Angela erzählt über das Leben mit ihrer autistischen Tochter und über positive Erfahrungen im Bereich des betreuten Wohnens. Insgesamt ein berührendes Interview über einen besonderen Lebensweg von Mutter und Tochter.
Liebe Angela, Du hast eine autistische Tochter. Wie alt ist sie, welche Diagnose hat sie?
Vorab vielen Dank, dass ich überhaupt hierher eingeladen wurde, um etwas über meine Erfahrungen schreiben zu dürfen.
Sehr gerne :-)
Meine Tochter Inga-Marie ist 22 Jahre alt, besucht eine Förderbereichsgruppe der Stephanus Werkstätten und wohnt in der Wohnstätte Rahnsdorf. Ich selbst bin 54 Jahre alt, Erzieherin und alleinerziehend. Unser Zuhause liegt im schönen Südosten Berlins.
Schon im Kleinkindalter wurde bei ihr „Frühkindlicher Autismus “ diagnostiziert. Später wurde dies noch durch „eine mittelgradige geistige Behinderg“ ergänzt.
Wie wirkt sich Ingas Autismus in Eurem Alltag aus?
Inga war in ihrem ersten Lebensjahr ein sehr ruhiges Kind. Sie schlief nachts schnell durch und auch tagsüber ging es eher ruhig bei uns zu.
Angeschaut hat sie mich als Baby eher selten. Auffällig war ihr fehlender Antrieb, sich zu bewegen. Ihr halfen mehrere Physiotherapie-Einheiten, aber auch in der Feinmotorik gab es Probleme, ebenso später beim Laufenlernen. Dies konnte sie erst mit knapp achtzehn Monaten.
Mit knapp zwei Jahren wurde eine Sehschwäche festgestellt und Inga musste fortan eine Brille tragen. Sprechen konnte sie relativ schnell, allerdings mit eigener Stimm- und Sprachmelodik.
Auch das Spielverhalten war besonders, eben anders als ich es als Erzieherin von Kindern in diesem Alter bisher kannte. Dieses „in Reihe stellen“ und nie wirklich bei einer Sache bleiben kannte ich so nicht.
Spielzeug mit Geräuschen war für sie mit das Größte. Einzelheiten, die für uns völlig unwichtig waren, waren für sie immens wichtig. Was sie von Anfang an mochte, war Bücher anschauen bzw. Vorlesen und Musik hören.
Fasziniert hat uns schon damals ihre Merkfähigkeit von Buchtexten bzw. Liedern, welche sie ein bis zwei Mal gehört hatte und dann komplett richtig wiedergeben konnte.
Im Widerspruch dazu stand die große Mühe, etwas wie z.B. das selbständige Essen zu lernen.
Inga fällt es bis heute schwer, über sich in der Ich-Form zu sprechen. Sie sprach von Anfang an immer von „Du“ bzw. „Inga“. Mit Übungen und der weiteren Entwicklung hat es sich allerdings gebessert.
Was für uns als Familie schwer zu verkraften war, waren ihre immer wieder auftretenden Fremd- und Autoaggressionen. Schwierig waren außerdem ihre Unruhe und ihre Ängste. Laute Knallgeräusche, Luftballons und Silvester sind für sie bis heute schlecht zu ertragen.
Damals sah ich sie eher als typisches ADHS-Kind, noch nicht ahnend, dass das mit zu ihrem Autismus dazu gehört.
Auch sogenannte Tics, wie das seltsame Verdrehen und Wedeln der Finger und Hände vor dem Gesicht, dieses Angespanntsein bis in die Stimme, ein gewisser „Ordnungssinn“, das nicht Akzeptieren können von Veränderungen und dadurch die regelmäßigen Ausraster gehörten von Anfang an zu Ingas Entwicklung dazu.
Trotzdem leben wir nicht im „Glaskasten“, sondern fahren genauso wie andere Familien in den Urlaub, unternehmen viele schöne Dinge, feiern Geburtstage und besuchen viele Veranstaltungen. Bei solchen Sachen kann Inga Lautstärke und Geräusche gut kompensieren bzw ausblenden.
