Das Autismus-Spektrum hat viele Gesichter

veröffentlicht im Oktober 2017


Es ist kein Geheimnis, dass ich diesen Blog vor einigen Jahren begann, weil ich damals kaum etwas über Familien mit frühkindlichen Autisten zu lesen fand. Da ich einen Sohn mit sehr hohem Betreuungs- und Pflegebedarf habe, fehlte mir das sehr und so startete ich selbst einen Blog, in dem dieser Teil des Spektrums großen Raum einnimmt.

Nicht nur, weil ich inzwischen sehr viel auch von hochfunktionalen AutistInnen lernen konnte, ist es mir aber äußerst wichtig, möglichst das ganze Spektrum im Blick zu haben und niemanden zu vergessen. An vielen anderen Stellen vermisse ich das leider.

Einige Zuschriften, die ich in den letzten Tagen erhielt, unterstreichen diesen Eindruck:

„Liebe Ella, ich habe einen Sohn mit frühkindlichem Autismus. Wenn ich in Zeitungen lese, wird da fast immer nur vom Asperger-Sndrom erzählt. Ich fühle mich total außen vor.“

„Liebe Silke, ich war kürzlich bei einem Vortrag einer Asperger-Autistin. Fragen zu Autisten, die rund um die Uhr versorgt werden müssen, konnte sie nicht beantworten. Außer mich schien das niemanden unter den 40 Zuhörern gestört zu haben, es fragte jedenfalls niemand sonst nach. Ich fühlte mich sehr schlecht.“

„Liebe Silke, neue Magazine auf dem Markt, Verlage, Blogs – immer geht es nur um Asperger. Du bist die einzige, die ich kenne, die über das Autismus-Spektrum schreibt und die frühkindliche Autisten nicht vergisst. Danke.“

„Liebe Ella, neulich sagte jemand zu mir, dass ich die Diagnose meiner Tochter nochmal überprüfen lassen sollte, weil sie ja überhaupt nicht so ist wie die Autisten, die man im Fernsehen sieht. Das war so schrecklich!“

Soweit die Zuschriften, die eine Zusammenstellung subjektiver Meinungen und Stimmungen widerspiegelt. Wenn Du das anders empfindest, schreib mir gerne.

Das Verständnis von Autismus in der Öffentlichkeit

Wenn ich versuche, mich in einen Menschen hineinzuversetzen, der wenig bis gar keine Ahnung vom Thema Autismus hat, und eine Reportage über das Thema liest oder sieht, dann würde sich mir wohl das Bild aufdrängen, dass man es bei Autisten entweder mit gewalttätigen Egoisten oder mit außerordentlich begabten, besonders wahrnehmenden, aber durchaus selbständig leben könnenden Einzelgängern handelt.
Ersteres ist natürlich vollkommen inakzeptabel, darüber will ich mich an dieser Stelle nicht auslassen (Linktipp dazu).
Zweiteres mag auf viele durchaus zutreffen. Es ist gut und wichtig, dass sich die Gesellschaft für Menschen aus dem Autismus-Spektrum öffnet, sich darauf einstellt und Möglichkeiten eines inklusiven Miteinanders im Kindergarten, in der Schule, im Studium, in der Ausbildung, in der Freizeit und im Berufsleben geschaffen werden.

Aber es gibt auch andere Autisten im Spektrum…

… und obwohl sie meist die Stillen unter uns sind, weiß ich, dass gerade viele ihrer Eltern „Ellas Blog“ lesen.
Es sind Autisten, die nicht oder kaum sprechen, die oftmals Hilfe beim Essen und Trinken, beim Anziehen und Ausziehen und auf der Toilette brauchen. Es sind Autisten, die als Jugendliche und Erwachsene noch Windeln tragen, jede Minute beaufsichtigt werden müssen, da sie sich ständig selbst gefährden, selbst verletzen und auch kaum Hobbys haben, keine Computerspiele oder sonstiges spielen, auch mit Schulbegleiter keine Regelschule besuchen können und für die es niemals so sein wird, dass sie ohne organisierte Unterstützung, die ununterbrochen an ihrer Seite ist, leben können.
Diese Familien fühlen sich oft überhaupt nicht wahrgenommen. Vielleicht liegt es daran, dass sie keine Zeit für mehr Präsenz in der Öffentlichkeit haben, weil diese stark in ihren Alltagskompetenzen eingeschränkten Autisten meistens nicht in der Lage sind, selbst öffentlich zu schreiben oder aufzutreten oder weil die Eltern komplett in Aufsicht und Pflege eingebunden sind.

