Autismus und die neuen Pflegegrade – was verändert sich?
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff
Mit dem „Zweiten Pflegestärkungsgesetz“ (PSG II) und der Einführung der Pflegegrade fällt die Unterscheidung zwischen Pflegebedürftigen mit körperlichen oder kognitiven/psychischen Einschränkungen weg. Betrachtet wird in Zukunft der Einzelne mit seinem individuellen Pflege- und Hilfebedarf, egal ob dieser im körperlichen, geistigen oder psychischen Bereich liegt oder eine Kombination verschiedener Bereiche berücksichtigt werden muss.
Die Begutachtung
Eine noch detailliertere Einstufung im Vergleich zu den bisher drei Pflegestufen ermöglichen die künftigen fünf Pflegegrade. Entscheidend bei der Einstufung ist der Grad der Selbständigkeit. Um diesen Grad zu beurteilen, werden Punkte vergeben (maximal 100) und nicht mehr wie bisher der minutiöse Pflegebedarf dokumentiert.
Das Begutachtungsinstrument dafür nennt sich NBA (Neues Begutachtungsassessment).
Damit wird der Umstand der „eingeschränkten Alltagskompetenz“, der bisher gesondert erfasst wurde, direkt bei der Einstufung in einen der fünf Pflegegrade berücksichtigt.
Außerdem sollen im Rahmen der Begutachtung nach Möglichkeit gezielte Präventions- und Rehabilitationsempfehlungen abgegeben werden.
Für die Begutachtung kommt, wie bisher, ein/e Gutachter/in des MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) zu einem vorher angekündigten Hausbesuch, bei dem er den Grad der Selbständigkeit des zu Begutachtenden erfasst und beschreibt.
Folgende Module spielen dabei eine Rolle. Die Gewichtung entspricht den zu vergebenen Punkten, maximal 100:
Module | Inhalt | Gewichtung | Anmerkung |
1 | Mobilität | 10% | |
2 | kognitive und kommunikative Fähigkeiten | 15% | |
3 | Verhaltensweisen und psychische Problemlagen | 15% | der höhere Wert von Modul 2 oder 3 fließt in die Begutachtung ein, nicht beide |
4 | Selbstversorgung | 40% | |
5 | Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen oder Belastungen | 20% | |
6 | Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte | 15% |
Die ermittelte Prozent- bzw. Punktezahl entspricht dann einem bestimmten Pflegegrad:
Pflegegrad | Gesamtpunkte |
1 | 12,5 – unter 27,0 |
2 | 27,0 – unter 47,5 |
3 | 47,5 – unter 70,0 |
4 | 70,0 – unter 90,0 |
5 | 90,0 – 100 |
Für die Beratung bezüglich weiterer Angebote oder Sozialleistungen oder einen individuellen Versorgungsplan befassen sich die Gutachter auch mit folgenden Bereichen. Sie fließen jedoch nicht mit in die Einstufung in die Pflegegrade ein:
- Modul 7: Außerhäusliche Aktivitäten
- Modul 8: Haushaltsführung
Das Gutachten erhält jeder Pflegebedürftige in Zukunft automatisch, muss es also nicht mehr extra anfordern.
Was bedeutet das für Autistinnen und Autisten?

Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff werden körperliche und seelische/psychische Einschränkungen bzw. Beeinträchtigungen gleichgestellt. Das bedeutet, dass AutistInnen, die keine pflegerische Hilfeleistungen benötigen, dennoch an den Leistungen der Pflegeversicherung teilhaben werden, wenn sie Anleitung und Hilfe bei der Strukturierung und Bewältigung ihres Alltages brauchen.
Bei AutistInnen, die bereits aufgrund körperlicher Einschränkungen und Pflegebedarfe Pflegestufen zugeordnet sind, werden nun zudem auch die Unterstützungsbedarfe im Alltag berücksichtigt, die zum Beispiel aufgrund von Weglauftendenz und ständiger Beaufsichtigung sowie der Notwendigkeit der Strukturierung von Tagesabläufen auftreten.
