„Wenn Dein Kind autistisch ist, ist es meins erst recht.“

veröffentlicht im Juli 2017


Neulich erreichte mich die Zuschrift einer Mutter: „Mich kotzt es im Moment an, dass jeder aus unserem Bekanntenkreis nun meint, sein Kind habe auch Autismus. Es nervt einfach. Diese Kinder sind mir bekannt und sie sind alles andere als Autisten.“

Das ist nicht die erste Wortmeldung in dieser Art und auch ich selbst bekomme immer mal wieder zu hören: „Ach, das ist bei uns auch so.“ Oder: „Ich will ja nicht vergleichen, aber bei meinem ist das ähnlich. Vielleicht ist er auch Autist.“

Dieses Reizthema ist unter Eltern autistischer Kinder ein Dauerbrenner und daher hatte ich bereits im Vorfeld zur Entstehung meines Buches bei Eltern nachgefragt, welche Erfahrungen sie dazu gemacht haben. Anschließend schrieb ich ein extra Kapitel dazu, das ich im Folgenden in Auszügen online zur Verfügung stelle.

***

©Auszug aus „Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst“:

Nach der Auswertung der Fragebögen zu urteilen, bringt dieser Ausspruch die meisten Eltern extrem hoch auf die sprichwörtliche Palme (rw).
Ich lese viele heftige Reaktionen dazu. Eltern autistischer Kinder reagieren auf diese Worte wütend und „je nach Tagesform manchmal genervt, manchmal frustriert, manchmal resigniert.“

Die große Mehrheit fühlt sich nicht ernst genommen und hat das Gefühl, dass ihre Probleme bagatellisiert werden: „Ich fühle mich dann total missverstanden und abgewiegelt, nicht ernst genommen, schlecht…“ […]

In Gesprächen mit Eltern nicht-autistischer Kinder kommt es immer wieder vor, dass Entwicklungsverzögerungen oder Besonderheiten in der Wahrnehmung mit den Worten abgewiegelt werden: „Ach, das macht meiner doch auch manchmal. Das hat nichts zu bedeuten.“
Wenn man bedenkt, welchen langen Weg viele Familien hinter sich haben, bis sie eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum erhalten, klingt es in deren Ohren wie Hohn. „Das macht mich unendlich wütend – und ich breche solche Gespräche inzwischen ab, sage auch, dass es eben nicht so ist bei ihnen.“

Eine andere Mutter reagiert dann manchmal, indem sie zurückfragt: „Wann hattest du zum letzten Mal kalten Kaffee, kein Essen, keinen Schlaf über Jahre?“ Außerdem benutzt sie bei ihren Ausführungen extra Fachbegriffe, die keiner versteht. „Es bereitet mir Genugtuung, wenn ich diesen Besserwissern demonstrieren kann, wie wenig Ahnung sie eigentlich haben“, meint eine weitere Mutter dazu.

Die meisten Eltern autistischer Kinder würden es vorziehen, dass Menschen, die sich mit dem Thema Autismus nicht befasst haben, solche Vergleiche unterlassen. „Einfach mal die Klappe halten, wenn man keine Ahnung hat“, schreibt ein Vater.
Viele äußern, mit Leuten, die etwas in dieser Art sagen, danach nichts mehr zu tun haben zu wollen, da diese „einfach nichts, gar nichts, überhaupt nichts verstanden haben“.

Eltern fühlen sich manchmal zwar auch wie mit Samthandschuhen angefasst, aber nicht weil man Verständnis für ihre Lebenssituation hätte, sondern weil sie offenbar selbst für nicht ganz zurechnungsfähig gehalten werden: „Mir wird manchmal das Gefühl vermittelt, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank habe (rw) und dass ich mein Kind unnötig pathologisieren würde. Als ob uns das alles Spaß machen würde!“

Als besonders verletzend werden Situationen beschrieben, in denen Freunde, die eigentlich gut Bescheid wissen müssten, äußern: „Ich weiß, man kann das nicht vergleichen und ich will es auch gar nicht vergleichen, aber trotzdem ist bei uns ‚das‘ auch irgendwie so.“
Die überwältigende Mehrheit an Antworten greift solche Szenen auf. Eltern finden es frustrierend, verletzend und desillusionierend, da erneute Aufklärung zwecklos zu sein scheint.

