Auch positive Entwicklungen kosten Kraft – Autismus und Energiemanagement

veröffentlicht im Juni 2017


In letzter Zeit kam es einige Mal vor, dass Niklas aus heiterem Himmel einen Zusammenbruch hatte, schrie und aus einer Spirale von Schreien, herumlaufen und seinen Kopf unter meinen Arm stecken wollen lange nicht mehr herauskam.
Er schien völlig am Ende und verzweifelt.
Und wir verstanden zum Teil die Welt nicht mehr, weil der Tag bis dahin doch so schön gewesen war, weil Dinge geklappt hatten, die noch nie zuvor möglich gewesen waren und weil uns nicht immer ein wirklicher Auslöser einfiel.

Das Gespräch mit einer Autistin brachte mich auf eine neue Denkweise, was diese Zusammenbrüche anbelangt.

Auch positive Entwicklungen, gelungene Ausflüge und schöne Begegnungen kosten Kraft.

Kind springt freudig in die Luft

Die Tatsache, dass Niklas lieber als alle Jahre zuvor in den Garten geht, Vogelgezwitscher, Flugzeuggeräusche und Rasenmäher im Nachbarsgarten besser kompensieren kann, bedeutet nicht, dass es ihm nichts mehr ausmachen würde.
Diese Kompensation, das „dealen“ mit der Situation kostet Kraft.

Die Tatsache, dass er seit etwa einem Jahr immer öfter auf Toilette geht, er kaum noch Windeln braucht und sich mächtig freut, wenn die Klogänge klappen, bedeutet nicht, dass es ihn nicht Kraft kostet, aufmerksam zu sein und diese Entwicklung anzunehmen.
Fortschritte kosten Kraft auch noch nachträglich, weil sich etwas verändert hat, das verarbeitet werden muss und weil mit diesem Fortschritt auch eine neue Erwartungshaltung an ihn herangetragen wird.

Die Tatsache, dass er super gerne beim Geburtstag seiner Schwester dabei ist, sich freut, dass die Familie da ist und er ganz lange Zeit mittendrin lachend dabei ist, bedeutet nicht, dass es ihm nichts ausmachen würde.
Die Anpassung an die Situation und das Ertragen der Geräuschkulisse kosten Kraft.

Das sind nur ein paar Beispiele dafür, die zeigen, dass absolut positive Dinge trotzdem Energiefresser sein können. Andere Faktoren können zum Beispiel die Gegenwart von Menschen sein, die als unangenehm empfunden werden, Erfahrungen, die mit Ausgrenzung zu tun haben, Situationen, die als ungerecht empfunden werden, oder auch das Mitempfinden von Traurigkeit, Wut und allgemein intensiven Gefühlen anderer. Denn im Gegensatz zu gängigen Vorurteilen können AutistInnen natürlich auch mitfühlen, wenn jemand traurig, gestresst oder verärgert ist.

Zusammenbrüche nach positiven Erlebnissen und guten Tagen sind möglich.

Wenn sich nun nach einem solchen Tag, an dem doch alles so gut geklappt hat, eine Situation anschließt, in der schon eine Kleinigkeit ärgerlich oder frustrierend ist, kann das ausreichen, um einen Zusammenbruch nach sich zu ziehen.
Wie ein großes Fragezeichen stehe ich dann vor Niklas, weil ich nicht begreife, was genau nun so schlimm war, aber dieses „was genau“ gibt es vielleicht gar nicht immer, sondern das Zusammenwirken von allem muss dann gesehen werden: Viele durchaus auch positive Aktionen, Begegungen und Entwicklungen, die Energie verbrauchen und nicht mehr genug übrig gelassen haben, um mit etwas Unerwartetem zurechtzukommen.

Mir hat es sehr geholfen, mir dies zu vergegenwärtigen, weil ich nun achtsamer mit Niklas´ Ressourcen umgehen kann. Wenn ein Tag super war, bedeutet es nicht, dass man noch etwas und noch etwas und noch etwas dazu planen und ausprobieren sollte, sondern dass man es auch einfach mal gut sein lässt. Es war genau so gut, wie es war. Und morgen ist ein neuer Tag für neue Dinge.

Für eine Reizüberflutung kann also neben ganz konkreten und klar zu identifizierenden auslösenden Faktoren auch eine Entwicklung und ein (durchaus positiver) Prozess verantwortlich sein.

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KOMMENTARE

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  1. Dieser Kommentar trifft’s mal wieder genau. Auch wir haben diese Erfahrungen mit unserem autistischen Sohn gemacht. Inzwischen beenden wir Ausflüge z. B. zum Schwimmen am See oder in einem Freizeitpark immer nach kurzer Zeit, um ihn nicht zu überfordern. Lieber kommen wir alle nach einem kurzen Ausflug entspannt nach Hause als eine Überforderung unseres Sohnes zu riskieren. Es ist aber auch bei uns einige Male schief gegangen, bis wir diese Erkenntnis hatten. Es ist immer wieder schön zu lesen, daß man mit diesen Problemen nicht allein ist.

