Über Abendrituale, Kuhdecken und Melatonin – Autismus und Schlafen

veröffentlicht im Februar 2023


Struktur und Rituale sind für unsere autistischen Kinder enorm wichtig. Das reicht von Morgenritualen über den genauen Ablauf, wie man eine Tasche packt, oder wie man das Essen auf dem Teller sortiert bis hin zum Abendritual.

Wie es bei uns war

In den ersten vier Jahren gab es eigentlich keinen geregelten Ablauf, weil Niklas nicht schlief. Natürlich schlief er irgendwann ein, aber eher aus Verzweiflung und Erschöpfung.
Von Geburt an gab es weder Mittagsschlaf noch andere geregelte Schlafzeiten, weil er einfach nicht einschlafen konnte. Erst aus äußerster Erschöpfung schloss der Heldentiger irgendwann die Augen, weil sein Körper sich doch mal erholen musste. Aber niemals, weil er aus einer normalen Müdigkeit heraus einschlummerte.

Als Niklas vier Jahre alt war, brachte uns eine Ärztin auf die Idee, es mit Melatonin zu versuchen. Ich habe im Beitrag „Schlaf, Kindlein, schlaf – Autismus und Melatonin“ bereits ausführlich darüber geschrieben, dass manchen Menschen das Schlafhormon Melatonin fehlt und sie deshalb den Übergang vom Wachsein zum Schlafen einfach nicht schaffen – bei Autisten ist das gar nicht so selten. Schön, dass uns das mal einer nach vier Jahren sagte!
Ich mache glücklicherweise die Erfahrung, dass Eltern inzwischen viel besser über Melatonin (auch Circadin oder Slenyto = Melatonin in retardierter Form) Bescheid wissen – es sind ja auch schon mehr als 15 Jahre vergangen, seit wir darauf hingewiesen wurden.

Ab da veränderte sich unser Leben. Niklas bekam abends sein Melatonin und konnte zufrieden einschlafen. Wir Eltern hatten plötzlich planbare, freie Abendstunden. Das bedeutete freilich nicht, dass er durchschlief, aber immerhin konnte er einschlafen und es war etwas mehr wohltuende Struktur vorhanden.

Unsere Abendrituale veränderten sich im Laufe der Jahre.

Im Kleinkindalter liebte Niklas es, als Ausklang des Tages Kinderserien im Fernsehen anzuschauen. Die Filme, die ich selbst schon als Kind gesehen hatte – Wicky, Heidi, Niels Holgersson… – das war eine schöne Zeit und auch dadurch geprägt, dass seine große Schwester mitschaute.
Damals war es auch noch möglich, dass wir gemeinsam an einem Tisch aßen und uns über den Tag unterhielten. Mit fünf Jahren begann Niklas zu gebärden und beteiligte sich dann auch zunehmend an unseren Unterhaltungen, was immer recht schön war.

In diesem Alter hatte er auch ein Pflegebett , in dem er sich sehr wohlfühlte. So kehrte abends durch die Kombination aus Melatonin und Pflegebett eine Zeit lang Ruhe ein. Die nächtlichen Unterbrechungen blieben jedoch.

Als Niklas etwas älter wurde, nahmen auch seine Empfindlichkeiten gegenüber akustischen Reizen immer mehr zu. Er konnte es nicht mehr gut ertragen, mit uns an einem Tisch zu essen, die Klappergeräusche des Geschirrs und die Kaugeräusche waren zu viel für ihn.
So war das gemeinsame Abendessen nicht mehr möglich. Auch der Fernseher blieb aus, da dieser zu unberechenbar war. Die Effekte machten ihm Angst, er wusste nicht, was im nächsten Moment passieren würde. Viele Geräusche schmerzten ihn im Ohr.
Schwierig war es in dieser Zeit, beiden Kindern gerecht zu werden, weil jedes andere Bedürfnisse hatte. Wir Eltern teilten uns auf und versuchten, wo immer es ging, ein Miteinander zu ermöglichen.