Es wird auch berücksichtigt werden, ob sich ein Mensch zeitlich und räumlich orientieren, Risiken erkennen und Gespräche führen kann. Das sind alles Bereiche, die früher bei der Begutachtung keine Rolle spielten, da sie nicht originär mit Pflege zu tun haben. Auch Unruhe in der Nacht, Ängste und Aggressionen sowie abwehrendes Verhalten bei der Pflege werden ab 2017 berücksichtigt, ebenso die Notwendigkeit bei Tätigkeiten außer Haus begleitet werden zu müssen oder Unterstützung bei der Tagesplanung zu benötigen.
Weitere Auswirkungen
- Wenn Gutachter im Rahmen der Begutachtung bereits bestimmte Rehabilitationsmaßnahmen empfehlen, ist dies eine bessere und schlüssigere Grundlage für die Beantragung einer solchen Maßnahme. Solche Vorhaben also am besten gleich mit in die Begutachtung einbringen.
- Ebenso gilt der Antrag für Hilfsmittel als bereits gestellt, wenn der Gutachter es in seinem Gutachten als notwendig aufführt und befürwortet (sofern der Pflegebedürftige damit einverstanden ist). Damit entfällt ein Extra-Antrag. Der Bedarf wird automatisch an die Pflegekasse weitergeleitet und in der Regel nicht noch einmal extra geprüft.
- Für Angehörige, die ein Familienmitglied pflegen, werden in Zukunft häufiger Rentenbeiträge durch die Pflegeversicherung gezahlt. Dies ist abhängig vom Pflegegrad des zu Pflegenden.
Wer aus dem Beruf aussteigen muss, um einen Angehörigen zu pflegen, bekommt außerdem Beiträge für die Arbeitslosenversicherung gezahlt. - Jeder ambulante Pflegedienst muss in Zukunft auch pflegerische Betreuungsmaßnahmen anbieten. Dafür kann er mit anderen zugelassenen Anbietern zusammenarbeiten.
- Die Pflegekasse soll jedem Anspruchsberechtigten in Zukunft einen persönlichen Betreuungsberater zur Seite stellen. Damit entfällt der Umstand, dass man seinen Lebenskontext und persönliche Einschränkungen und Bedarfe immer wieder neu erklären muss.
- Außerdem sollen die Pflegekassen eine Übersicht über die regional zur Verfügung stehenden Pflege- und Unterstützungsangebote im Internet zur Verfügung stellen.
Was passiert im Januar 2017?
Wer bereits Leistungen der Pflegeversicherung bezieht, wird im Januar automatisch ohne neue Begutachtung in das neue System übergeleitet. Das bedeutet, dass eine bestimmte Pflegestufe automatisch in einen neuen Pflegegrad übergeht, auch abhängig davon, ob bisher zusätzlich eine „eingeschränkte Alltagskompetenz“ begutachtet worden war oder nicht:
bisher | mit eingeschränkter Alltagskompetenz | wird zu |
Pflegestufe 0 | Pflegegrad 2 | |
Pflegestufe 1 | Pflegegrad 2 | |
Pflegestufe 1 | x | Pflegegrad 3 |
Pflegestufe 2 | Pflegegrad 3 | |
Pflegestufe 2 | x | Pflegegrad 4 |
Pflegestufe 3 | Pflegegrad 4 | |
Pflegestufe 3 | x | Pflegegrad 5 |
Härtefall | Pflegegrad 5 |
Der Pflegegrad 1 wird in der Regel nur bei Neubegutachtungen vergeben, da er im alten System mit seinen Voraussetzungen so nicht vorgesehen war.
Pflegegrad | Pflegegeld bei häuslicher Pflege durch z.B. Angehörige | Pflegegeld bei Pflegesachleistungen z.B. durch einen ambulanten Dienst | Pflegegeld bei vollstationärer Pflege |
1 | 0 € | 0 € | 125 € |
2 | 316 € | 689 € | 770 € |
3 | 545 € | 1298 € | 1262 € |
4 | 728 € | 1612 € | 1775 € |
5 | 901 € | 1995 € | 2005 € |
Wer noch keiner Pflegestufe zugeordnet ist und einen Pflegegrad beantragen möchte, kann dies formlos per Telefon, Email oder Brief bei seiner Krankenkasse beantragen. Manche Krankenkassen bieten dafür auch ein Formular an.
