Jobcoach für AutistInnen – Interview mit Ina Blodig

veröffentlicht im Dezember 2016


Ina Blodig ist Diplom-Pädagogin und arbeitet als Jobcoach für sogenannte hochfunktionale Autisten. „Ich bin sozusagen der Dolmetscher zwischen Autisten und Arbeitgeber,“ sagt sie. Empowerment und Selbstvertretung sind ihre Grundsätze. Sie wünscht sich bessere Chancen für Autisten, mehr Anerkennung und dass die Bedarfe ernst genommen werden.

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©Ina Blodig

Dein Angebot als Jobcoach richtet sich an sogenannte hochfunktionale Autisten. Welche konkreten Probleme haben sie auf dem Arbeitsmarkt und wie hilfst Du ihnen?

Viele gut ausgebildete Autisten sind arbeitslos oder haben Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, die sie nicht lösen können, und werden deswegen depressiv oder möchten ihren Job wechseln. Ich helfe, indem ich bei der Jobsuche und im gesamten Bewerbungsverfahren (Bewerbungsunterlagen, Vorstellungsgespräch, Einarbeitung, etc.) unterstütze.
Dabei helfe ich, „Autismus“ individuell zu verstehen und die persönlichen Stärken kennenzulernen und richtig einzusetzen.
Weiterhin bringe ich Informationen und Wissen an Arbeitgeber, die mit Autisten zusammenarbeiten oder beabsichtigen, dies zu tun. Ich bin sozusagen der Dolmetscher zwischen Autisten und Arbeitgeber.

Was qualifiziert Dich für diese Aufgabe? Welche Berufsausbildung hast Du?

Die erste Begegnung mit einem Autisten hatte ich mit 16 Jahren. Im Rahmen eines Schulpraktikums arbeitete ich in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung und lernte einen jungen Mann kennen, der die Diagnose „Frühkindlicher Autismus/Kanner-Syndrom“ bekommen hatte.
Meine Anleiter erklärten mir, er sei taub und stumm und er lebe in seiner eigenen Welt. Bereits in dem kurzen Zeitraum der drei Praktikumswochen interpretierte ich sein Verhalten völlig konträr: Wenn eine Tür aufging, schaute er hin, er reagierte auf verschiedene auditive Reize, gab in bestimmten, insbesondere freudigen Situationen, Geräusche von sich, und kommunizierte auf seine eigene Weise. Seine Augen verfolgten das Tun der anderen Gruppenmitglieder bis er sich wieder den taktilen Reizen, seiner Lieblingsbeschäftigung, hingab. Dabei berührte er bevorzugt mit Nieten besetzte Gürtel und schnippte seine Finger daran.

Meine Vermutung, dass er nicht taub und stumm sei, taten meine Kollegen ab, so dass ich mir mein erstes Buch über Autismus kaufte, um alternative Erklärungen für das Verhalten des jungen Mannes zu bekommen. Außerdem entschied ich, nach dem Abschluss meiner Schulzeit ein Soziales Jahr in der Gruppe zu machen, wo ich mit diesem Autisten zusammenarbeiten konnte. Nach diesem Jahr war klar, dass ich Erziehungswissenschaften Schwerpunkt Psychologie und Medizin studiere, um mein Wissen über Autismus weiter aufzubauen.

Mit dem Abschluss Diplom-Pädagogin qualifizierte ich mich für die Projektleitung von MAASarbeit – ein berufliches Integrationsprojekt für Autisten. (Dazu ist im Weidler-Verlag auch ein Buch erschienen).
Das SAP-Projekt „Autism at Work“ baute ich maßgeblich durch meine Tätigkeit bei Specialisterne auf. Inzwischen habe ich es zu meinem beruflichen Schwerpunkt gemacht, autistische Menschen und deren Angehörige zu beraten, Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und Unternehmen zu informieren, die Autisten einstellen möchten. Diese Erfahrungen habe ich in meinem aktuellen Buch festgehalten.

Das Wichtigste aber, was mich am meisten für diese Arbeit qualifiziert ist, dass mir viele Autisten ihr Vertrauen schenken und ich auf dieser Basis mit ihnen zu tun habe (auch über viele Jahre), ihnen zuhöre, mit ihnen rede, mich mit ihnen und ihren Biografien beschäftige. Dafür bin ich dankbar.

Mit welchen typischen Fragen treten potentielle Arbeitgeber an Dich heran? Wirst Du dabei mit Klischees bezüglich Autismus konfrontiert?

Na klar, jeder Mensch denkt in Kategorien. Menschliche Hirne brauchen Kategorien, um die Informationsflut bewältigen zu können.
Wichtig ist, Kategorien/Klischees auch ablegen zu können. Das sehe ich als meine Aufgabe. Wenn ich mit Arbeitgebern rede, kommen die Klischees „Autisten leben in ihrer eigenen Welt“, „Autisten sind gut in IT“ und „Autisten sind Genies“.
Nur wenige wissen wirklich etwas über Autismus.