Welche Stärken hat Inga? Was ist besonders liebenswert?
Inga ist eigentlich von Baby an ein ziemlich fröhliches Kind! Einmal sagte ein anderer Jugendlicher über sie: „Das ist das Mädchen, was immer lacht, wenn ich sie sehe!“ :-)
Eine andere Seite zeigt sie, wenn sie Angst hat und dadurch aggressiv und unruhig wird. Diese Reaktionen können andere Bekannte nicht glauben, wenn ich davon erzähle. Hinzu kommt ein ausgeprägter Wille, was sie nicht will, macht sie nicht – schon gar nicht, wenn es jemand mit Gewalt und Druck erzwingen will.
Was wir beide bis heute sehr genießen, ist der Körperkontakt, was angeblich so gar nicht zum Autismus passt.
Wie kommt Inga mit anderen Menschen zurecht?
Inga hat auch ein Gespür für Menschen, die es ehrlich gut mit ihr meinen und sie so nehmen, wie sie ist. Diese hat sie in ihr Herz geschlossen und vereinnahmt sie zu hundert Prozent und erdrückt sie fast mit ihrer Zuneigung. Diese fehlende Distanz bringt ihr desöfteren Ärger ein.
Abweisen oder sich ungerecht behandelt fühlen oder falsche gespielte Freundlichkeit spürt Inga und zeigt dann ihrerseits meist Verachtung bzw. Nichtachtung und keinerlei Akzeptanz dieser Person.
In der Pubertät verbesserte sich das Empathieempfinden. Sie kann gut erkennen, wie ich mich fühle und äußert auch ihre eigene Empfindung bzw. Gefuhlslage.
Wie ging es Inga in der Schule? Welche Erinnerungen verbindest Du mit der Schulzeit?
Die Schulzeit habe ich mit gemischten Gefühlen erlebt.
Die ersten Jahre in einer Förderschule verliefen gut. Sie hatte ein Dreierteam, welches liebevoll und konsequent ihr wertschätzend vieles beibrachte, was für ihr weiteres Leben wichtig ist.
Mit der Pubertät kam leider auch der Klassen- und Lehrerwechsel und da begann eine sehr schwierige Phase für Inga und für mich. Sie wurde nicht mehr gleichberechtigt behandelt, sondern man ließ sie spüren, dass sie vieles nicht kann und schwächer ist als ihre Mitschüler. Das setzte vieles Geliebte und gut Gekonntes „außer Kraft „.
Hinzu kam die Pubertät selbst und auch familiäre Veränderungen. Ingas Aggressionen nahmen zu, erst in der Schule dann leider auch zuhause.
Ich suchte mir Hilfe in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz und mit Hilfe der Ärzte wurde Inga auf ein Medikament eingestellt, welches sie bis heute noch nimmt. Es nimmt ihr Ängste, macht sie zugänglicher für Anforderungen von außen und lässt sie wieder ruhiger durch den Tag kommen.
Da sich die Schulsituation für Inga und mich ziemlich konfliktreich gestaltete, wechselten wir an die Schule nach Fürstenwalde. Dort lebte Inga wieder auf und lernte in einem tollen Lehrerteam sehr viel Neues und Wichtiges dazu. Sie war wieder ausgeglichen, fröhlich und entspannter.
Schwierig war allerdings auch hier, wenn Personen oder Abläufe sich spontan änderten. Ruhe und weniger Menschen in der Essenssituation waren für Inga sehr wichtig, jedoch nicht immer aufgrund der Personalsituation umsetzbar.
Ich habe in der Zeit von Fürstenwalde ziemlich viel über Autismus dazu gelernt und neue Sichtweisen bekommen. Autismus-Fachtage dort waren für uns Eltern immer ein großes, interessantes Highlight.
Wo lebt Inga jetzt? Was klappt dort gut, was nicht so gut?
Seit über zwei Jahren wohnt Inga jetzt schon wieder in Berlin.
