Interview mit Marlies Hübner: „Ein Dialog kann uns alle nur weiter bringen.“

veröffentlicht im Mai 2017


Foto ©Marlies Hübner

Marlies Hübner ist Autistin und arbeitet unter anderem als Autorin und Bloggerin. Und das macht sie ziemlich gut – ich schätze sie sehr für ihre unverwechselbare Schreibweise und ihre Herzlichkeit.
Den Austausch mit ihr suche ich daher sehr gerne und für „Ellas Blog“ hat sie extra für Euch einige Fragen beantwortet.

***

Liebe Marlies, für mich bist Du eine geheimnisvolle, spannende und eloquente Bloggerin, die sich nicht scheut, klare Standpunkte einzunehmen. Das bewundere ich sehr. Und ich freue mich umso mehr, dass Du uns etwas über Dich und Dein Schreiben erzählen möchtest.

Wie können wir uns Dein Leben als Autistin vorstellen? Kannst Du beschreiben, was besonders schwierig für Dich ist und was Du auf der anderen Seite an Deinem Leben als Autistin auch magst?

Oh, danke für die lieben Worte. Du machst mich sehr verlegen.
Mein Leben ist nach vielen Tiefpunkten und Problemen endlich so, dass ich es als schön und angenehm bezeichnen kann – eine enorme Entwicklung, die die Autismusdiagnose angestoßen hat.
Ich arbeite sehr viel und das gern. Zusätzlich zu meinem Beruf bin ich als Autorin tätig und engagiere mich aktivistisch und in der Selbstvertretung. Das funktioniert sehr gut, weil mein Alltag von Ritualen und Strukturen gestützt wird. Schwierig wird es allerdings, wenn diese Strukturen erschüttert werden, zum Beispiel durch Stress, Familienprobleme oder unvorhergesehene Veränderungen. In diesen Situationen leiden die Leistungsfähigkeit und die Lebensqualität massiv und es wird erst besser, wenn die Alltagsstrukturen angepasst oder wieder hergestellt sind.

Was sind zum Beispiel wichtige Rituale und Strukturen in Deinem Alltag?

Die Zeit vor der Arbeit folgt immer dem gleichen Ritual, ebenso die Abendzeit. Für die Mittagspausen im Büro gibt es auch feste Abläufe, die auch Kolleg*innen integrieren, was für mich besonders schön ist. Für die Wochenenden gibt es Rituale mit verschiebbaren Elementen, um verschiedene Aktivitäten möglich zu machen und jede Schreibarbeit, die ich erledige, folgt genau genommen auch einer festen Struktur. Das klingt für Außenstehende sehr einengend, glaube ich, ist aber tatsächlich ein Geländer, an dem ich mich frei und sicher bewegen kann.

Wenn Du beruflich auf Reisen bist oder in den Urlaub fährst, ist das sicherlich nicht einfach, weil Deine gewohnten Strukturen dann nicht greifen. Wie bereitest Du Dich darauf vor?

Dass Autist*innen nicht verreisen können, ist eins dieser Vorurteile, die mich sehr ärgern. Es kommt sehr darauf an, wie man so etwas angeht. Unsere Ausflüge, Reisen und Urlaube werden vorab gut geplant. Wir haben Dokumente, die mit all unseren Devices synchronisieren und die detaillierte Reisepläne mit Zeitangaben und Pufferzeiten enthalten und genau regeln, was wann passiert. Die arbeitet in der Regel mein Partner aus, auch, wenn ich alleine reise. Er kann das besser als ich. Ich packe dafür strukturierter und überlegter – so ergänzen wir uns optimal.

Was ist Dir in Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe wichtig?

Klare Standpunkte zu beziehen, ist mir sehr wichtig. Ich bin sehr idealistisch und glaube an die Möglichkeit einer gerechten, sozialen und chancengleichen Gellschaft. Darüber kann man sicherlich lachen, oder aber man arbeitet einfach daran. Viele Autist*innen haben erst seit ein paar Jahren die Möglichkeit, ihr Leben selbst mitzugestalten und noch immer scheint es für viele Menschen unfassbar zu sein, dass wir Selbstbestimmung fordern. Indem wir deutlich sagen, was wir wollen und was nicht, erkämpfen wir uns unser Recht auf selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Ja, das finde ich auch sehr wichtig und denke, dass alle Beteiligten nur davon profitieren können, wenn AutistInnen für sich selbst sprechen. Welche Aspekte sind Dir hier besonders wichtig?

Eine Minderheit muss für sich selbst sprechen und damit auch gehört werden. Respekt und Augenhöhe sind mir dabei enorm wichtig, egal bei wem. Es gibt Menschen, die ihr Verhalten mir gegenüber komplett geändert haben, nachdem ich mich als Autistin zu erkennen gegeben habe: Für sie war ich dann nicht mehr die intelligente Frau, sondern eine unmündige Behinderte. Ist das nicht verachtenswert?
Behinderung ist etwas sehr normales und muss erst einmal komplett wertneutral betrachtet werden. Sie sagt erst einmal nichts über den Menschen aus, der sie hat.

Es gibt AutistInnen, die nicht gut oder nur sehr bedingt für sich sprechen können, weil sie in ihrer Handlungskompetenz oder in ihren kommunikativen Fähigkeiten zu stark eingeschränkt sind – mein Sohn zum Beispiel. Wie siehst Du in diesem Zusammenhang das Engagement von Eltern und das Zusammenwirken von AutistInnen und Eltern?

