Interview mit Sabine Retter, Job Coach bei auticon: „Auch die kleinsten Schritte auf dem Weg sind große Erfolge.“

veröffentlicht im Februar 2022


Liebe Sabine, wer bist Du und welchen neuen Job hast Du kürzlich angefangen?

Liebe Silke, vielen herzlichen Dank für dein Interesse an einem Interview mit mir.

Mein Name ist Sabine Retter, ich bin 40 Jahre, verheiratet und wohne mit meinem Mann und unseren zwei Kindern (13 und 15 Jahre) in der Nähe von Stuttgart.
Seit Dezember 2021 bin ich Job Coach bei auticon Stuttgart. Ich darf unsere IT-Spezialisten*innen (Consultants) im Autismus-Spektrum unterstützen und begleiten. 

Welche Qualifikation bringst Du dafür mit und was sind jetzt Deine Aufgaben? 

Ganz ehrlich? Ich mag diese Frage nicht so gerne. Meine Meinung ist es man kann so viele Zertifikate haben, wenn man nicht lieb was man macht. Unser Sohn hat das Asperger-Syndrom. 15 Jahre Lebenserfahrungen mit einem Kind mit speziellen Bedürfnissen kann man nicht lernen, das muss man von Herzen lieben. Ich habe mich stets informiert und mit meinem Sohn viel daheim erarbeitet. Zu Beginn war unser ganzes Haus voll mit Ablaufplänen anhand Bilder (TEACCH-Ansatz). Zum Beispiel im Bad ein Plan für morgens, abends und für den Toilettengang. Damals hätte ich nie gedacht, dass wir es schaffen alle Pläne abzuhängen.
Aber auch die ganzen anderen Dinge wie Pflegeleistungen, Schwerbehindertenausweis, Eingliederungshilfe, Schulbegleiter*in, Therapien… gefühlt niemals endende Aufgaben. Aber all diese Erfahrungen und Kenntnisse helfen mir jetzt dabei, meine Aufgaben als Job Coach mit ganzem Herzen auszuführen. 

Aber um auf deine Frage zurückzukommen. In den letzten 20 Jahren arbeitete ich als Verwaltungsfachwirtin im Sozialamt, im JobCenter, in der Museumsverwaltung, bei der Sozialstation und die letzten 6 Jahre im Veranstaltungs- und Projektmamagent.
Zusätzlich absolvierte ich eine Ausbildung als psychologische Beraterin / Personal Coach, sowie eine Intensivausbildung als systemische Beraterin. Ich habe an vielen Supervisionen und Coachings teilgenommen. Im Moment bereite ich mich auf die Überprüfung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie vor.

Zu meinen Aufgaben bei auticon gehören, ein autismusfreundliches Arbeitsfeld zu gewährleiten, dabei bin ich Ansprechpartnerin für sämtliche Belange rund um den Arbeitsplatz. Des Weiteren übernehme ich die intensive Vorbereitung auf die Projekteinsätze in wechselnden Kundenunternehmen. Sowie das Teambriefings mit dem Auftraggeber, im Hinblick auf die Besonderheiten beim Einsatz von autistischen Mitarbeitern*innen im Arbeitsumfeld des Auftraggebers. Kurz gesagt: Ich schaffe eine Arbeitsumfeld in dem unsere Consultants ohne Hindernisse ihre Stärken einbringen können.

Wie bist Du zum Thema Autismus gekommen? Wie sahen Deine ersten Begegnungen mit AutistInnen aus? 

Als unser Sohn mit 3 Jahren in den Kindergarten kam, wurde recht schnell klar, dass er andere Bedürfnisse hat. Ihm war alles zu laut, zu viel und der Sinn des Kindergartens hat er sowieso nie verstanden, da er nicht gerne mit Kindern gespielt hat. Nach dem ersten Besuch im SPZ stand das Thema Autismus-Spektrum-Störung im Raum. Zu Beginn war ich sehr unsicher hatte immer Angst etwas falsch zu machen.
Im Laufe der Jahre habe ich viele Autist*innen kennengelernt, aber es ist einfach so: “Kennst du einen Autisten, kennst du einen!“ 

Welche Fragestellungen begegnen Dir am häufigsten?

„Kann dein Sohn überhaupt mal ausziehen und allein Leben?“ „Was ist denn seine Inselbegabung?“  
Ich sag dann immer, wenn er mal ausziehen kann, freuen wir uns sehr, aber er darf gerne bleiben.
Wir haben letztes Jahr unser Haus umgebaut, damit die Kinder einen eigenen Bereich haben. Unser Sohn hatte extreme Zukunftsängste und die Frage danach, wie es für ihn weiter geht, war sehr belastend. Seit dem Umbau ist es viel besser. Er weiß, er ist immer willkommen, merkt aber auch welche großartigen Fortschritte er macht. 
Und zu seiner Inselbegabung? Er ist der herzlichste und liebste Mensch, den ich kenne. 