Wir haben uns einige Monate vorher auf Anraten einer guten Bekannten die Berliner Stadtmission in Rahnsdorf angeschaut und das traditionelle, offene Weihnachtscafe besucht. Inga fühlte sich sofort wohl und sang nach einer Weile zur Klaviermusik eines jungen Mannes. Später erfuhr ich, dass er fast blind ist und nach Gefühl und Gehör spielt. Faszinierend!
Im Wohnbereich gibt es drei Wohngruppen mit je acht bis neun Bewohnern aller Altersgruppen und Behinderungen. Es ist eine sehr harmonische, ruhige Atmosphäre im Haus, welche durch einen Haushund belebt wird. Er ist in jeder Gruppe willkommen.
Im ABFB (Angebot zur Beschäftigung, Förderung und Betreuung) werden viele Bewohner von mehreren ansässigen Therapeuten betreut. Töpferarbeiten, Musik, Kochen und Bewegung sowie andere Tätigkeiten werden gefördert und erhalten.
Wie sieht dort ein typischer Tag für Inga aus?
Der Tag ist abwechslungsreich. Jeder Tag fängt mit einer morgendlichen Andacht an und danach erfährt jeder Bewohner, wie sein Tag weitergeht.
Jede Gruppe hat aber ihren eigenen Charakter.
Jeder Bewohner hat ein eigenes Reich und teilt sich nur das Bad mit dem Nachbarzimmer. Wie er sein Zimmer gestaltet, ist individuell. Ingas Zimmer ist lila-weiß, ihre Lieblingsfarben.
Ein großer Garten und ein schöner gemütlicher
Andachts-Geburtstags-Teamsitzungsraum komplettiert das Ganze. Im Garten gibt es viele kleine Rückzugsorte und auch ein kleines Wachtelgehege.
Im Haus herrscht eine sehr liebevolle, familiäre Atmosphäre, in der man die Akzeptanz jedes einzelnen Bewohners durch die Betreuer und Therapeuten spüren kann.
Wie ging es Dir damit, dass Inga ausgezogen ist?
Ich war hin und her gerissen, als die Entscheidung des Auszugs von Inga ins Schulinternat feststand. Mein Kopf sagte: „Das ist richtig so! Du hast nur dieses eine Leben und gehst kaputt, wenn das so weitergeht.“ Mein Herz sagte aber: „Warum gibst du sie weg? Sie ist doch noch ein Kind und braucht deine Wärme und Nähe und ihre Familie. Es ging doch bis jetzt.“
Die geschenkte freie Zeit konnte ich ziemlich lange nicht für mich annehmen. Erst nach etwa einem Dreivierteljahr war ich soweit, dass ich begann, diese Freizeit für mich und meine Gesundheit zu nutzen. Ich besuche seitdem eine Lungensportgruppe, gehe in die Salzgrotte und versuche im Behindertenbeirat bzw. im Vorstand von „Eltern helfen Eltern“ etwas von meinen Erfahrungen und meinem Wissen an andere Familien weiterzugeben.
Der Schritt vom Internat ins „Erwachsenenwohnen“ nach Rahnsdorf war gefühlsmäßig anders. Das hatte Inga ja selbst für sich ausgesucht und mein Bauchgefühl sagte mir, dass es richtig und gut dort ist. Ich fahre sehr glücklich hin und hole sie fast jedes Wochenende nach Hause und Sonntag Abend fahren wir fröhlich wieder hin.
Aber immer, wenn ich dort vom Hof der Wohnstätte fahre und Inga mir aus dem Fenster nachschaut, ist es mir schwer ums Herz. Obwohl ich weiß, dass es richtig so ist und sie ihren Weg auch nun gehen muss und wird, aber ich bin ihre Mama und sie mein Kind und das wird auch so bleiben. ♥
Ist Dir sonst noch etwas wichtig zu sagen?
Ich habe mich viel belesen und weitergebildet, um Inga noch besser verstehen zu können. Dafür eignen sich Autismuskongresse und Fachtage sehr gut.