Ein wunderbares Beispiel: Eine autistische Arbeitnehmerin begann die ersten Tage und Wochen im neuen Job. Ihr Anleiter, ein Herr mittleren Alters, begleitete sie in ihren ersten Wochen. Sie hatte zur Aufgabe, alte Akten zu digitalisieren und freute sich jeden Tag darüber, diese Tätigkeit und nur diese Tätigkeit zu machen.
Alles ist gut, bis der Anleiter eines Tages bei mir anruft und sagt: „Frau Blodig, wir haben ein Problem, können Sie bitte vorbei kommen?“
Es stellte sich heraus, dass nicht die Autistin das Problem hatte, sondern der Anleiter. Er plagte sich mit einem schlechten Gewissen der Autistin gegenüber, da sie jeden Tag dieselbe Tätigkeit entrichten musste. Ein klärendes Gespräch und die Versicherung der Autistin, dass sie glücklich mit ihrem Job ist, beruhigten den Anleiter.

Ich erzähle die Geschichte oft, da das Nicht-Klären dieser Sache womöglich dazu geführt hätte, dass der Anleiter der Autistin abwechslungsreiche Tätigkeiten gegeben hätte, was nicht zielführend gewesen wäre.

Du schreibst auf Deiner Facebook-Seite, dass Du mit Autisten „erfolgreiche Kompensationsstrategien für mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt“ entwickelst. Wie sehen diese Strategien aus?

Die Strategien sind sehr sehr individuell. Es gibt keine einheitliche Lösung.
In meinem Buch sind einige Strategien beschrieben.
Das erste, was ich in meinem Beratungen mache, ist, das Phänomen „Autismus“ für jeden individuell zu erarbeiten.
„Was bedeutet Autismus für mich persönlich?“ Das ist die erste und wichtigste Frage.
Wer das beantworten kann, also wie Autismus sich bei jedem einzelnen äußert und wo die persönlichen Stärken und Herausforderungen liegen, hat einen ersten großen Schritt zur Erleichterung getan.

Ich unterstütze und arbeite nach dem Konzept „Hilfe zur Selbsthilfe“.
Der nächste Schritt ist dann, die eigene Diagnose anzuerkennen und eventuell offen damit umzugehen. Das Thema, was ich hier verfolge, nennt man: Empowerment, Selbstvertretung. Das sind meine Grundsätze.

Bei Kompensation denke ich unter anderem auch an das Bestreben mancher Menschen, Autisten einer Norm anpassen zu wollen. Wie siehst Du die Gratwanderung zwischen Persönlichkeitsentfaltung einerseits und Kompensation beziehungsweise Normierung andererseits?

Ich verzichte bewusst auf die allgemeinen Diagnosekriterien wegen der Unschärfen bei der Diagnostik selbst. Vielmehr möchte ich jene Menschen ansprechen, die sich dem Autismusspektrum nahe fühlen, aber keine offizielle Diagnose haben:
Sie werden dazu angehalten, ihren Spielraum zu nutzen und auszubauen, ihre Grenzen zu (er-)kennen und den Mut aufzubringen, eben diese – wenn nötig – zu überschreiten.

Was ist, wenn das nicht klappt?

Dann akzeptiere ich diese Grenze. Und wir finden Lösungen, was man z.B. statt einer Begrüßung per Handschlag machen kann. Oder wie man dem Chef und den Kollegen erklärt, dass das nicht geht.

Es geht nicht um „Autisten-Dressur“, sondern vielmehr darum, ihre Wahlmöglichkeiten und ihr Wohlbefinden zu vergrößern, indem sie mehr über das soziale Miteinander lernen. Warum handeln Neurotypische, wie sie handeln? Warum ist Small Talk so wichtig für Neurotypische? Diese und andere Fragen kläre ich auf mit dem Ziel, Selbstbefähigung zu fördern.
Wenn Autisten über ausreichend Wissen und (Selbst-)Verständnis verfügen, können sie selbstbestimmt entscheiden, was sie anpassen oder akzeptieren möchten, und was nicht.
Ich denke, wenn man mich kennenlernt, erfährt man sehr schnell, wie ich arbeite und dass „Selbstbefähigung, Empowerment, Hilfe zur Selbsthilfe“ keine leeren Phrasen sind.

Dein Buch „Hochfunktionale Autisten im Beruf“ ist Anfang 2016 erschienen. An wen richtete sich das Buch?

Das Buch richtet sich an hochfunktionale Autisten, wobei hochfunktional hier nur als Beschreibung und nicht als Diagnose verstanden wird. Das heißt vielmehr, dass dieses Werk jene Autisten anspricht, die lautsprachlich, schriftlich oder durch Gebärden kommunizieren, die lesen, schreiben, rechnen und alltagspraktische Dinge erledigen können, jedoch Schwierigkeiten haben, (nonverbale) Kommunikation adäquat zu deuten oder Unterstützung/Aufklärung im sozialen Miteinander am allgemeinen Arbeitsmarkt wünschen.