Es gibt Familien, die sich damit konfrontiert sehen, ihr Kind könne doch nicht autistisch sein, da es ja gar nichts kann, nicht mal alleine auf Toilette gehen, nicht mal Computer spielen. Es sitze ja nur herum und würde nicht einmal allein vor die Tür gehen können. „Sowas ist doch kein Autist, Dein Kind ist schwer geistig behindert. Im Fernsehen sehe ich andere Autisten.“
Das sind schlimme Erfahrungen, zumal meistens ein langer Prozess hinter dem Kind und den Angehörigen liegt, in dem sie gelernt haben, dass geistige Behinderung und Autismus ursächlich erst einmal überhaupt nichts miteinander zu tun haben.

Alle können voneinander profitieren – ein paar Beispiele

Wenn ich höre, wie erwachsene, sprechende Autisten davon erzählen, wie sie Straßenverkehr, den Besuch in einem Café, Ansammlungen von Menschen, gleichzeitig laufende Radios und Fernseher u.v.m wahrnehmen und beschreiben, wie sie sich versuchen davor zu schützen, dann denke ich: ja, so muss es für Niklas auch sein. Das klingt plausibel und es hilft mir zu verstehen.

Gesichter

Es gibt Autisten, die sich sehr eloquent ausdrücken können, aber lernen müssen, Ironie und Redewendungen zu entschlüsseln. Dann gibt es Autisten, die erstmal überhaupt eine Form der Kommunikation finden müssen, ob über Bildkarten, Gebärdensprache oder Schreiben. Das Thema Ironie und Redewendungen kommt noch dazu und dann sind wir wieder an dem Punkt, an dem ich von erwachsenen, sprechenden Autisten lernen kann, die mich darauf hinweisen, wenn meine Sprache zu bildhaft und verschlüsselt ist, ohne dass ich es merke. Und dieser Hinweis ist für mich gleichermaßen wichtig, obwohl mein Kind über Gebärdensprache kommuniziert.

Eine hochfunktionale Autistin sagte mir einmal: „Dein Niklas ist so unangepasst, so unmittelbar in seinen Reaktionen und Emotionen, dass ich selbst wieder viel besseren Zugang zu meinen eigenen Empfindungen finde. Er zeigt mir den Weg zurück, weg von der neurotypischen Angepasstheit.“

Das Spektrum ist groß und verschieden, aber es gibt viel Verbindendes, nicht nur Asperger, frühkindlich und atypisch, sondern auch viel dazwischen. Und daher ist es gut, dass inzwischen von einem Autismus-Spektrum gesprochen wird, in dem nichts bewertet, gegeneinander ausgespielt und auch nicht übersehen werden sollte.

Wir sitzen alle im sprichwörtlich selben Boot (rw) und können am meisten erreichen, wenn wir einander wahrnehmen, respektieren, uns füreinander interessieren und auf allen Seiten ständig dazu lernen.
Ich bin überzeugt davon, dass man viel besser verstehen lernen kann, wenn man sich nicht nur auf einen Teil des Spektrums konzentriert.

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Informationen findest du HIER oder per klick auf das Kurslogo

Zum Weiterlesen:

Das Autismus-Spektrum – Informationen

Nachilfe in Sachen Autismus für Journalisten

Interview mit Marlies Hübner: „Ein Dialog kann uns alle nur weiter bringen.“

Zum Weiterlesen:

KOMMENTARE

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  1. Liebe „Ella“,

    Dieser Blogpost spricht mir wieder völligst aus der Seele(RW)!

    Ich beschäftige mich seit etwas über einem Jahr im Grunde tagtäglich mit dem Thema Autismus, dh ich lese sehr viel dazu, bin im ständigen Austausch mit anderen Eltern von Autisten, mit Autisten selber usw…
    Mittlerweile hat sich hier eine beachtliche Menge Literatur zu dem Thema angesammelt und ja, irgendwie handelt da vieles von Asperger-Autisten bzw ist von ihnen geschrieben worden. Ich lese es dennoch gern, auch wenn mein Kind ein „frühkindlicher Autist“ ist.
    Ob ich mich bzw ihn nicht repräsentiert fühle? Schon irgendwie, ja.
    Ob es mich „stört“? Ich weiß es nicht, aber eher nein.

    Es ist einfach ein Spektrum und mir und wohl auch den meisten anderen Eltern von Autisten ist dies auch bewusst. „Kennst du einen Autisten, kennst du einen!“, so sagt man doch so schön! :-)

    Aber wie du schon schriebst, für Außenstehende ist dies schwieriger zu verstehen, und ich erkläre manchmal mehrmals die Woche, dass nicht jeder Autist nonverbal ist, ein Informatik-Genie oder ein Savant! Nein, mein Sohn hat keinen „milden“ Autismus, nur weil er durchaus rausgehen und sich (rein vom Wortschatz und der Aussprache her) gut ausdrücken kann.
    Dieses Bild des Autisten, dass sich einfach in der Gesellschaft festgebrannt(RW) hat, ist es, was mich stört. Und das liegt nicht mal an den Menschen selbst, denn mal ehrlich: Ich hab mich bis vor knapp 1,5 Jahren auch nicht damit beschäftigt und mein Wissen über Autismus war in etwa so umfassend wie mein Wissen über Quantenphysik ;-)