Es gibt einige Wortmeldungen von Eltern, die das etwas gelassener sehen: Ich kann es verstehen, aber ich nehme das oft nicht ernst, weil diese Eltern nicht wissen können, wie das Leben mit einem autistischen Kind ist.“
Oder: Viele Dinge sind sicher ähnlich, aber eben nur ähnlich. Ist mir klar, macht mir nichts aus. Ich weiß, dass es so ist.“

Jeder hat Probleme und jeder darf diese natürlich äußern. Manche gehen mit solchen Vergleichen daher entspannt um: „Inzwischen kann ich über diese Sätze innerlich nur noch lachen und ignoriere es nach außen. Selten kommt es vor, dass ich mit anderen Eltern tatsächlich darüber diskutiere und auch mal deutlicher in meiner Argumentation werden muss.“
Und ein paar sehen es sogar positiv: „Es ist befriedigend zu wissen, dass sie die gleichen Baustellen an einigen Punkten haben wie wir mit unseren Kindern.“

Man müsste sicherlich jede einzelne Situation für sich betrachten, um beurteilen zu können, ob der Spruch angebracht ist oder nicht. […] „Es gibt Situationen oder Verhalten von Kindern, das auch bei ‚normalen’ Kindern vorkommen kann und dann finde ich es vollkommen in Ordnung, wenn es heißt ‚Das kenne ich auch’. Wenn die Situation mit dem ‚normalen’ Kind aber weit weniger intensiv ist, finde ich solche Aussagen unverschämt.“

***

Das war ein Auszug des Kapitels, der aber schon recht gut zeigt, dass es ein sensibles Thema ist, das sich bei den meisten stetig durchzieht. Manche gehen mit der Zeit gelassener damit um, wenn sie mit solchen Vergleichen konfrontiert werden. Für andere bleibt es ein „rotes Tuch“ (rw).

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  1. Ein Gespräch mit meiner Nachbarin gestern kurz im Hof gehabt . Sie kam erledigt von der Arbeit heim . Wünschte uns einen schönen Abend . Ich sagte Danke , ich gehe ja erst am Abend in die Arbeit . Sie darauf , ja das sind ja nur ein paar Stunden , ich habe ja einen acht Stunden Tag . Der Unterschied ist der , sie kommt heim und kann sich auf ihr Sofa legen . Ich stehe den ganzen Tag parat . Schlafe nie durch und gehe jeden Abend arbeiten . Das ist mehr das ein acht Stunden Tag und ich kann es mir nicht auf dem Sofa bequem machen , wenn mir danach ist . Und mein Kind hat zur Zeit auch keine Kita . Er ist frühkindlicher Autist, fünfeinhalb Jahre alt .

  2. Oh ja diese Situation kennen auch wir so gut…lange habe ich aufklären wollen. Heute mach ich mir einen Spass draus und antworte immer das ich es total super finde das endlich jemand Verständnis hat und Schläge dann vor das man sich die Kinder am Wochenende ja mal gegenseitig abnehmen könne über Nacht das jeder mal genug Schlaf bekommt…die Gesichter sind Gold wert und das Thema erledigt?

  3. Ich hatte gestern ein Gespräch in der Autismusambulanz. Mein Sohn ist eigentlich diagnostiziert. Auch ein humangenetischer Befund bestätigt die Diagnose . Es liegt eine Deletion am Chromosom 16p13.3 vor, bei welcher Störungen im Autismusspektrum bekannt sind. Zudem ist er im ausserhäuslichen Bereich nonverbal. Auch dieser wird unter dem Befund beschrieben. Trotzdem stellt der Kinderpsychiater die Diagnose in Frage und sagte mir, die Kinder wären zu emphatisch , um ins Spektrum zu passen. Als ich von meinem älteren Sohn erzählte, der eine Hochbegabung hat und meines Erachtens auch im Spektrum ist, dass er mit zwei Jahren bereits Erika auswendig gelernt habe, sagte er , sein Sohn habe auch den Text von Kinderbüchern gekannt … Es zerrt an der Substanz , sich mit vorherrschenden Meinungen und veralteten Theorien auseinanderzusetzen :(

    1. Ja, das kenne ich. Wenn der Sachverhalt von Laien bagatellisiert wird, dann finde ich das irgendwie noch verständlich. Aber unser Kinderpsychiater will auch nicht mehr als eine Verdachtsdiagnose zu atypischen Autismus geben. Auch wenn die Autismus ambulanz findet, dass er der klassische Autist ist. Auf nachfrage, warum der Junge denn ATYPISCH sein soll, antwortete er, er hat nicht ALLE Ausprägungen, die bei Autisten vorkommen. Was soll ich dazu noch sagen.