Für Niklas war es wichtig, den Tag noch „durchzugebärden“. Bevor er einschlief, besprachen wir im Bett, was am Tag so los war, was doof, was schön war und überlegten, was morgen passieren wird. Das forderte er immer ein. Ob man dabei auf seinem Bett oder daneben und mit welchem Abstand sitzen sollte bzw. durfte, variierte jeden Abend. Sein Bedürfnis nach Nähe oder Distanz war immer verschieden und hing sehr vom Stresslevel des vergangenen Tages ab.

Schlafen im Erwachsenenalter mit „Männerbett“

Inzwischen ist er ein junger Mann von 23 Jahren, braucht immer noch Hilfe, was auch das Abendritual angeht. Ausziehen, waschen, Zähne putzen übernehmen wir, weil er es alleine nicht kann. Wir essen wegen der Geräuschempfindlichkeit auch aktuell meistens getrennt, wobei es auch immer häufiger gemeinsam klappt, und begleiten Niklas dann in sein Bett. Auch heute noch gebärdet er vor dem Schlafen darüber, was den Tag über geschehen war und es ist spannend, auf diese Weise zu erfahren, was ihn beschäftigt. Meistens ist er ziemlich gut gelaunt vor dem Schlafen, kichert und lacht in seinem Bett herum oder macht noch ein paar Sportübungen in seinem Zimmer, bevor er sich in sein Bett legt. Das ist im Vergleich zu früher viel besser geworden und macht jungen Eltern unter euch vielleicht Mut.

Zum Einschlafen braucht er nach wie vor Melatonin. Manchmal kommt es zu unfreiwilligen Tests, weil Niklas` Papa denkt, dass ich das Melatonin gegeben habe und umgekehrt, dann wundern wir uns, dass er nicht einschläft und wieder mal wird klar, dass er das Melatonin nach wie vor braucht.

Zeitweise hatte er nach der Pflegebett-Zeit nur noch eine Matratze. Ein richtiges Bett wollte er nicht haben, das sollten wir abbauen. Er gebärdetete mal, dass er es doof findet, dass man daran klopfen kann und sei es nur aus Versehen. Also blieb es erstmal bei der weichen Matratze, auf der auch sein großer Hund „Huhu“ (das kann Niklas sogar sagen ;-) ) mit schlafen darf. :-)

Hund mit Kuhdecke Ellas Blog Leben mit Autismus
Huhu mit Kuhdecke

Seit etwa vier Jahren hat Niklas ein richtige „Männerbett“ (Gebärdenzitat). Es ist 140 cm breit und sehr gemütlich. Verkleidet haben wir es an der Wand mit einer weichen Matratze, so dass er eine richtig schöne Kuschelecke hat. Auch das Kopfteil haben wir mit einem Polster erhöht. (Die bunten Elemente an der Wand sind übrigens Schallschluckteile, die die Akustik im Raum dämpfen.)

Das Bett von Niklas

Viele verschiedene Decken

Einige Familien machen sich auch Sorgen, weil ihre (meist kleinen) autistischen Kinder aufgedeckt, also ohne Decke schlafen wollen. Das könnte zu kühl werden, daher sind einige Eltern ratlos, wie damit umzugehen ist.
Meistens liegt es an der Wahrnehmung unserer Kinder, die womöglich selbst nicht spüren, dass es zu kalt wird oder auch das Gefühl des Stoffs oder des spezifischen Gewichts einer bestimmten Decke nicht gut ertragen können.

Anfangs war es auch Niklas schlicht egal, ob er zugedeckt war oder nicht. Ich denke, dass er es gar nicht wirklich fühlen konnte, ob es zu kalt oder zu warm war. In dieser Zeit schlief er meist mit einem großen Erwachsenenschlafsack, den er sich richtig anziehen konnte. Er hatte Träger über den Schultern, so dass er nicht rausrutschen konnte.
Später wollte er dann eine Decke haben, die sehr schwer war. Das brachte ihm ein angenehmes Gefühl und er begann, sich selbst damit zuzudecken.