    1. Ich würde mir wünschen das Personen z.b in Schulen oder auch Kindergärten , wenn man sie über solchen Situationen informiert , darauf eingehen und unterstützen würden !

  2. Bei Teenagern und jungen Erwachsenen kommt vielleicht zeitweise auch noch erschwerend dazu, wenn sie sich ihrer Situation und ihrer möglichen Zukunftsperspektiven im Vergleich zu Gleichaltrigen (oder Geschwistern) zunehmend bewusster werden. Vielleicht auch gerade dann, wenn die Diskrepanz zwischen ihrer Fähigkeit, dies bewusst zu erleben und der eigenen behinderungsbedingten Hilflosigkeit besonders groß ist.

  3. „Fortschritte kosten Kraft auch noch nachträglich, weil sich etwas verändert hat, das verarbeitet werden muss und weil mit diesem Fortschritt auch eine neue Erwartungshaltung an ihn herangetragen wird.“

    Das ist meiner Meinung nach eines der größten Probleme überhaupt…nämlich die Erwartungshaltung Anderer die immer wieder neu an den Autisten herangetragen wird.

    Ähnliche Erfahrung mache ich zur Zeit gerade auch mit meinem Sohn.

    Hier ist es im Augenblick sein Arbeitgeber der immer wieder mit einer neuen Erwartungshaltung an ihn heranzutreten scheint.

    (Alle Mitarbeiter müssen ständig Überstunden machen…egal ob schwerbehindert oder nicht schwerbehindert…besonders schlimm wenn Feiertage angestanden haben, dann heißt es vor- und nacharbeiten.)

    Jeder noch so kleine Fortschritt meines Sohn, mündet leider sofort auch gleich in eine neue Erwartungshaltung des Arbeitgebers: “die Arbeit muss schließlich getan werden, und es gibt so viel zu tun was leider keinen Aufschub zulässt“.

    Er redet einfach alles nach was hier der Arbeitgeber ständig vorredet.

    (Jedoch für mehr Personal ist leider kein Geld da…Arbeitgeber scheinen nie Geld zu haben…und auch der öffentliche Dienst scheint ebenfalls ständig von Geldmangel betroffen zu sein.)

    Was ich damit sagen will ist: egal in welchem Alter sich Autisten auch befinden mögen, sein Umfeld tritt eigentlich ständig mit neuen Erwartungshaltungen an ihn heran. Und jeder noch so kleine Fortschritt wird anscheinend mit einer weiteren Erwartungshaltung quittiert.

    Irgendwann kommt es dann auch bei meinem Sohn (anscheinend) urplötzlich zu einem „Ausraster“ der dazu führt dass er nicht mehr in der Lage ist „richtig zu denken und zu sprechen“ wie er selbst dann immer sagt…und er reagiert nur noch wütend, verärgert und frustriert… einfach unfähig irgendwie zu handeln bis hin zum völligen Rückzug in sich selbst.

    Und dies erlebt er natürlich völlig bewusst…das macht ihm dann sehr zu schaffen, und es erschwert dann vieles noch zusätzlich.

  4. Auch von mir herzlichen Dank, für diese hilfreichen Erkenntnisse.Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich das Tempo meiner Tochter im Alltag nicht respektiere.Dieser Beitrag wird mir in Zukunft helfen mich zu bremsen!

  5. Ich bin seit 18 Jahren auf der Suche nach dem „Was hat mein Kind“. Es ist seit es kommunizieren kann, und damit meine ich nicht sprachlich, anders. Es reagierte anders, es sprach lange nicht, der Bewegungsdrang war massiv ausgeprägt, Haptik war ein großes Thema, die Schule eine mittlere Katastrophe usw. Die Ärzte glaubten alle ich sei überfordert oder eine Übermutter die sich viel zu viele Sorgen und aus einer Mücke einen Elefanten macht, oder ich suche fieberhaft nach etwas das meinem Kind fehlt, damit ich sagen kann mein Kind hat da was. Ich war nichts von alledem. Mein Kind war anders als das die Gesellschaft verarbeiten konnte, es ist für mich ein wunderbares Kind das mir viel beigebracht hat. Vor einiger Zeit bin ich auf Autismus gestoßen und ich finde viele Beschreibungen die auf mein Kind zutreffen. Da mir nie jemand sagen konnte wie ich mit ihm umgehen soll, damit es zur Ruhe findet und vor allem damit unser Alltag funktioniert, habe ich selber ausprobiert. Ich bin auf vieles gekommen das hier auch beschrieben ist. Autismus ist bei meinem Kind nicht diagnostiziert, aber es gibt gleiche Verhaltensweisen. Es ist schnell überfordert, kann nichts ausblenden und braucht ganz klare Anweisungen. Lärm ist ein Nogo und bei drei Fragen hintereinander kommt das Aus.
    Die Beiträge die ich zu diesem Thema lese, helfen mir, mich besser in mein Kind hinein zu versetzen. Vielen Dank dafür. Derzeit sind wir auf der Suche nach einer Lehrstelle (eine wurde bereits abgebrochen), alles sehr schwierig da sich die Gesellschaft eine Norm zurechtgelegt hat, die nicht von jedem erfüllt werden kann. Je älter die Kinder werden umso mehr wird erwartet und das wird immer mehr zum Problem.
    Ich wünsche Euch allen ganz viel Kraft, unsere Kinder sind es wert für sie zu kämpfen, denn sie sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft.

