ABA und Multimodalität schließen sich aus

veröffentlicht im November 2015


Originalbeitrag aus November 2015, Update im Dezember 2019

Die Diskussionen zum Thema ABA („Applied Behavior Analysis“ oder übersetzt „Angewandte Verhaltensanalyse“) kochen immer wieder hoch.
Dabei wird den ABA-Gegner manches Mal Hetze und Unwissenheit vorgeworfen, die Befürworter sparen nicht mit Einschüchterungsversuchen und persönlichen Angriffen.
Auf beiden Seiten gibt es leider Diskutanten, die gern über das sprichwörtliche „Ziel hinaus schießen“ und dem diskutierten Thema, das doch eigentlich zum Wohl unserer Kinder beitragen sollte, nicht helfen.


Die zum Teil untragbaren verbalen Entgleisungen möchte ich hier nicht wiederholen, schlimm genug, dass manches geäußert wurde.
Meiner Irritation und meiner große Skepsis gegenüber ABA-Anbietern, die den behavioristischen Ansatz nach wie vor als Intensiv-Interventionsprogramm einsetzen, möchte ich jedoch schon Ausdruck verleihen.

Stellungnahme gegen ABA

Lange habe ich nach meiner „Stellungnahme gegen ABA“, die dann vom Regionalverband „Autismus Mittelfranken e.V.“ mit leichten Veränderungen verwendet wurde, in der Öffentlichkeit geschwiegen – nicht zuletzt weil ich mit Diffamierungen im Netz, Drohmails und widerlichen Anrufen, ehrlich gesagt, nicht gut umgehen kann.
Im Hintergrund gingen die Aktivitäten jedoch weiter und so lud der Regionalverband „Autismus Mittelfranken e.V.“, in dem ich mich engagiere, Anfang November 2015 den Fachreferenten von „autismus Deutschland e.V.“, Herrn Friedrich Nolte, zu einem Vortrags- und Diskussionsabend nach Nürnberg ein. Wir wollten gern in einen konstruktiven Austausch treten und hören, welche konkrete Position der Bundesverband zum Thema „Therapien“ und zum Thema „ABA“ einnimmt. Dies interessierte uns v.a. auch im Hinblick darauf, dass momentan innerhalb der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) Leitlinien für Diagnose und Therapie von Autismus-Spektrum-Störung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter erarbeitet werden und neben weiteren Beteiligten auch der Verein „autismus Deutschland e.V.“ bei der Erarbeitung vertreten ist.

Fachvortrag von Herrn Nolte, autismus Deutschland e.V.

Herrn Noltes Fachvortrag stand unter dem Thema „Autismustherapie im Spannungsfeld zwischen Evidenzbasierung und Lebensqualität“. Er legte u.a. dar, dass der Bundesverband sich für ein multimodales Therapiemodell ausspreche, in dem neben weiteren Therapieansätzen, auch der behavioristische Ansatz der ABA-Therapie seinen Platz haben soll. Mit dem multimodalen Modell sollten allgemeine therapeutische Zielsetzungen verfolgt, aber auch Verhalten moduliert und Schlüsselkompetenzen gefördert werden. Herr Nolte betonte, dass es sehr wichtig sei, interdisziplinär zu arbeiten und stets das jeweilige Umfeld, vor allem Familie und Eltern, in die Therapie miteinzubeziehen. Diese Haltung schließe eine eindimensionale Förderung zum Beispiel rein verhaltenstherapeutischer Maßnahmen aus (!).

Weiter erläuterte er, dass die Bewertung von Therapiemethoden durch die Wissenschaft auf der sog. Evidenz basiere, nach der ausreichend datengestützte Hinweise für die Wirksamkeit der jeweiligen Methode vorliegen müssen. Er sprach aber auch davon, dass Evidenzbasierung nicht garantiere, dass die bestmögliche Maßnahme durchgeführt wird. (Dabei bezog er sich auf Bölte, Autismus, 2009).
Die Bewertung von Therapiemethoden durch „autismus Deutschland e.V.“ erfolge hingegen nach ethischen Maßstäben, Wirksamkeit, Lebensqualität, Individualisierung, Alltagsrelevanz und Selbstbestimmung/ Selbstständigkeit.

So weit, so gut. Oder auch nicht.

Unterschiedliche Begrifflichkeiten führen zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen.

Ich habe (nicht alleine) den Eindruck gewonnen, dass oftmals mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten gearbeitet wird, die zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen führen. Dies betrifft im Übrigen nicht nur den Vortragsabend, sondern die gesamte Kommunikation und Diskussion zum Thema „ABA“ im Netz und bei diversen Schriftverkehren.
Konkret zeigt sich das z.B. in der Haltung des Bundesverbandes, ein multimodales Therapiemodell unterstützen zu wollen, gleichzeitig aber auch ABA als Element darin aufzuführen. ABA als intensives Interventionsprogramm mit einem Volumen von bis zu 40 Stunden wöchentlich lässt allerdings keinen Platz für andere Therapiemethoden, sondern beansprucht inhaltlich und auch zeitlich, die alleinige Therapiemethode zu sein.

Ein bisschen ABA gibt es nicht.