Ich für mich fand es sehr wichtig, ein Netz um uns herum aufzubauen, welches mich und Inga auffängt. Es gibt uns Hilfe, Kraft und Energie, Stärke und Zuversicht und das Gefühl, nicht alleine zu sein.
„Eltern helfen Eltern“ und auch unser Behindertensportverein sind eine große tolle Familie für uns, die Hilfe und Unterstützung geben. Ich kann so ein Netz allen nur empfehlen.
Herzlichen Dank, liebe Angela, für diesen tiefen Einblick in Euer Leben. Ich bin sicher, dass sich viele mit Kindern, die einen hohen Unterstützungsbedarf haben, in Deinen Schilderungen wiederfinden werden.
Alles Gute für Dich und Inga ♥
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Ich bin auch Lehrerin in einer Förderschule und habe mit autistischen Kindern gearbeitet. Ich finde diesen Beitrag sehr gut, da er wirklich alles wieder gibt, was ein besonderes Kind braucht. Meine Arbeit und Erfahrungen habe auch ich durch Fachtagungen, Kontakten mit betroffenen Eltern sammeln können. Besonders ein intensiver Kontakt zu einer Schülerin nebst Eltern, hat mich auch in meiner Entwicklung sowie denkweisen sehr geformt. Vielen Dank möchte ich hier einmal an L. Und K. Sagen.
Liebe Angela,beim Lesen deines Briefes rollten mir die Tränen übers Gesicht,denn ich dachte du schreibst über mein Kind. Mir geht es ähnlich. Bitte könntest du mir schreiben,was für ein Medikament deine Tochter bekommt? Meine Tochter bekommt noch nichts,aber die Wutanfälle machen mir sehr zu schaffen. LG.Simone
Liebe Angela
Auch ich habe meine Tochter in fribem Bericht wieder erkannt .
Vielen Dank
Petra
Liebe Angela,wie kann ich Kontakt zu dir aufnehmen?Wir stecken mitten in diesem Prozess und ich weiss manchmal nicht,wie ich das verkraften soll.LG Monika Zwosta
Unser Sohn ist in einer antroposophischen Einrichtung, aber wir möchten ihn bis in einem Jahr in einer Erwachseneneinrichtung in der Nähe unterbringen. Da er intensiv Betreuung braucht, aber auch zwischendurch was arbeiten kann, haben wir leider das Problem, dass diese Intensivplätze sehr rar sind. Überall wird man nur auf Wartelisten gesetzt. Unser Landratsamt kriegt den A….. auch nicht hoch und wir werden mit unseren Problemen alleine gelassen. In unserem Landkreis gibt es auch leider keine Belegplätze für solche Einrichtungen, wir sind zwar dran dass sich was ändert, aber das dauert. Unser Sohn und andere können ja warten……. Das ist sehr schade, denn diese besonderen Menschen gebührt Achtung. Was kann man machen?? Vielleicht hat jemand ähnliches schon miterlebt, oder erlebt es gerade jetzt.
Auch meine 13jährige Tochter ist sehr ähnlich, kann aber ihre Bedürfnisse nur sehr schwer verständlich machen. Meine größte Angst vor diesem Schritt, der uns in einigen Jahren auch bevorstehen wird ist die, dass die Betreuung nicht entsprechend funktioniert und sie mir das gar nicht sagen kann ?.
Liebe Angela, herzlichsten Dank für diesen Einblick in euer Leben. Das klingt alles so unwahrscheinlich ähnlich nach unserem Sohn… bei ihm wurde vergangenes Jahr ein Gendefekt festgestellt welcher sehr ähnliche Symptome mit sich bringt… fühle dich unbekannter Weise umarmt. Liebe Grüße! Sandra
Wir waren sehr verblüfft über diesen Bericht, da man ihn fast 1:1 auf unsere 14-jährige Tochter übertragen könnte. Wir würden gern wissen, ob man mit Angela irgendwie in Kontakt treten kann, um Informationen auszutauschen. Danke und viele Grüße!