  6. Danke für den tollen Beitrag und auch für den Kommentar von Tessa – oft ist weniger mehr. Dabei stelle ich fest, dass wir die Kleinen rechtzeitig „bremsen“ und ihnen die Ruhe geben müssen bevor es zuviel Reize werden und sie nicht mehr mit sich umzugehen wissen

  7. Danke für den Beitrag. Ich hatte gerade eine Anfrage als Erziehungsstelle für ein junges Mädchen mit Asperger- Autismus und einem dicken Paket an Problemen. So war ich auf der Suche nach Informationen. Dabei bin ich zufällig auf diesen Blog gestoßen.
    Ich kenne aus meiner Arbeit schon einige Autisten und dennoch fand ich hier viele wertvolle Erfahrungen, die auch für mich wichtig sind im Umgang mit Menschen, die nicht den Erwartungen der Gesellschaft genügen. Dabei ist nicht gesagt, dass es wirklich immer richtig ist, an den Erwartungen festzuhalten. Manchmal tun sich Lösungen jenseits davon auf, was der Beitrag auch gut zeigt. Manchmal ist weniger mehr. DANKE noch mal und viel Mut und Kraft mit Euren Kindern. Bewahrt die Freude am Leben.

    1. Hallo liebe Christine, ich habe gelesen, dass du ein Mädchen mit Asperger in einer Erziehungsstelle betreust. Ich selbst betreue einen Jungen mit Asperger in meiner Familienanalogen Wohngruppe. Ich habe ein paar Fragen zu Pflegestufe, GdB und Betreuungsstunden. Können wir uns dbzgl. evtl einmal austauschen? Herzliche Grüße
      Hanna

  8. liebe Silke,
    durch deinen Artikel wird mir einiges zu meinen eigenen Meltdowns klar, denn oft finde ich keinen Grund für meine Verzweiflungsausbrüche. Es ging mir doch gut, ich hatte nette Gespräche/Unternehmungen mit Freunden/Verwandten, wurde z.B. auch gelobt, wie nett es bei mir war. Und dann kommt eine winzige Kleinigkeit, mit der ich nicht gerechnet habe – zack, da ist die Tränenüberschwemmung.
    Wieder bin ich durch dich schlauer geworden, ich danke dir sehr herzlich für den Artikel und gratuliere zum Jubiläum.
    liebe Grüße
    Jana

  9. Ich freue mich so, dass ich diesen Blog gefunden habe.
    Genauso habe ich es schon oft erlebt auch in der Schule Fortschritt und eine gute Leistung führt oft gleich dazu mehr zu verlangen und unkontrolliert auszuprobieren . Das finde ich immer wieder sehr schade weil man es so verpasst, dass Freude und Leichtigkeit in das Neue kommt und das ermutigt mehr als die Erfahrung immer mehr drauf gepackt zu bekommen.

    Ich mache auch oft im Urlaub die Erfahrung, dass mein Sohn am Anfang alles (auch fremdes Essen) sehr gut akzeptieren kann und dass es dann von Tag zu Tag weniger wird, als ob sich da ein Kontingent aufbraucht .
    Jetzt versuchen wir auch immer schon vorher zu sehen wie der „Verbrauch“ ist und klug zu dosieren .

    Lg Susanne

    1. Liebe Susanne, ich freue mich auch, dass Du den Blog gefunden hast :-)) Alles Gute für Dich und Deine Familie!

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Es ist immer wieder überwältigend, was wir als Eltern autistischer Kinder bedenken, organisieren und verarbeiten müssen. Neben viel Wissen und Erfahrungen, die du hier im Blog findest, ist eine solidarische Gemeinschaft unglaublich hilfreich. Das Forum plus ist ein geschützter Bereich nur für Eltern autistischer Kinder. Hier findest du außer praktischen Tipps viel Verständnis und Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen wie Du.

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