Gastbeitrag: „Unser täglicher Kampf für Inklusion, dabei will Noah einfach nur in die Schule gehen.“

veröffentlicht im Juni 2024


Ute ist Mutter eines Autisten, der als Nichtsprecher von der Förder- auf die Mittelschule wechselte. Diesen Schritt forderte ihr Sohn vehement ein, weil er mehr lernen wollte. Er kämpfte für sein Recht der Teilhabe, darüber ist auch schon dieser Gastbeitrag erschienen.
Dann begann der harte Weg der Inklusion, der hier im Gastbeitrag skizziert wird:

„Ich will einfach in die Schule gehen – nur ist das unglaublich kompliziert.“

Natürlich braucht es als Nichtsprecher eine Schulbegleitung. Einfach so in den Unterricht geht einfach gar nicht bei Kindern, die schwerer vom Autismus betroffen sind. Aber selbst wenn es da jemand gibt, und der Schüler gesund ist, sind da noch genug andere Gründe, warum es nicht klappt.

Das Kind der Assistentin war krank oder der Kindergarten hatte wegen Personalmangel geschlossen, was in letzter Zeit häufig vorkam, so dass die Assistentin selbst ihr Kind betreuen musste und nicht als Schulbegleitung arbeiten konnte.
Wenn dann noch die zweite Konstante wegfiel, also der Lehrer, weil sein Kind auch mal krank war, oder er eine Fortbildung besuchte oder er selber krank war, wurde es schon schwierig.
Wenn wir Glück hatten, gab es eine beständige Vertretung, die sich auf unseren Sohn einließ und mit ihm umgehen konnte. Aber wie gesagt – wenn wir Glück hatten…

So sammelte sich eine lange Liste an Fehltagen an, obwohl unser Sohn gesund war und sich jedesmal schwer tat zu verstehen, warum er heute nicht zur Schule konnte. Er war frustriert und wütend, kratzte sich Gesicht und Hals blutig, weil er es nicht verstand, dass er zuhause bleiben musste.
Wir litten mit, weil es genauso unseren Alltag einschränkte, wir zusammen jeden einzelnen Tag zuhause irgendwie überleben mussten. Vormittags einmal aus dem Haus gehen, zum Bäcker, zur Post, irgendeine Kleinigkeit erledigen. Dann eine Aufgabe machen, eine Dokumentation angucken über Natur oder Geschichte, eine Mittagspause, Fahrad fahren, das abendliche Bad.
Zumindest da sollte Routine und Verlässlichkeit sein. Oder wir fuhren einfach mit dem Auto durch den Wald, mit offenem Fenster bei Regen, hörten ganz laut Musik, um irgendwas zu spüren.

Entsprechend unregelmäßig waren auch die Fahrzeiten, Noah wurde normalerweise mit einem Taxi zur Schule gebracht. Idealerweise war normaler Stundenplan mit festen Bring- und Abholzeiten, was aber so gut wie nie der Fall war. Ich rief fast jeden Tag beim Taxiunternehmen an, um die aktuelle Zeit durchzugeben, mal fing der Unterricht erst eine Stunde später an, mal war schon früher Schluss oder er hielt nur bis zur vierten Stunde durch und musste abgeholt werden.
Als ich wiederholt anrief, reagierte ein Mitarbeiter der Taxizentrale gleich: „Ach hallo, sie sind es wieder, Frau H. Was wollen Sie denn heute ändern?“

Spannend waren in der Schule auch Tage mit Ausflügen, in ein Museum oder zum Beispiel ins KZ Dachau. Für Menschen mit besonderer Wahrnehmung eine gewaltige Herausforderung, mit so viel leidvoller Erinnerung konfrontiert zu werden.
Dann gab es noch Berufsbasare, zehn Minuten durchrennen, überfliegen welche Berufe es gibt, die ohnehin nicht in Frage kommen. Oder Kinobesuche, die durch übersteuerte Lautsprecher und Enge von vornherein zum Scheitern verurteil waren, egal welcher Film gezeigt wurde.

Nicht ganz so herausfordernd, aber auch irritierend waren gemeinsames Frühstück, Picknick im Park, Sporttage, Umwelttage, mit Gruppenarbeit und Projekte über das Schulgelände verteilt, wo man unter anderem lernt, dass Müll in den Mülleimer geräumt wird und nicht am Boden rumliegt. Für jemanden, der Mikrobrösel vom Boden aufpickt und Türen schließt, völlig selbstverständlich.
„Es gäbe noch so viel zu lernen“, schrieb unser Sohn kritisch, „ich verstehe nicht, warum nicht einfach Unterricht ist.“

Schule ist und bleibt spannend, ein richtiges Abenteuer, das Energie und Kreativität von allen fordert und wo wir manchmal träumen, wie schön es wäre, wenn es nicht soviel Hürden gäbe. Und es wäre super, wenn die Schulbegleiter mal länger blieben. Noah hatte 11 Schulbegleiter in vier Jahren und etliche Wochen Homeschooling.
Die Gründe für häufigen Wechsel waren natürlich nicht so tragisch wie bei den sieben Ehefrauen Heinrichs des Achten: geschieden, enthauptet, verstorben… sonder eher: befristet, erkrankt, besserer Job in Aussicht…
und egal, ob Fachkraft Pädagoge oder Schulabgänger, sie haben sich alle auf Noah eingelassen und das Abenteuer Schule & Inklusion, alle haben neue Sichtweisen über Autismus gelernt und die meisten auch FC (Facilitated Communication), jeder hat sein „Scherflein“ dazu beigetragen, das Noah die Schule besuchen konnte.

Am Ende des Schuljahres ist dann die Luft raus, am liebsten würde ich alle viere von mir strecken und einfach so liegenbleiben, nichts machen, nichts denken, schon gar nicht planen oder organisieren. Oder einfach nur dasitzen mit einer Tasse Kaffee, jeden Schluck genießen, zuschauen, wie eine Biene kommt und sich auf der gelben Blüte des Sonnenhuts niederläßt.
Mein Sohn schläft dann morgens länger, er macht vieles langsamer, braucht auch mehr Pausen, muss die vielen Eindrücke noch verdauen.
Und wir geben nicht auf, zu hoffen, wie schön es wäre, wenn sich fürs nächste Schuljahr ein guter Schulbegleiter findet, der ein ganzes Jahr mal bleiben würde – oder zumindest ein halbes.

Zum Weiterlesen:
Von der Förderschule in die Mittelschule – wie ein autistischer Schüler seinen Weg geht

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