Manchmal wird von „ein bisschen ABA“ gesprochen, das doch aber dennoch seinen Platz haben müsse – z.B. in dem erwähnten multimodalen Therapiemodell.
Gemeint sind damit z.B. Strukturierungshilfen wie bei TEACCH oder die Kommunikation per Gebärdensprache oder Bildkarten.
Diese Methoden können für sich gesehen durchaus angemessene Maßnahmen sein. Sie sind aber eigenständige Methoden, die zwar von „ABA“ verwendet werden, aber nicht ursprünglich aus dessen Konzept stammen.
Gemeint ist mit diesem „bisschen ABA“ manchmal auch eine Form von Verhaltenstherapie, die je nach ethischer Grundhaltung durchaus auch ihre Berechtigung haben kann. Man sollte dann aber nicht mehr von „ABA“ sprechen, da man dann genau denjenigen „in die Karten spielt“, die das Interventionsprogramm zur Konditionierung und Anpassung einsetzen.

Intervention versus Wahrnehmung

In der aktuellen Ausgabe der „autismus“-Zeitschrift von „autismus Deutschland e.V.“ findet sich ein sechsseitiger Artikel über ABA, geschrieben u.a. von einem Vorstandsmitglied von ABA-Deutschland, in dem (auch) kommerzielle Anbieter vertreten sind.
Auf mich wirkt dieser Beitrag äußerst befremdlich und irritierend und ich habe mir die Wortwahl innerhalb des Artikels genauer angesehen:
Es wird 18 Mal das Wort „Intervention“ benutzt. Kein einziges Mal taucht das Wort „Wahrnehmung“ auf.

Nicht nur das unterstreicht für mich die (in der Vergangenheit) bereits angeführten Argumente und lässt mich noch stärker daran zweifeln, ob mit dieser Interventionsmethode AutistInnen angemessen behandelt werden.
„Wahrnehmung“ ist neben „Kommunikation“ eines der zentralen Themen im Bereich Autismus und in der Wahrnehmung ist sehr oft der Grund für problematisches und herausforderndes Verhalten zu suchen.
Hier muss man sich ansehen, wie man Autistinnen und Autisten individuell helfen kann, wie sich das Umfeld einbringen und Strukturen verändern kann. Und manchmal liegt in der „Wahrnehmung“ einfach anderes Verhalten begründet, das überhaupt nicht therapiert, sondern einfach nur angenommen werden sollte.

Alle Eltern, die sich in der Situation befinden, sich für oder gegen eine Intervention mit „ABA“ als Intensivmethode zu entscheiden, möchte ich sehr bitten, sich auch die Gegenargumente anzusehen.

Bitte lest Stellungnahmen und v.a. Erfahrungsberichte von Autisten. Und lasst Euch bitte nicht von der immer wieder hochgehaltenen Wissenschaftlichkeit und Evidenz der ABA-Befürworter blenden.
Keine Wissenschaftlichkeit kann sich über ethische Bedenken hinwegsetzen.

Und bitte lasst Euch nicht einreden, dass Ihr keine Ahnung habt und nicht mitreden könnt, weil Ihr die englische Literatur zum Thema nicht gelesen habt (ein beliebtes Argument). Natürlich könnt Ihr selbst entscheiden und seid mündig genug, um sich kritisch auseinanderzusetzen.

Ich bin überzeugt davon, dass alle Eltern, egal ob sie pro oder contra ABA eingestellt sind, bestimmt nur das Beste für ihr Kind wollen.

Aber: Wir alle werden immer wieder von Menschen beeinflusst, die uns aus ganz unterschiedlicher Motivation heraus eine „Heilung“ oder eine „quasi Heilung“ oder die „Möglichkeit nahezu vollständiger Normalisierung“ versprechen.

Autismus ist aber nicht heilbar und unsere Kinder werden immer anders bleiben. Wir sollten ihnen helfen, besser zurecht zu kommen, aber wir können sie nicht heilen und wir dürfen sie nicht an eine Norm anpassen, für die sie sich verbiegen und sich selbst verraten müssen.
Bitte hinterfragt Therapieangebote. Vielleicht kann der folgende Link dabei eine Hilfe sein: Prüfkriterien für Therapieangebote

Und ganz zum Schluss noch ein persönlicher Hinweis:
Neulich las ich von einer Mutter, die ABA bei ihrem Kind u.a. auch damit rechtfertigte, dass es schwer betroffen sei, Pflegegrad 4 habe, dass der Vater des Kindes viel arbeite und dass das Therapeutenteam dabei helfe, überhaupt die täglichen Aufgaben bewältigen zu können.

Dazu möchte ich sagen, dass mein Sohn auch zu den sogenannten stark betroffenen Autisten gehört, dass er Pflegegrad 5 hat, dass mein Mann etwa 11 Stunden täglich außer Haus arbeitet und dass wir uns auch zusätzliche Hilfe organisieren müssen, um überhaupt alles schaffen zu können.
Diese Hilfe findet aber nicht in Form eines ABA-Teams statt, sondern mit Helfern, die dies u.a.  auf Basis der Verhinderungspflege und der Zusätzlichen Betreuungsleistungen tun.

Mein Sohn ist jetzt 19 Jahre alt, non-verbal und kommuniziert wunderbar über Gebärden (offizielle Deutsche Gebärdensprache als Lautsprachbegleitung). Das hat er ohne ABA gelernt, in seinem Tempo. Er hatte Gebärdensprachassistentinnen in der Schule als Begleitung und lernte stetig dazu. Aber das ist ein anderes Thema und soll nur kurz anreißen, dass es auch anders geht…. Dazu und auch zu anderen Alternativen findest Du weitere Beiträge im Blog.

Herzlich, Ihre/Eure Silke alias Ella

–> Linksammlung zum Thema ABA

Zum Weiterlesen:

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