Claudia über ihre autistische Tochter: „Ich baue ihr Brücken, ob sie den Weg über diese Brücken gehen will, entscheidet sie selbst.“

Claudia schickte mir einen ganz wunderbaren Gastbeitrag über ihre Tochter. Und sie schrieb mir, dass sie Mut machen und zeigen möchte, dass Vieles möglich ist, wenn das Umfeld stimmt. Aber lest selbst. :-)
(alle Namen geändert)

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Gastbeitrag von Claudia:

Meine Tochter ist vier Jahre alt, in drei Monaten wird sie fünf. Vor etwa einem Jahr bekamen wir die Diagnose „Atypischer Autismus und exzessive Sprachstörung“.

Vor etwa zwei Jahren ahnte ich schon, dass Anja Autistin sein könnte, vieles sprach dafür, nichts anderes passte auf meine zauberhafte kleine Tochter. Für mich hätte es keine Diagnose gebraucht, sie war perfekt, ich kannte sie nicht anders und sie blieb auch mit Diagnose perfekt.

Aber mit Eintritt in den Kindergarten wird natürlich vieles anders. Es fiel früh auf, dass die Erzieherinnen überfordert waren und mein kleines Mädchen eine 1:1 Betreuung brauchte. So kam ich an die Lebenshilfe, sie wurde begutachtet und vor einem Jahr bekam sie dann endlich ihre zwei Integrationshelferinnen und ihre Heilpädagogin, die sie in ihrem Kindergartenalltag betreuen.

Anja ist eine „Kuschelautistin“, sie ist offen gegenüber fremden, erwachsenen Menschen, aber war ängstlich gegenüber Kindern. Bis ihre Freundin Lara in ihr Leben trat. Lara ließ über Monate nicht locker, ging immer wieder auf Anja zu und irgendwann waren sie ein Herz und eine Seele. Ich bin Lara dankbar, dass sie so sehr um Anja gekämpft hat und es ihr egal ist, ob Anja richtig spricht oder sie jedes Spiel mit ihr verliert und einfach nur gerne mit ihr zusammen ist.

Sie geht vier Tage in der Woche in einen Regelkindergarten. Montags hat sie kindergartenfrei, aber dafür 45 Minuten Logopädie. An drei Tagen bleibt sie bis 14 Uhr im Kindergarten, an einem Tag bis 12 Uhr, weil wir an diesem Tag die Musikschule besuchen.

Sie hat neben dieser einen besten Freundin noch andere Freundinnen gefunden, bzw. diese Kinder sie – sie ist nicht unbeliebt, wird nicht gemobbt, sondern auch von den anderen Kindern mitgenommen und in Ruhe gelassen, wenn sie mal nicht mag.
So kam es auch schon vor, dass sie von mehreren Kindern morgens gleichzeitig mit Küsschen und Umarmungen begrüßt wurde.

Ich wollte für meine Tochter nie diesen Weg der ständigen Therapien gehen, ich finde es vollkommen ausreichend, dass sie Logopädie, autismusspezifische Therapie und Frühförderung im Kindergarten erhält. Sie soll Kind sein dürfen, sie darf Dinge machen, die ihr gut tun, die sie toll findet, es ist ja schließlich ihr Leben und sie soll auf keinen Fall von mir oder anderen in eine bestimmte Ecke gedrängt werden. So ist es vollkommen ok, wenn sie Dinge probiert und auch „nein“ dazu sagt, ich akzeptiere das.

Sie hat einige Ängste: Spinnen, Staubsauger, Fön, Punkte, Käfer und Insekten.
Fische, Schlangen und T-Rexe findet sie dagegen Hammer und auch Schafe sind mega.

Sie findet Monster High besser als Barbie, sammelt Drachen, Kätzchen und Ponys, liebt hübsche, möglichst schwarze Kleider und Schuhe, die blinken. Außerdem singt und tanzt sie gerne, je rockiger desto besser (das kommt mir sehr entgegen :-D ).
Sie achtet sehr auf Details, nichts entgeht ihr, kann sich nach einmaliger Begehung eines Raumes daran erinnern, wo für sie interessante Dinge stehen.

Vor einigen Monaten hatte sie den Wunsch nach einer Gitarre, sie liebt dieses Instrument wie kein zweites und ich schenkte ihr eine kleine rosafarbene Kindergitarre, eine echte aus Holz, nicht so ein Plastikding. Sie wollte unbedingt in die Musikschule gehen und so nahm ich Kontakt zu einer Musikschule auf. Der Leiter rief mich einige Zeit später zurück und wir sprachen über Anjas Wunsch und wie realistisch der zu diesem Zeitpunkt sei.
Im Moment fände er sie noch zu jung für die Gitarre, die Feinmotorik müsse sich noch entwickeln usw, aber er bot mir für Anja an, erstmal Schlagzeug zu lernen, damit sie ein Gefühl für Rhythmus und Motorik entwickelt und wenn es gar nicht funktionieren sollte, kann sie trotzdem zur Gitarre wechseln, das ist eben nach wie vor ihr Herzensinstrument.

Anfang September war es dann soweit, Anjas erste Musikstunde. Ich konnte sie schlecht aufs Schlagzeug vorbereiten und die Größe des Instruments erschlug sie förmlich, es war nicht mal daran zu denken, dass sie in die Nähe von diesem Ding geht. Im Raum standen aber auch drei kleine akustische Pads. Sie bekam Sticks. Sie beschwerte sich über die Größe der Sticks und bekam kleinere…puh, erstes Problem gelöst.

Philipp, ihr Lehrer, erzählte mir, dass Anja nicht seine erste Autistin ist, die er unterrichten darf und dass der andere Junge, nonverbal, auch erstmal Probleme hatte, er war sieben Jahre alt, als seine Eltern es das erste Mal versuchten, kam vier Mal und ließ sich nicht darauf ein. Aber zwei Jahre später probierten sie es nochmal und nun spielt er seit zwei Jahren alle Stücke innerhalb kürzester Zeit fehlerfrei, das machte mir Mut und Hoffnung.

Immerhin trommelte Anja zum Ende auf den Miniübungspads, nach ganz viel Zeigen und Vormachen. Da war sie doch schon weiter…dachte ich.
Wie sehr ich mich täuschen kann und wie unberechenbar Autismus ist, zeigte sich eine Woche später. Sie ließ sich zu nichts animieren, machte kein bisschen mit und wollte einfach nur weg…ich war sehr traurig, sie erzählte, dass es nicht ihre Stöcke seien und nur Jungs Schlagzeug spielen können. Über diesen Satz war ich sehr enttäuscht. Egal ob Autismus oder nicht, keiner aber wirklich keiner hat das Recht Kindern zu sagen aufgrund deines Geschlechts kannst du dieses oder jenes nicht machen und irgendwoher musste sie das ja haben.

Ok noch einen Versuch, wenn nicht, dann halt ihr Herzensinstrument. Naja, der Anfang der nächsten Stunde lief schlimmer als die komplette letzte, sie wollte kaum das Haus betreten. Ganz schnell zu den Minipads, wieder keine Stöcke nehmen und so sprachen Philipp und ich darüber, ob es Sinn machen würde, denn wir wollten ihr auf keinen Fall die Freude an der Musik nehmen. Mein Entschluss, sie Gitarre spielen zu lassen stand schon fest, als mir doch noch eine Idee kam: ich bat Philipp, sich zu ihr an die kleinen Pads zu setzen, vielleicht würde sie ja dann mitmachen…ich war wohl auch die ganze Zeit nicht kompetent genug…denn sobald Philipp neben ihr saß, nahm sie die Stöcke, schaute ihm interessiert zu und machte es ihm nach.

Anja am Schlagzeug

©Foto von Anja

Er fragte sie fünf Minuten später, ob sie sich nicht an das große Schlagzeug setzen wollen. Wie ein kleiner Blitz stand sie vor dem unheimlich großen Instrument und begann zu trommeln und entdeckte die Becken. Dann sagte sie zu Philipp, dass er mitspielen müsse, er wählte nämlich gerade eins ihrer Lieblingslieder, Trolls- Hair up und Cant stop the feeling, aus und saß noch nicht an seinem Schlagzeug. Schnell hatte sie dann auch rausgefunden, was man mit dem Fußpedal so alles machen kann und war kaum noch zu bremsen. Sie war begeistert, lachte und fand die Becken toll.

Das Geheimnis war: Philipp hatte sie vorher nicht abgeholt und sie wusste mit der Situation nichts anzufangen. Jetzt haben Philipp und ich gelernt: wenn er sie abholt und mitnimmt, funktioniert das alles wunderbar.

Ich bin gespannt auf nächste Woche.
Der Musikunterricht ist zwanglos, es geht in ihrem Tempo, sie darf sich Zeit nehmen, wir erwarten nicht, dass sie innerhalb kürzester Zeit perfekt spielt, in erster Linie soll es ihr Spaß machen, sie soll etwas haben von dem sie erzählen kann und das tut sie.

Ich baue ihr Brücken, ob sie den Weg über diese Brücken gehen will, entscheidet sie selbst. Wenn ja, gehe ich mit ihr, wenn nicht, baue ich die nächste oder baue sie zu einem anderen Zeitpunkt nochmal.

Anja ist ein wundervolles, liebes und sehr höfliches kleines Mädchen und mit ihren autistischen Besonderheiten umso liebenswerter.

Brücke

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One comment

  • Isabelle

    Ganz toller Artikel. Ich sehe viele Gemeinsamkeiten zu meiner Tochter. (7, Aspi) (Nicht nur das Drachen Sammeln und Trolls. :) ) Ich finde es immer wieder schön, von anderen Aspi Mädchen zu lesen und zu sehen, wie ähnlich sie sich untereinander sein können, ohne dem „männlichen“ Klischee von Asperger voll zu entsprechen. Und das Brücken bauen ist ein alltäglicher Anspruch. Nicht immer einfach, aber so wichtig.

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