Was ist Deiner Erfahrung nach für eine bedürfnisorientierte Teilhabe vor allem notwendig bzw. unverzichtbar? 

Das kommt auf die Bedürfnisse des jeweiligen Autisten an. Ruhe, Respekt, Toleranz und Akzeptanz.
Was unverzichtbar ist, finde ich, und da möchte ich gerne auf die Philosophie von auticon eingehen:„Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem.“ Dies beinhaltet für mich das Wichtigste. Denn Autist*innen sind nicht falsch und müssen sich nicht anpassen! Nein – sie sehen die Welt auf eine andere Weise und ich bin so dankbar, die Welt jetzt auch durch andere Augen zu sehen. Für mich ist es eine Bereicherung. 

Woran scheitert Teilhabe häufig? 

Am System. An der Bürokratie und am Unwissen. Leider an so vielem.  

Hast Du auch Kontakt zu betreuungsintensiveren Autistinnen und Autisten, die zum Beispiel nicht sprechen oder höhere Pflegegrade haben?

Ja, habe ich. Bereits in der Ergotherapie war ein nonverbaler frühkindlicher Autist. Eine Bekannte hat einen Sohn mit Down-Syndrom und einer autistischen Spektrumsstörung.
Aber auch bei unserem Sohn war in schwierigen Zeiten oft nur eine unterstützende Kommunikation möglich. Wir haben viel mit Bildkarten gearbeitet, um Abläufe zu erklären und Antworten zu bekommen. Des Weiteren haben wir viel mit Handzeichen gearbeitet wie „Stopp“. 

Du sagst, dass Inklusion mit den richtigen Menschen möglich ist – wie meinst Du das? Wer und wie sind diese „richtigen Menschen“?

Es braucht die richtigen Menschen, die lieben, was sie tun. Wir hatten großes Glück, dass die Assistenz unseres Sohnes ihn seit dem Kindergarten betreut. Die zwei sind wie ein altes Ehepaar. Der Rektor und die Lernbegleiterin unseres Sohnes waren immer offen und haben nicht sofort NEIN gesagt, sondern lass es uns versuchen.
Einen guten Verhaltenstherapeuten. Aber auch Menschen wie dich und mich, die sich für die „Sache“ einsetzen und über den Tellerrand schauen.
Genau wie bei auticon! Hier arbeiten so viele Menschen, die mit dem Herzen dabei sind und das Ziel der Teilhabe im Kopf haben. Wir stärken Stärken. Es geht um das Wohlbefinden der Consultants und das meine ich damit, all das sind die richtigen Menschen mit denen Inklusion möglich ist. 

Was ziehst Du für Dich persönlich aus Deiner Arbeit? Was prägt Dich? 

Meine Vision war es immer, mein Wissen, welches ich mir die letzten Jahre erarbeitet habe, an Familien mit autistischen Kindern oder an Autisten*innen weiterzugeben. Jetzt ein Teil von auticon zu sein und täglich mit Autisten*innen zu arbeiten, mit ihnen ihren Weg zu gehen, sie zu stärken aber auch in schwierigen Situationen gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten, erfüllt mich unheimlich. Es gibt meinem Leben Sinn. 

Was ist Dir sonst noch besonders wichtig zu sagen?

Ich möchte allen Familien mit autistischen Kindern Mut machen. Gebt nicht auf. Auch wenn der Berg manchmal unendlich erscheint und ein Stein nach dem anderen auf dem Weg liegt. Glaubt an Euch und Eure Kinder. Auch die kleinsten Schritte auf dem Weg sind große Erfolge. Feiert mit Euren Kindern die Erfolge – sie werden es euch danken.

Liebe Silke, vielen Dank für die Möglichkeit dieses Interview zu führen. Du bist auch einer der „richtigen Menschen“ mit denen Inklusion möglich wird. Herzlichen Dank!

Wenn Ihr Fragen habt – bitte meldet Euch sehr gerne bei mir.

Alles Liebe

Eure Sabine

Liebe Sabine, ganz herzlichen Dank für das tolle Interview, den Einblick in Deine Arbeit und damit auch unmittelbar in Deinen ganz persönlichen Hintergrund. Man merkt, dass Du mit Herzblut dabei bist und ich freue mich für alle, die Deine Begleitung in Anspruch nehmen können.
Alles Gute für Dich und Deine Familie, herzlichst
Silke

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  1. Ganz toller Beitrag, toller Einblick und ich habe Sabine selber kennen gelernt und sie ist ein so wunderbarer Mensch. Ein Mensch mit so viel Herz und ich bin immer wieder begeistert.

    Danke Sabine und schön, das wir uns gefunden haben.

    Liebe Grüße
    Anja

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