    Die Aufklärung ist es, die fehlt. Und das soll bitte nicht als Vorwurf aufgefasst werden, die Autisten, die ich mittlerweile „kenne“ (vor allem im Internet) sind laut für Zehn(RW), mindestens! Und die Angehörigen ebenso!
    Aber in zB Ausbildungsberufen wie Erzieher, Kinderpfleger oä sollte mehr darüber informiert werden – zumindest über die Basics, und vor allem darüber, dass es eben ein Spektrum ist.
    Ich habe mir auch schon angewöhnt, deinen Infozettel immer in Kopie mit mir umherzuschleppen, um ihn bei Bedarf zu verteilen – an andere Eltern in KiGa & Schule, letztens sogar an eine Verkäuferin bei Edeka.
    Denn wenn dieses „Es ist ein Spektrum!“ erstmal bekannt(er) ist, dann dürften sich auch weniger Leute unterrepräsentiert fühlen…

    Aber ich schweife ab und schreibe schon einen halben Roman hier… ;-)

    Alles Liebe!

  2. Hallo Sylke,
    ich habe vor meiner Autismusdiagnose ein FSJ in einem Behindertenwohnheim gemacht & dort festgestellt, dass ich mit den Bewohnern (besonders den autistischen) besser zurechtkam & „kommunizieren“ kann als mit den „normalen“ Leuten außerhalb.
    Ich könnte mir gut vorstellen, Eltern von frühkindlichen Autisten zu entlasten, indem ich ihr Kind stundenweise betreue. Vielleicht geht es anderen Aspergerautisten ähnlich & man könnte eine Art Frühkindlich-Asperger-Austausch aufbauen?
    LG
    Svö

    1. Hallo Svö, das ist ja ein toller Gedanke. Vielleicht kannst Du mit dieser Idee an einen Verein oder eine Organisation bei Dir vor Ort herantreten, die FED (Familienentlastenden Dienst) anbietet.

  3. Das einem nicht geglaubt wird geht auch Eltern von Aspergern und Hochbegabten so. Es sei denn sie sagen, ihre Kinder haben eine Diagnose.

    1. Hallo Brigitte, lese mir gerade einiges durch und stosse so auf Dich ! Ich hoffe, es geht Dir gut, das wuensche ich Dir von Herzen ! LG Dirk

  4. Guten Tag

    Meine Tochter ist 4 1/2 und hat den früh kindlichen Autismus.
    Sie auf diese Diagnose testen zulassen war ein Kampf, da sie als normal angesehen wurde nur Entwicklungs verzögert.
    Der Kinderarzt hat meine Fragen immer abgeschmettert ich war mir sicher das sie Autistin ist als sie so 11 Monate alt war.
    Seine Aussage war das gibt es erst ab acht und nur weil sie keinen sozialen Kontakt hat oder Probleme mit der Wahrnehmung, gleiche Abläufe , Rituale , Strukturen und vieles ist das lange kein Autist. Ich war ich öfter dort weil sie viel schrie und wir Probleme mit dem Essen geben hatten und vieles mehr und dann wird man als hyper führsorgliche Mutter abgestempelt. Ich habe dann selber getestet gemerkt was sie brauch und wir haben uns angepasst und unser Alltag wurde immer mehr durch Rituale, Routine und Strukturen begleitet. Bei den ganzen u Untersuchungen habe ich dann immer mehr gemerkt wo sie steht und bin auf eigene Faust zur Frühförderrung gegangen weil mein Kinderarzt nicht geholfen hat.
    Die war auch skeptisch und belustigt und vieles mehr bis dann eine Frau kam die mich erhört hat und mich endlich nach 2 1/3 Jahren ernst genommen hat. Dann ging es recht schnell mit der Diagnostik.
    Von dem sicher Gefühl das sie autistin ist mit 11 Monaten bis 3 1/2 wo die Diagnostik fest war ist viel Zeit vergangen. Und man fühlt sich alleine gelassen unverstanden im stichgelassen und vieles mehr Freunde lassen einen im Stich weil die damit nicht klar kommen oder anderen Gründen man wird von der Familie zurück gestoßen und vieles mehr es ändert sich so viel für Eltern und für die Kinder.
    Aber ok unsere Gesichte also die meiner Tochter ist sehr lang und dauert bestimmt Seiten lang bis ich das alles erläutern kann von Gefühlen, Alltagsleben und Ärzten kindergarten etc.

    Aber ich fühle da mit euch und aus der Seele gesprochen. Es ist oft einfach das Unwissen die Angst, Verständnislosigkeit usw weshalb Menschen, Pädagogen und Ärzte leider unfähig und Verständnislosigkeit etc.

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