Ziel des Buches ist die Förderung von Selbsthilfe. Erwachsene hochfunktionale Autisten geben jüngeren Autisten Tipps und Tricks, wie sie schwierige Situationen am Arbeitsmarkt erfolgreich gelöst haben.

„Ellas Blog“ wird von vielen Eltern gelesen, die autistische Kinder mit hohem Betreuungs- und Pflegebedarf haben. Hier steht die berufliche Integration nicht so sehr im Vordergrund. Hast Du auch Erfahrung in diesem Bereich?

Ich habe während meines Studiums mit frühkindlichen Autisten im Erwachsenenalter gearbeitet und auch dort meine Erfahrungen in Form meiner Diplomarbeit festgehalten (vgl. „Status quo – Autismusspektrum“ 2009, Justus-Liebig-Universität).

Themen wie Wohnen, Freizeit, Alltagsstrukturierung, TEACCH, PECS, UK, Auto- und Fremdaggression sind mir bekannt und ich greife auf langjährige Erfahrungen zurück. Doch auch in Werkstätten haben wir mit dem MAASarbeit-Projekt angesetzt. Manche sind unter- oder überfordert mit den Aufgaben in Werkstätten, hier gilt es ebenso, aufkommender Frustration entgegenzusteuern.

In allen Veröffentlichungen von mir verweise ich auf die „Checkliste am Arbeitsplatz“ von PD Dr. Dipl-Psych. Monika Lang. Sie leitet das Institut für Rehabilitationspsychologie und Autismus in Gießen. Die Checkliste dient dazu den Arbeitsplatz für Autisten zu untersuchen und nach möglichen Stressoren zu analysieren.

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Ina in Namibia

Ende 2016 startete ich eine Kooperation mit Autism Namibia. In Windhoek soll ein Autismuskompetenzzentrum eingerichtet werden, bei dem ich unterstützen werde. Dort wird u.a. ein Angebot für Autisten mit hohem Betreuungsbedarf entwickelt. Insbesondere die verschiedenen Möglichkeiten in der Unterstützten Kommunikation sind Themen, für die ich mich sehr interessiere.

Du erwähntest Deine Erfahrung u.a. mit PECS. Je nachdem, wie man es anwendet, wird damit auch ABA (Applied Behavior Analysis) praktiziert. Wie denkst Du über ABA?

ABA habe ich im Zuge meiner Diplomarbeit theoretisch kennengelernt, sachlich beschrieben und für nicht gut befunden. Damit war das Kapitel für mich abgeschlossen. Seither kläre ich Autisten und Eltern darüber auf, die letztendliche Entscheidung aber trifft jeder für sich.
Ich werde oft gefragt, ob es Autismus-Therapien gibt. Ich versuche dann, mit den Menschen darüber zu sprechen, wofür die Therapien dienen sollen.
Von Verhalten umerziehen, sodass der Autist in die NT-Welt (neurotypische/normale Welt) passt, halte ich nichts.

Wie können Deiner Meinung nach hochfunktionale Autisten und Autisten mit hohem Betreuungs- und Pflegebedarf voneinander profitieren?

Nur durch Austausch. Oftmals eignet sich Schriftverkehr, bei Personen die nonverbal sind. Selbsthilfegruppen halte ich für perfekte Plattformen, um voneinander zu lernen und sich auszutauschen. Auch hier gilt: Wer Wissen und (Selbst-)Verständnis über Autismus hat, kann auch damit umgehen lernen.
Ich habe eine Selbsthilfegruppe moderiert, da wurde mir zurückgemeldet, wie sinnvoll und bereichernd diese Gruppe empfunden wurde. Dort waren aber ausschließlich sprechende, vermutlich hochfunktionale Autisten anwesend. Eine gemischte Gruppe kenne ich nicht – wäre aber ein interessantes Projekt, was wir in 2017 ja mal angehen könnten.

Im Moment spreche ich mit Autismus Siegen e.V.. Dort hat ein Elternverein ein Wohnheim für Autisten erbaut. Ich unterstütze diese Initiative seit Kurzem und berichte gerne mehr darüber wenn das dort richtig losgeht.

Was ist Dir noch wichtig zu sagen?
Mich begleitet das Thema Autismus seitdem ich 16 Jahre alt bin. Ich bin so froh, welche Meilensteine bereits erreicht wurden. Leider erlebe ich immer wieder, dass sich auch Autisten untereinander anfeinden. Ich möchte dazu aufrufen, dass wir uns auf das besinnen, was wir alle verfolgen. Bessere Chancen für Autisten, mehr Anerkennung und dass die Bedarfe ernst genommen werden. Gemeinsam können wir natürlich mehr erreichen, unsere Lobby wächst und ich wünsche mir, dass jeder seinen Beitrag dazu leistet.

Wie kann man Kontakt zu Dir aufnehmen?
Gerne per Mail: ina.blodig@gmail.com
Gerne per Facebook: @InaBlodigAutismusberatung

Herzlichen Dank, liebe Ina, für das interessante Interview und alles Gute für Dich persönlich und Deine weitere Arbeit.

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