Inzwischen ist es so, dass er mehrere Decken im Bett hat, die unterschiedlich schwer sind und auch unterschiedliches Material haben. Manchmal sucht er sich eine aus, manchmal nimmt er mehrere übereinander und manchmal wird eine der Decken zum Kopfkissen. Je mehr Auswahl, desto besser.
Mit zunehmendem Alter hat er immer besser gelernt, sich selbst zu regulieren und weiß sehr genau, was ihm gut tut und was nicht.

Ich kenne auch einige autistische Kinder, die am liebsten direkt unter das Bettlaken schlüpfen und sich dort einigeln. Nichts kann verrutschen, alles ist ordentlich gespannt und für manche ist das genau das richtige Gefühl, das sie brauchen, um sich wohlzufühlen und einschlafen zu können.

Kleiner Tipp für die Eltern, die ewig lange abends am Bett sitzen sollen:
In manchen Familien klappt es gut, dass einem Kuscheltier ein Pulli von Mama oder Papa angezogen wird, dann bleiben Nähe und Geruch erhalten, auch wenn die Eltern den Raum verlassen.
Und einigen hilft es, eine Tonbandaufnahme zu hören, mit der Mama oder Papa eine Geschichte erzählen. Diese können sie selbstbestimmt abspielen, ohne dass die Eltern die ganze Zeit dabei sein müssen.
Vielleicht klappt es ja auch bei euch. :-)

Das Wichtigste noch zum Schluss: die Kuhdecke :-)

Die bekam er zum Abschluss seiner Kindergartenzeit mit den Worten geschenkt: „Niklas, die hast Du ja immer im Kindergarten genommen. Wir schenken sie Dir.“ Seitdem begleitete sie ihn vom Kinderbett ins Pflegebett, aufs Sofa, seine Matratze, in unsere Wohmobile und andere Urlaube und jetzt auch ins „Männerbett“. Allerdings existieren inzwischen mindestens drei Teile der Kuhdecke – ganz spurlos sind die Jahre also an ihr nicht vorübergegangen. Und oben hat „Huhu“ einen Teil als Schal.

Ein kleiner Mutmacher für alle, die immer noch mit schlaflosen Nächten zu kämpfen haben: Es ist viel besser geworden bei Niklas. Es gibt immer noch Nächte, in denen er herumwandert und „fertig ist mit Schlafen“ (Gebärdenzitat), aber sie sind weniger geworden. Woran das liegt, darüber kann man spekulieren: an der durchgestandenen Pubertät, am Ende der Schulzeit, an einer gut eingestellten allgemeinen Medikation, an seiner Fähigkeit, sich zunehmend besser selbst zu regulieren und damit besser zur Ruhe zu kommen, an einer Grundzufriedenheit, die in unser aller Leben getreten ist…. oder……

Wie bei so vielen anderen Themen, ist es auch beim Thema Einschlafen und Durchschlafen so, dass unsere Kinder uns nicht extra ärgern wollen, sondern das Verhalten einen Grund hat. Häufig leiden sie ja selbst darunter, dass sie nicht gut schlafen können.
Die Entwicklung wird uns immer wieder erstaunen. Lass dich nicht von anderen Eltern verunsichern, aber lass dich auch nicht unnötig von anderen Eltern nerven, dazu habe ich unten noch einen Beitrag verlinkt.

Jeder Abend, an dem Niklas friedlich einschlummert, ist ein guter Abend. Und jeder Morgen, an dem ich aufwache und merke, dass ich durchschlafen konnte, ist ein besonderer Morgen. Ich wünsche euch auch diese Morgende.

Zum Weiterlesen:

Schlaf, Kindlein, schlaf – Autismus und Melatonin

Nicht alle Kinder schlafen irgendwann durch – von Floskeln, die manche Eltern nerven

Fünf Jahre mit Pflegebett – eine große Liebe mit ganz klarem Ende

Zum Weiterlesen:

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