  4. Ich glaube auch, dass dies etwas ist, was ALLE Eltern schon einmal zu hören bekommen haben, so auch wir.
    Es heißt dann“Ist vielleicht nicht vergleichbar, aber … war auch immer“ oder “ hat das auch immer gemacht“
    Ganz toll ist auch:“ das hat aber jetzt auch nicht unbedingt was mit Autismus zu tun, das machen andere Kinder auch“
    Klar, das stimmt ja auch vielleicht , aber bestimmt nicht in dieser Intensität bzw. in Summe mit vielen anderen Dingen die dann eben die autistischen Symptomen ausmachen.
    Man kommt dann oftmals in eine Situation wo man nicht immer weiß adäquat zu reagieren. Ich persönlich mag es z.b.nicht, immer heraus zu stellen dass wir in einer besonderen Situation sind oder mag auch nicht grundsätzlich abstreiten, dass manches durchaus „normal “ ist. Nicht alles ist immer auf den Autismus „zu schieben“ genauso wenig wie immer ADHS Erklärung für jedes Verhalten ist. Jedoch stelle ich fest, dass Leute die so von sich selbst anfangen, oftmals nicht wissen wie sie sonst reagieren sollen. D.h. Vielleicht möchten sie so die ganze Situation „herunterspielen“ damit man sich nicht so alleine oder außergewöhnlich fühlt. Einfach nur ein „das muss echt schwierig sein “ oder ähnliches bekommt eben kaum einer über die Lippen.
    Das ist bestimmt oft einfach gedankenlos. Was halt nicht heißt dass man immer gleich gut mit umgehen kann. Manchmal würde man halt tatsächlich einfach auch mal sagen“nee, du weißt überhaupt nichts“…

  5. Das erinnert mich aber an etwas ganz Anderes. Als diagnostizierter Asperger-Autist im Seniorenalter fallen mir immer mehr die Verhaltensweisen der (nicht-autistischen) „Gesellschaft“ auf, und ein sehr starkes Verhaltensmuster ist, verbal Gemeinsamkeiten herzustellen. Bsp. jemand Neues zieht in der Nachbarschaft zu und lässt dich alsbald wissen, ja, auch seinem Garten setzt das trockene Wetter zu, und stimmt, auch ihm kommt das Berufsleben immer hektischer vor, und klar, wir sind doch wohl alle der Meinung, Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Straßen sind reine Behördenwillkür.
    Vermutlich ist das ein einprogrammierter Mechanismus, um alle Möglichkeiten des Zusammenschlusses zu Kleingruppen auszutesten.

    Was, wenn das, was Dich in Deinem Artikel nervt, einfach ein ähnlicher Vorgang ist: „Ja, wir haben etwas gemeinsam, lass‘ uns zusammen gegen die bösen Fremden/Behörden/Lehrer/ (…) kämpfen“. Und zwar natürlich von strunzblöden Leuten, die sich durch äusserstes Unwissen und geistige Inkompetenz keineswegs gehindert sehen, eine komplizierte und vielschichtige, bei jedem Betroffenen sich anders äussernde Entwicklungsstörung, mit der sie sich natürlich auch nicht im Geringsten über das Lesen der Bild-Zeitung hinaus befasst haben, überall zu diagnostizieren.

    1. Das dachte ich grade auch. Es ist eine Art, sich zu solidarisieren. Sich zu einer Gruppe zusammen zu schließen.

  6. Hallo zusammen,
    Ich habe eine sehr gute Freundin deren Sohn ist Autist. Ich selbst habe mit ihm als Erzieherin in der Kita gearbeitet und ich kenne ihn seit seiner Geburt.
    Wir haben oft darüber gesprochen, dass es manchmal schwierig ist zu unterscheiden, ob gerade das Kleinkind mit typischen Verhaltensmustern durchkommt oder ob es autistische Verhaltensweisen sind. In diesem Zusammenhang haben wir oft mit meinem Sohn verglichen (er ist nur 3 Monate jünger). Und da habe ich auch schon den Satz gesagt…bei meinem ist das auch so. Aber da ging es mir keineswegs darum den Autismus zu bagatellisieren. Ich bekomme sehr nah mit, mit welchen Schwierigkeiten man zu kämpfen hat und wie blöd manch Außenstehender reagiert. Ich sehe wie intensiv und aufreibend die Betreuung ist, welche Sorgen man hat bei Kita- und Schulsuche und auch bei vermeintlich simplen Dingen wie Ernährung und Arztbesuchen.
    Ich will damit nur sagen, dass dieser Satz nicht abwertend gemeint ist, wenn ich ihn verwende. Und es ist ein Versuch zu verstehen. Ich bin z.B. gar nicht auf die Idee gekommen, dass er schräg angekommen sein könnte. Werde mich aber heute noch erkundigen, wie meine Freundin es empfunden hat.
    Liebe Grüße Maria

  7. Mir ist es auch schon oft so gegangen und ich habe mich meistens auch geärgert. Aber ich denke, dass das Gegenüber einfach gerne die Sorgen nehmen möchte und so die geschilderte Situation zu verharmlosen versucht – ohne böse Hintergedanken.

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