klienten umzuprogrammieren, sondern viel eher darum, ihnen bewusst zu machen, wie andere „neurotypische“ Menschen denken und fühlen und wie man mit ihnen in Kontakt treten kann.
Durch Marte Meo lernen die Klienten Kommunikation mit anderen Augen zu sehen und die Botschaft zu verstehen, die hinter Aussagen stehen.
Ich finde es wichtig zu erwähnen, dass Marte Meo ein Angebot ist, Kommunikation und Beziehungen zu betrachten und dadurch etwas für seine eigene Kommunikation mitnehmen zu können.

Was sind die Ziele der Therapie? Werden diese gemeinsam mit den Eltern und wenn möglichdem Kind besprochen?

Marte Meo ist eine Therapieform, die sich an einer „konkreten“ Hilfefrage orientiert, die Eltern oder Klienten selbst haben. Dadurch, dass man Auswertungsgespräche der Videoaufnahmen führt, spricht man automatisch über das Ziel (die Hilfefrage) mit Eltern bzw. Klienten.

Welche Möglichkeiten siehst Du für nicht-sprechende Kinder und ihre Eltern, die Kommunikation über Marte Meo zu verbessern?

Eltern / Bezugspersonen nicht-sprechender Kinder können durch die Marte Meo Methode mehr darüber erfahren, wie ihr Kind kommuniziert und auch, wie sie dieses noch weiter in der Kommunikation unterstützen können.
Es kommt vor, dass man z.B. selbst weniger spricht, wenn man mit nicht-sprechenden Menschen zusammen ist. Soll heißen, dass einem durch Marte Meo nicht nur die Verhaltensweisen des Kindes bewusst werden, sondern auch seine eigenen.
Eltern und Bezugspersonen lernen ihre Kinder noch einmal aus einem anderen Blickwinkel kennen und „verstehen“. Aber auch hier ist es wichtig, dass die Eltern in dem Fall mit einer konkreten Hilfefrage kommen. Diese kann man natürlich auch gemeinsam mit ihnen erarbeiten.

Für Autistinnen und Autisten ist es oft unangenehm Blickkontakt aufzunehmen. In manchen Therapien wird dennoch Blickkontakt antrainiert. Welche Haltung hast Du dazu?

Wenn ich selbst mit z.B. Asperger Jugendlichen arbeite, ist der Blickkontakt durchaus auch „Thema“, allerdings wird hier nichts antrainiert, was sie nicht wollen. Vielmehr werte ich mit Ihnen Videos aus und erkläre ihnen anhand des Videos, wie wichtig der Blickkontakt für Neurotypen ist und was dieser ihnen bedeutet: „Wenn ich einen Menschen anschaue und vielleicht auch anlächle bekommt dieser das Gefühl ich bin gerne mit ihm zusammen.“ Ich versuche ihnen also zu zeigen, was durch einen Blickkontakt entstehen kann. Es wird jedoch niemand „gezwungen“ Blickkontakt zu halten, sondern man zeigt die Botschaft, die hinter solch einem Kontakt stehen kann.

Marte Meo ist eine entwicklungsunterstützende Therapiemethode. Man versucht, die
Entwicklungsbotschaft hinter bestimmten Verhaltensweisen zu lesen. Soll heißen, dass durch das Video und die entsprechenden Reviews z.B. die Botschaft, die hinter der Stimulation steckt erarbeitet wird. Ganz konkret kann man hier vor allem auch Angehörige / Erzieher / Lehrer etc. darin unterstützten z.B. die Selbststimulation bzw. den Sinn und Nutzen dahinter zu verstehen.
Es kommt bei Marte Meo in erster Linie auf die „Hilfefrage“ an, die der Beratende hat.
Meine persönliche Meinung dazu ist, dass jeder Mensch sein „Stimming“ haben darf. Ich selbst spanne meine Muskeln zwischendrin ab und an. So kann ich mich, auch wenn ich mal nervös bin, beruhigen. Warum sollte mir das jemand nehmen?! Ich störe doch niemanden damit. :-)

Wo siehst Du die größten Herausforderungen für AutistInnen und deren Familien?

Die größte Herausforderung für Autistinnen und deren Familien ist meiner Meinung nach, jetzt losgelöst von Marte Meo, die „Inklusion“. Wir (hier meine ich mit „wir“ die Gesellschaft) sind auf einem Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Es ist noch viel Arbeit nötig bis hin zur „Akzeptanz“. Wenn wir alle die Fähigkeit weiter ausbauen, jemanden so zu akzeptieren, wie er ist, mit all seinen Besonderheiten, dann ist ein ganz wichtiger Schritt getan.

Was ist Dir sonst noch wichtig zu sagen?

Ich freue mich sehr, dass Du mich gefragt hast, ob ich zu einem Interview über die Arbeit mit Marte Meo bereit bin. Es ist mir immer ein Anliegen, über Marte Meo und die Wirkung von Marte Meo zu berichten, jedoch ist es eine videogestützte Therapieform. Soll heißen, dass man die Methode erst richtig erfassen kann, wenn man dementsprechende Videos dazu sehen kann.
Wenn sich die Zeit bietet, sollte man z.B. mal einen Vortrag oder Fachtag besuchen. Und sollte sich die Chance ergeben, dann vielleicht einen Fachtag, an dem Maria Aarts, die Begründerin der Methode, selbst teilnimmt. Es ist wirklich beeindruckend, diese Frau zu sehen, wenn Sie selbst Marte Meo vorstellt. Als kleinen Vorgeschmack hier ein Link zu einer Radiosendung aus der letzten Woche.

Wir haben 2014 einen Marte Meo Fachtag „Kommunikation mit anderen Augen sehen“ abgehalten im Theater am Marientor in Duisburg. In diesem Jahr erscheint eine DVD von diesem Fachtag mit vielen Informationen und Vorträgen zum Thema Marte Meo und Autismus. Weitere Infos findet man auf meiner Homepage.

Wie kann man am besten Kontakt zu Dir aufnehmen?

Ich persönlich bin in den sozialen Medien reichlich vertreten:
Also man findet mich bei Twitter oder Facebook und über diese Webseite

Herzlichen Dank, lieber Tobias, für das interessante Interview. Alles Gute für Dich und Deine KlientInnen mit ihren Familien.

***

Zum Weiterlesen:

TEACCH bedeutet das Nutzen von visuellen Hilfsmitteln und Struktur. (Interview mit Susanne Wagener-Jarusch)

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