Für mich ist es sehr wichtig, den Dialog mit auffälligeren Autist*innen mit Betreuungsbedarf und mit deren Eltern zu suchen und zu pflegen. Das Spektrum ist so enorm groß – ich kann es nicht vertreten, wenn ich es nicht kenne. Von Eltern lerne ich sehr viel über ihre Sorgen und Nöte und kann meine Stimme entsprechend daran ausrichten, wenn ich über Autismus spreche oder schreibe. Eltern verfügen oft über ein sehr großes Fachwissen und haben viele Lösungen für Alltagsprobleme. Davon kann ich lernen. Den Eltern wiederum kann ich sehr viel vermitteln. Ich kann Verhaltensweisen erklären, die sich nicht von selbst erschließen und kann Einblicke ins autistische Sein geben, die ihre Kinder ihnen nicht vermitteln können. Ein Dialog kann uns also alle nur weiterbringen.

Foto ©Marlies Hübner

Wie hast du eigentlich Deine Autismus-Diagnose erhalten? Bist Du von selbst auf den Gedanken gekommen oder gab es Anstöße von außen?

Vor 5, bald 6 Jahren erhielt ich meine Diagnose. Mein Leben lag zu dieser Zeit in Trümmern. Seit ich 17 war, musste ich selbstständig leben, ohne aber zu wissen, wie ich bin und wonach ich mein Leben ausrichten muss. Alles in mir strebte danach, so normal und unauffällig wie möglich zu sein, ich investierte all meine Kraft dort hinein, bis ich schlussendlich zusammenbrach. Die Ursachensuche danach gestaltete sich sehr schwierig, Ärzte stießen dabei auf enorme Widersprüche. Ein befreundeter Autist fragte mich irgendwann, ob Autismus schon ausgeschlossen wurde und gab damit den entscheidenden Hinweis.

Ist es für Dich positiv, eine Diagnose zu haben?

Es hat Vor- und Nachteile. Durch die Diagnose bekam ich die Möglichkeit, mich selbst zu finden und kennen zu lernen. Ich kann ergründen, warum ich bin wie ich bin und was ich brauche, um ein glückliches und erfolgreiches Leben zu führen. Mir schlagen aber auch viele Vorurteile entgegen. Manchmal werde ich vorverurteilt, abgewertet und entmündigt. Menschen begegnen mir mit Hass und Beschimpfungen, wenn ich als Autistin aufkläre und mich gegen schädliche, missbräuchliche Therapien und Behandlungen ausspreche.

Ich versuche immer zu vermitteln, dass der Kontakt zu erwachsenen AutistInnen sehr wertvoll ist. Manchmal werde ich dann gefragt: “Ich möchte das ja gerne, aber wo finde ich die denn?” Hast Du Tipps für Eltern, die Erfahrungsaustausch mit AutistInnen suchen?

Bei dieser Antwort kann ich mich nur auf den digitalen Raum beschränken, Selbsthilfegruppen und andere Möglichkeiten, sich zu treffen, sind nichts für mich, darum kann ich nichts darüber sagen.
Es gibt jedoch eine wachsende Zahl von Blogs, die von Autist*innen geführt werden. Die Autor*innen sind kontaktierbar und – soweit ich es weiß – oft auch am Gespräch interessiert. Gruppen auf Facebook scheinen auch eine gute Möglichkeit des Austauschs zu bieten. Wir sind da und sichtbar, es ist jedoch sehr schwierig, selbst interessierte Eltern zu kontaktieren, es ist also einfacher, wenn die Kontaktaufnahme von den Eltern aus erfolgt.

***

Vielen Dank, liebe Marlies. :-)

Marlies´ Blog findet Ihr HIER und dort übrigens auch ein Interview, das sie umgekehrt mit mir führte. :-)

 

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KOMMENTARE

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  1. „Dass Autist*innen nicht verreisen können, ist eins dieser Vorurteile, die mich sehr ärgern.“

    „Auch Autist*innen können verreisen“ kann jedoch leider ebenso leicht in ein Vorurteil münden. Das wiederum ärgert mich recht oft.

    Zumal wenn ich von Menschen (Nachbarn, Verwandten, Bekannten) höre die mir sagen, dass eine Reise halt nur gut durchdacht und geplant werden muss…“es kommt einfach nur darauf an wie man so etwas angeht.“…“andere Autisten schaffen das doch auch wie ich gelesen/gehört habe.“

    Das wiederum gibt mir persönlich oft das Gefühl dass ich mich nicht ordentlich vorbereitet oder mich nicht genug angestrengt habe.

    Mein Problem z.B. ist nicht das Packen meines Koffers oder irgendwelche Zeitangaben von Zügen und dergleichen, sondern mein Orientierungssinn welcher mir zu schaffen macht…so wie halt zusätzlich die Menge an Eindrücken die zur gleichen Zeit auf mich einströmen.

    Habe mich leider schon sehr oft in anderen Städten und anderen Orten dermaßen verlaufen…was zur Folge hatte dass ich völlig überfordert war und es mich manchmal auch in heikle Situationen gebracht hat.

    Daraus jetzt jedoch zu schlussfolgern dass Autist*innen wohl grundsätzlich nicht verreisen können, halte ich persönlich jedoch ebenfalls für falsch. (Habe auf jeden Fall bisher immer noch wieder nach hause zurückgefunden.) ;)

    Wichtig finde ich einfach nur dass man auch jenen Autisten Raum gibt die es eben leider dennoch nicht ganz alleine oder aber halt nur sehr schwer bewältigt bekommen.

    Von besagten Menschen (Nachbarn, Verwandten, Bekannten) wünsche ich mir jedenfalls dass diese eventuell auch mal zugeben könnten dass sie sich in ihrem Urteil dann wohl geirrt haben…aber leider bleiben sie oft weiterhin bei ihrem Vorurteil… denn ansonsten müssten sie ja ihre Ansichten neu überdenken müssen.

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