Ein schriftlicher Antrag ist sinnvoll, da nach Bewilligung eines Pflegegrades die Leistungen rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Antragstellung gewährt werden. Ein Beleg dafür ist schriftlich am besten möglich.
Der Antragstellende ist immer der Pflegebedürftige (oder sein gesetzlicher Vertreter), nicht der Pflegende.
Kurzzeitpflege
Kurzzeitpflege kann von Pflegebedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5 für 4 Wochen pro Kalenderjahr in Anspruch genommen werden. Dabei wird das Pflegegeld zur Hälfte weiter ausgezahlt.
Die Leistungshöhe der Kurzzeitpflege beträgt auch 2017 weiterhin Euro 1612,–/Jahr. Es ist möglich, diesen Betrag durch Gelder, die in der Verhinderungspflege nicht genutzt wurden, aufzustocken.
Verhinderungspflege
Die Verhinderungspflege steht weiterhin in Höhe von Euro 1612,–/Jahr zur Verfügung, sofern die Pflege bereits seit 6 Monaten geleistet wird, und kann über einen entsprechenden Leistungsanbieter, aber auch privat mit der Pflegekasse abgerechnet werden. Die Inanspruchnahme ist z.B. stundenweise möglich, wenn die sonst pflegende Person private oder berufliche Termine hat. Der Grund muss bei der Abrechnung nicht angegeben werden, die pflegende Person muss sich für die Inanspruchnahme nicht rechtfertigen.
Wenn das Budget Ende des Jahres nicht oder nicht vollständig verwendet wurde, verfällt der Rest.
Einheitlicher Entlastungsbetrag (früher Zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen)
Bei häuslicher Pflege wird zusätzlich zum Pflegegeld ein Entlastungsbetrag von Euro 125,– pro Monat gezahlt (§ 45b SGB XI). Dieser Betrag wird ab 2017 einheitlich für jeden Pflegegrad gezahlt und muss bei der Pflegekasse beantragt werden.
Nur beim Pflegegrad 1 kann der Betrag für Sachleistungen durch den Pflegedienst eingesetzt werden. Ansonsten ist das Budget vorgesehen für
- Leistungen der Tages- und Nachtpflege
- Leistungen der Kurzzeitpflege
- Leistungen der ambulanten Pflegedienste, aber nicht für körperbezogene Pflegemaßnahmen
- Leistungen der nach Landesrecht anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag im Sinne des § 45a SGB XI
Mit dem Entlastungsbetrag können die Leistungen bei teilstationärer Pflege aufgestockt werden. Damit soll sich die Qualität dieser Pflegeleistung verbessern.
Wenn der Entlastungsbetrag für Kurzzeitpflege verwendet wird, wird das Pflegegeld während dieser Zeit nicht gekürzt.
Die Inanspruchnahme kann nur über die Dienste von dafür registrierten Stellen erfolgen.
Wenn das Budget im Kalenderjahr nicht ausgeschöpft wird, kann es bis Ende Juni des Folgejahres noch nachträglich genutzt werden.
Wichtig: Wenn Ihr Anspruch auf Entlastungsleistungen (ehem. zusätzliche Betreuungsleistungen) habt, fordert unbedingt eine Auflistung der Restguthaben der Jahre 2015, 2016 und 2017 bei Eurer Krankenkasse an.
Die Restguthaben aus 2015 und 2016 verfallen am 31.12.18, das Restguthaben aus 2017 bereits am 30.06.2018. Also erst das Restguthaben von 2017 bei Abrechnungen aufbrauchen und dann erst die Restguthaben aus 2015 und 2016, wenn Ihr die Budgets optimal ausnutzen möchtet.
Alle Angaben ohne Gewähr.
Quellen und weiterführende Links: